Rosa Luxemburg

Nationalversammlung oder Räteregierung? (Dezember 1918)



[Die Rote Fahne (Berlin), Nr. 32 vom 17. Dezember 1918, nach Gesammelte Werke Band 4, S. 462-465]


So lautet der zweite Punkt der Tagesordnung der Reichsversammlung der A[rbeiter]- u[nd] S[oldaten]-Räte, und so ist in Wirklichkeit die Kardinalfrage der Revolution in diesem Augenblick gestellt. Entweder Nationalversammlung oder die ganze Macht den A[rbeiter]- u[nd] S[oldaten]-Räten, entweder Verzicht auf den Sozialismus oder schärfster Klassenkampf im vollen Rüstzeug des Proletariats gegen die Bourgeoisie: Das ist das Dilemma.

Ein idyllischer Plan dies: auf parlamentarischem Wege, durch einfachen Mehrheitsbeschluss den Sozialismus zu verwirklichen! Schade, dass diese himmelblaue Phantasie aus dem Wolkenkuckucksheim nicht einmal mit der geschichtlichen Erfahrung der bürgerlichen Revolution, geschweige mit der Eigenart der proletarischen Revolution rechnet.

Wie standen die Dinge in England? Dort ist die Wiege des bürgerlichen Parlamentarismus, dort hat er sich am frühesten, am kraftvollsten entfaltet. Als im Jahre 1649 die Stunde der ersten modernen bürgerlichen Revolution in England geschlagen hatte, blickte das englische Parlament bereits auf eine mehr als dreihundertjährige Geschichte zurück. Das Parlament wurde denn auch vom ersten Augenblick der Revolution an zu ihrem Mittelpunkt, Bollwerk, ihrem Hauptquartier. Das berühmte Lange Parlament, das alle Phasen der englischen Revolution, vom ersten Geplänkel zwischen der Opposition und der königlichen Macht bis zum Prozess und zur Hinrichtung Karl Stuarts, im eigenen Schoße ausgetragen hat, dieses Parlament war ein unübertreffliches, gefügiges Werkzeug in den Händen der aufstrebenden Bourgeoisie.

Und was ergab sich? Dieses selbe Parlament musste sich ein besonderes „parlamentarisches Heer" schaffen, das von ihm aus seinem Schoße gewählte Parlamentsgenerale ins Feld führten, um in langem, zähem, blutigem Bürgerkriege den Feudalismus, das Heer der königstreuen „Kavaliere" aufs Haupt zu schlagen. Nicht in den Debatten in der Westminsterabtei, sosehr dort der geistige Mittelpunkt der Revolution war, sondern auf den Schlachtfeldern von Marston-Moor und Naseby, nicht durch die glänzenden Parlamentsreden, sondern durch die bäuerliche Reiterei, durch die „Eisenseiten" Cromwells wurden die Schicksale der englischen Revolution entschieden. Und ihr Gang führte vom Parlament durch Bürgerkrieg zur zweimaligen gewaltsamen „Reinigung" des Parlaments und schließlich zu Cromwells Diktatur.

Und in Frankreich? Dort ward der Gedanke der Nationalversammlung zuerst geboren. Es war eine geniale welthistorische Eingebung des Klasseninstinkts, als die Mirabeau und die anderen im Jahre 1789 erklärten: Die bis dahin stets getrennt gewesenen drei „Stände", Adel, Klerus und „der dritte Stand", müssten von nun an gemeinsam als Nationalversammlung tagen. Diese Versammlung war nämlich gerade durch die gemeinsame Tagung der Stände ein Werkzeug des bürgerlichen Klassenkampfes. Zusammen mit starken Minderheiten der beiden oberen Stände hatte der „dritte Stand", das heißt das revolutionäre Bürgertum, in der Nationalversammlung von vornherein eine kompakte Majorität.

Und was ergab sich wiederum? Die Vendée, die Emigration, Verrat der Generale, Zettelungen des Klerus, Aufstand von fünfzig Departements, Koalitionskriege des feudalen Europas, schließlich als das einzige Mittel, den Sieg der Revolution zu sichern, die Diktatur und als deren Abschluss die Schreckensherrschaft!

So wenig taugte die parlamentarische Majorität, um die bürgerlichen Revolutionen auszufechten! Und doch, was ist der Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Feudalismus, gemessen an dem gähnenden Abgrund, der heute zwischen Arbeit und Kapital sich aufgetan! Was ist das Klassenbewusstsein auf beiden Seiten der Kämpfer, die 1649 oder 1789 gegeneinander in die Schranken traten, verglichen mit dem tödlichen, unaustilgbaren Hass, der heute zwischen dem Proletariat und der Kapitalistenklasse lodert! Nicht umsonst hat Karl Marx seine wissenschaftliche Blendlaterne an die verborgensten Triebfedern des ökonomischen und politischen Räderwerkes der bürgerlichen Gesellschaft gehalten. Nicht umsonst hat er ihr eigenes Tun und Gehaben bis in die feinste Veräderung ihres Fühlens und Denkens als Ausfluss der großen Grundtatsache beleuchtet, dass sie ihr Leben wie der Vampir vom Blute des Proletariats fristet.

