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Das Kanakentum als neue "universelle Klasse"?

Über die Versuchungen des Kommunismus und die Fallstricke der Avantgarde

von Christoph Görg

Die Jahre der Lähmung scheinen vorbei zu sein. Dieser Eindruck drängt sich jedenfalls auf angesichts der sich häufenden Versuche der Aktualisierung des kommunistischen Projektes. Wurde nach dem mythischen Datum "89" der Anschein erweckt, als sei jeglicher Anspruch einer Überwindung bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung auf immer und ewig diskreditiert, hat sich dies erstaunlich schnell wieder gewandelt. Für diesen Wandel sind sicherlich die Katastrophen des globalen Kapitalismus auf Weltniveau und die sich formierenden Konflikte um die Widersprüche der "neoliberalen Globalisierung" mit verantwortlich. Damit verbunden geht es aber auch um theoretische Neuansätze zu einer transzendierenden Gesellschaftskritik. Wie sehr diese Versuche auch grundsätzlich zu begrüßen sind, scheinen sie doch gleichzeitig mit dem Mangel behaftet zu sein, viele der Fehler zu wiederholen, die zur Niederlage eines sozialistischen oder kommunistischen Projektes im 20.Jahrhunderts beigetragen haben. Die Erneuerung dieses Projektes ist somit durch ähnliche Verkürzungen gekennzeichnet wie die Verabschiedung des Sozialismusbegriffs nach 1989.1 Sympathie für theoretische Neuanfänge darf jedoch nicht blind machen für die Schwachstellen, Mythen und Aporien, die diesen Projekten innewohnen – sonst sind wir dazu verdammt, die Tragödien der Geschichte als Farce immer wieder aufs Neue zu wiederholen. Die Kritik am Papier von Manuela Bojadzijev, Thomas Seibert und Vassislis Tsianos (im folgenden: die Autoren): "Kommunismus, Universalismus, Antirassismus" dient genau diesem Zweck: der Verhinderung vermeidbarer Kurz- und Fehlschlüsse. Dabei kann es nicht darum gehen, alle dort aufgeworfenen Fragen aufzugreifen oder sie sogar umfassend zu behandeln. Ich will mich vielmehr darauf beschränken, ein Problem herauszugreifen, das ich für sehr zentral halte und das aus politischen Gründen sorgfältig diskutiert werden muß - der in diesem Text explizit erhobene Avantgardeanspruch und seine theoretische Begründung, das Theorem – oder besser: der Mythos – einer "kommunistischen Erbschaft" in der Geschichte.

Gibt es eine "kommunistische Erbschaft" – und können wir "nicht nicht deren Erbe" sein?

Am Ende des Textes findet sich eine Passage, die nicht nur im Widerspruch steht zum vorher vertretenen Avantgardeanspruch, sondern die die ganze Logik des Textes nachträglich in Frage stellt. Bezogen auf die Frage, ob denn der kanakische Widerstand mit dem Anspruch auftrete, das Interesse der Gesamtbewegung zu vertreten, heißt es dort, daß dies prinzipiell unmöglich sei, "weil niemand in exklusiver Weise `theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus(haben)´ kann ..." Es soll also keine privilegierte Position geben, weder eines/r Einzelnen noch einer sozialen Bewegung oder gar einer Partei, die den Sinn der sozialen Kämpfe und des historischen Prozesses stellvertretend für diese Kämpfe und aus höherer Einsicht in den Geschichtsverlauf formulieren könne. Wenn diese Einschätzung aber richtig ist – und ich würde mich ihr nachdrücklich anschließen -, dann wird damit in direkter Anknüpfung an die zitierte Stelle aus dem kommunistischen Manifest genau die Möglichkeit dessen bestritten, wovon der Text sonst handelt: Dass es eine kommunistische Erbschaft gäbe, die einen universalistischen Gehalt in sich berge, der über den falschen bürgerlichen Universalismus hinausgehe, eine Erbschaft, die nicht nur ein besonderes Ereignis in der Geschichte darstellt, sondern auch eine historische Notwendigkeit zum Ausdruck bringt, eine "vom Willen und Bewußtsein unabhängige() `wirkliche() Bewegung". Diese Aussage im Anschluß an Derrida ist aus verschiedenen Gründen problematisch. Zum einen mißversteht Derrida (wie auch in seinem Gefolge die Autoren) den Gehalt des Satzes, daß wir "nicht nicht () die Erben davon sein können." (Zitat Derrida). Diese Aussage läßt sich nur als normative Aussage verstehen, denn ob irgendjemand der Erbe des "kommunistischen Versprechens" ist (gesetzt, es gibt es), hängt allemal davon ob, ob sie oder er sich in den sozialen Kämpfen um Befreiung und Emanzipation wiedererkennt – oder eben nicht. Das er/sie dies tun sollte, läßt sich begründen, nicht aber die Annahme, jede/r müsse dies auch tatsächlich erkennen. In Sachen Befreiung und Emanzipation kann es unmöglich eine über Willen und Bewußtsein hinausgehende Notwendigkeit geben, weil diese den Sinn der Befreiung in ihr Gegenteil verkehren würde. Und gleichzeitig wird dieses Erkennen in den sozialen Befreiungskämpfen der Vergangenheit nicht ungebrochen vor sich gehen können, werden Kontinuitäten und Diskontinuitäten, Anknüpfungen und Differenzen sich mischen. Um so wichtiger ist es, diesen normativen Gehalt – in welcher Form hängen Formen der Befreiung in Vergangenheit und Gegenwart zusammen, wo unterscheiden sie sich auch, wo widersprechen sie sich möglicherweise (z.B. in der Subsumtion geschlechtsspezifischer Herrschaft zum Nebenwiderspruch) – zu reflektieren.

Schwerer wiegt ein anderes, damit verbundenes Problem. Gibt es dieses kommunistische Versprechen überhaupt, dessen Erbe wir nach Ansicht von Derrida und den Autoren sind? Dazu muß man sich vor Augen führen, was der Gehalt dieses Versprechens wirklich ist. Der Anknüpfungspunkt ist das kommunistische Manifest. Es geht also zunächst um die historische Wirklichkeit einer ganz spezifischen Verbindung theoretischer (wissenschaftlich-philosophischer) Kritik und politischer Organisation (der kommunistischen Internationale), in der sich gleichzeitig der historische Stand sozialer Kämpfe und umfassender gesellschaftlicher Widersprüche artikuliert. Im Grunde müsste diese Konstellation in ihren spezifischen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen der damaligen Zeit analysiert werden. Sie als historisches Versprechen zu behandeln – und nur um diese Verwendung geht es mir im folgenden -, bedeutet, sie aus diesen situativen Bedingungen herauszulösen und sie zu einem universellen Paradigma der Befreiung zu erklären. Als ein solches Paradigma behandelt wird das Versprechen aber nicht nur im schlechten Sinne historisch abstrakt. Es wird ihr auch ein Gehalt gegeben, der sich wohl grundsätzlich nicht einlösen läßt.

Die Grundgedanken dieses Versprechens lassen sich vielleicht wie folgt umschreiben: Marx und Engels glaubten, ihre theoretische Kritik im Einklang nicht nur mit der Organisationspraxis der kommunistischen Internationale (was schon eine ziemliche Vereinfachung darstellt), sondern auch mit den sozialen Kämpfen ihrer Zeit, wobei "das Proletariats", und daran anknüpfend wiederum "die Kommunisten", eine spezifische Rolle darin spielen (sollten?), nämlich deren entschiedensten Teil zu repräsentieren. Und sie glaubten, daß diese Entsprechung wiederum auch den Gang der Geschichte an entscheidender Stelle berührt, daß nämlich die Verbindung zwischen theoretischer, politisch-organisatorischer und Bewegungs-Praxis eine Bewegung ist, die den "gegenwärtigen Zustand aufhebt" – sprich: daß die Widersprüche kapitalistischer Vergesellschaftung im Weltmaßstab durch diese kommunistische Bewegung in einen anderen Zustand transformiert ("aufgehoben") werden.