Nicht umsonst hat August Bebel zum Schluss seiner berühmten Rede auf dem Dresdner Parteitag gerufen: „Ich bin und bleibe ein Todfeind der bürgerlichen Gesellschaft!"

Es ist der letzte große Kampf, in dem es sich um Sein oder Nichtsein der Ausbeutung, um eine Wende der Menschheitsgeschichte handelt, ein Kampf, in dem es keine Ausflucht, kein Kompromiss, keine Gnade geben kann.

Und dieser letzte Kampf, der an Gewaltigkeit der Aufgabe alles Dagewesene übertrifft, soll fertig bringen, was kein Klassenkampf, keine Revolution je fertiggebracht: das Todesringen zweier Welten in ein lindes Säuseln parlamentarischer Redeschlachten und Majoritätsbeschlüsse auflösen!

Auch der Parlamentarismus war eine Arena des Klassenkampfes für das Proletariat, solange der ruhige Alltag der bürgerlichen Gesellschaft dauerte: Er war die Tribüne, von der aus die Massen um die Fahne des Sozialismus gesammelt, für den Kampf geschult werden konnten. Heute stehen wir mitten in der proletarischen Revolution, und es gilt heute, an den Baum der kapitalistischen Ausbeutung selbst die Axt zu legen. Der bürgerliche Parlamentarismus hat, wie die bürgerliche Klassenherrschaft, deren vornehmstes politisches Ziel er ist, sein Daseinsrecht verwirkt. Jetzt tritt der Klassenkampf in seiner unverhüllten, nackten Gestalt in die Schranken. Kapital und Arbeit haben sich nichts mehr zu sagen, sie haben einander nur mit eiserner Umarmung zu packen und im Endkampf zu entscheiden, wer zu Boden geworfen wird.

Das Lassallesche Wort gilt heute mehr denn je: Die revolutionäre Tat ist stets, auszusprechen das, was ist. Und das, was ist, heißt: hie Arbeit - hie Kapital! Keine Heuchelei der gütlichen Verhandlung, wo es auf Tod und Leben geht, keine Siege der Gemeinsamkeit, wo ein Hüben ein Drüben nur gilt. Klar, offen, ehrlich und durch Klarheit und Ehrlichkeit stark, muss das Proletariat, als Klasse konstituiert, die ganze politische Macht in seiner Hand sammeln.

„Politische Gleichberechtigung, Demokratie!" sangen uns jahrzehntelang die großen und kleinen Propheten der bürgerlichen Klassenherrschaft vor.

Und „politische Gleichberechtigung, Demokratie!" singen ihnen heute wie ein Echo die Handlanger der Bourgeoisie, die Scheidemänner, nach.

Jawohl, sie soll eben erst verwirklicht werden. Denn das Wort „politische Gleichberechtigung" wird in dem Augenblick erst Fleisch, wo die wirtschaftliche Ausbeutung mit Stumpf und Stiel ausgerottet ist. Und „Demokratie", Volksherrschaft beginnt erst dann, wenn das arbeitende Volk die politische Macht ergreift.

Es gilt, an den durch die bürgerlichen Klassen anderthalb Jahrhunderte lang missbrauchten Worten die praktische Kritik historischer Handlungen zu üben. Es gilt, die „Liberté, Egalité, Fraternité", die 1789 in Frankreich vom Bürgertum proklamiert worden ist, zum erstenmal zur Wahrheit zu machen - durch die Abschaffung der Klassenherrschaft des Bürgertums. Und als ersten Akt zu dieser rettenden Tat gilt es vor aller Welt und vor den Jahrhunderten der Weltgeschichte laut zu Protokoll zu geben: Was bisher als Gleichberechtigung und Demokratie galt: Parlament, Nationalversammlung, gleicher Stimmzettel, war Lug und Trug! Die ganze Macht in der Hand der arbeitenden Masse als revolutionäre Waffe zur Zerschmetterung des Kapitalismus - das allein ist wahre Gleichberechtigung, das allein wahre Demokratie!

[Die Rote Fahne (Berlin), Nr. 32 vom 17. Dezember 1918, nach Gesammelte Werke Band 4, S. 462-465]





eine Seite zurück ; zurück