Wenn diese Gesamtkonstruktion letztlich die "kommunistische Erbschaft" darstellt, die nach Derridas Auffassung auf unsere Zeit überkommen ist, dann muß dies in aller Entschiedenheit zurückgewiesen werden: Diese "Erbschaft" beinhaltet nicht nur einige Probleme, die auch von den Autoren angesprochen werden. Sie hat in spezifischer Weise niemals existiert und kann daher auch gar nicht beerbt werden! Hier wird von Derrida wie von den Autoren ein Mythos der Einheit von Theorie und Praxis sowie der Einheit von sozialen Kämpfen und historischer Entwicklung beschworen, der zwar die kommunistische Bewegung der letzten 150 Jahre begleitet hat, ohne deshalb richtiger geworden zu sein. Statt ihn fortzuschreiben, ist seine "Entzauberung", d.h. die Kritik des mit der kommunistischen Erbschaft erhobenen Anspruchs, die Voraussetzung für eine emanzipatorische Praxis. Dies gilt sowohl für die Ebene der Theorie, als auch für die Organisation sozialer Bewegungen (und beides wurde im übrigen schon seit Jahrzehnten auch geleistet).

Angesprochen wird im Text einmal das Problem der dialektischen Entwicklungslogik im Übergang zu anderen gesellschaftlichen Phasen, das anhand der Metapher des "Aufhebens" kritisiert wird. Den zukünftigen befreiten Zustand als Aufhebung der Widersprüche bürgerlich-patriarchalisch-kapitalistischer Verhältnisse zu denken, heißt, ihn als das naturwüchsige Produkt der Zustände zu begreifen, die doch eigentlich überwunden werden sollen. Der "Sprung aus der Vorgeschichte", in der die Menschen von sozialen Gesetzen beherrscht werden, die sie nicht kontrollieren, kann nicht von den selben Gesetzen herbeigeführt werden, sondern nur als eine kollektive Aktion, die in der Tat eine "Unterbrechung der Entwicklung" bzw., unter Rekurs auf Walter Benjamin, eine "Sprengung des historischen Kontinuums" darstellt. Eine Aufhebung der Widersprüche als naturgesetzlichen Prozeß zu denken ist also fatal – sei es in der Variante eines neuen Zusammenbruchsgesetzes wie bei Robert Kurz, sei es in der Hoffnung auf die Vorbereitung des Neuen in den Tendenzen der Wirklichkeit wie bei Negri und Hardt (vgl. dazu die Rezension von Sonja Buckel und Jens Wissel).

Damit verbunden ist die Formulierung einer "historischen Mission des Proletariats" eine höchst problematische Zuschreibung und selbst herrschaftsförmige Identifizierung. Diese wird von den Autoren auch zurückgewiesen, ohne allerdings die Konsequenzen zu bedenken. Denn das "kommunistische Versprechen" lebt zu weiten Teilen davon, einen "wirklichen Träger" der "wirklichen Bewegung" benennen zu können.2 Muß dies aber aufgegeben werden, dann hängt dieses Versprechen in der Luft. Das "kommunistische Versprechen" artikuliert nämlich den Glauben, mit dem Begriff der "universellen Klasse" eine soziale Gruppierung, "das Proletariat", auch tatsächlich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit vor sich zu haben, die die Widersprüche und den Herrschaftscharakter der sozialen Verhältnisse quasi in negativo verkörpert: Es kann sich nicht erheben, ohne daß die gesamte Gesellschaft "in die Luft gesprengt wird", wird im Text das Kommunistischen Manifest zitiert. Doch der Gehalt der "universellen Klasse" reicht weiter. Das Proletariat verkörpert – auch nach Ansicht von Marx und Engels - auch deshalb universelle Interessen, weil seine Interessen nicht mehr in der bestehenden Gesellschaft repräsentiert werden können – es hat eben nur noch "seine Ketten zu verlieren" und repräsentiert damit die absolute Negation dieser Gesellschaft. Nur deshalb ist es auch universell, denn es steht eben nicht mehr im Gegensatz zu anderen partikularen Interessen in der Gesellschaft, sondern transformiert mit seinen Interessen die gesamte gesellschaftliche Interessenstruktur im Hinblick auf die Aufhebung der in ihr angelegten Interessenstrukturen und deren Widersprüche.

Das Theorem vom Proletariat als der "universellen Klasse" impliziert also einige inhaltliche Annahmen über die Struktur der Gesellschaft sowie Erwartungen über die Bewegung der Widersprüche, in denen sich die Gesellschaft bewegt oder bewegen wird. Nun kritisieren die Autoren zwar einige der Zuschreibungen an diese Funktion des Proletariats und deren politisch fatale Folgen, aber sie stellen nicht diese Gesamtkonstruktion in Frage. Letztlich läuft die Praxis auf eine Identifikation des Proletariats mit dem "weissen, männlichen Industriearbeiter" hinaus. Die Rede von der "universellen Klasse" impliziert damit jedoch nicht nur eine selbst repressive Zuschreibung, sondern diese Zuschreibung hat sich absolut fatal ausgewirkt in der Entwicklung der kommunistischen Parteien und den Möglichkeiten, die historischen Wandlungen des Kapitalismus zu verstehen. Spätestens seit der fordistischen Phase hatte "der Proletarier" alles mögliche zu verlieren, wie er (!) auch schon vorher über die repressive Zuschreibung hinaus eine projektive Vereinfachung repräsentierte. "Der Proletarier" hatte noch niemals gemeinsame Interessen mit den gesellschaftlichen Interessen, die durch patriarchalische Verhältnisse unterdrückt oder durch Kolonialismus und weltweite Ausbeutung konstituiert wurden. Deshalb war die Formulierung von der "universellen Klasse" immer schon eine gefährliche Vereinfachung – spätestens seit den Erfahrungen der kommunistischen Weltbewegung im 20sten Jahrhunderts wird sie aber zur Lüge, die selbst zur Repression von Emanzipationsbewegungen benutzt wurde und benutzt wird. Man lese nur einmal einige der Renegatenromane der 40er, 50er oder 60er Jahre (Koestler, Sperber oder Thompson), um nachzuvollziehen, welche repressiven Erscheinungsformen dieses Theorem in der Praxis der kommunistischen Parteien angenommen hatte, um deren Herrschaftsinteressen zu legitimieren. War nämlich mit der "universellen Klasse" und der kommunistischen Partei als deren Sprachrohr die Aufhebung der Widersprüche des Kapitalismus quasi apriori gesetzt, dann hatte jede Abweichung, jeder Widerstand gegen die Exekution (!) dieser historischen Mission objektiv konterrevolutionären und sogar amoralischen Charakter (und musste dementsprechend exekutiert werden), wie immer auch diese Abweichung im Einzelnen begründet sein mochte. Das Theorem vom Proletariat als der "universellen Klasse" stellt also eine geschichtsphilosophische Konstruktion dar, die sich aus den theoretischen Einsichten in die Struktur der kapitalistischen Gesellschaften nicht begründen läßt (weil die Interessen real viel widersprüchlicher sind) und die in der Folge direkt den Herrschaftsstrategien der kommunistischen Parteien gedient hat.

Es reicht also nicht aus, die im Klassenbegriff liegende Identifikationslogik zu kritisieren, wie dies die Autoren tun. Die dem "kommunistischen Versprechen" zugrundeliegende geschichtsphilosophische Gesamtkonstruktion muß hinterfragt und dabei "entzaubert", meinetwegen auch dekonstruiert werden. Und diese Dekonstruktion kann unmöglich noch als Ausdruck eben derjenigen "wirklichen Bewegung" dargestellt werden, die auf das kommunistische Erbe zurückgeht, wie dies der Text suggeriert. Hier wird eine Tradition beschworen, ohne das die Fehler und die fatalen Kurzschlüsse der Vergangenheit erinnert werden. Letztlich reicht das Problem aber noch tiefer. Wenn die oben zitierte Aussage von Ende des Textes ernst genommen wird, daß es eine privilegierte Einsicht in den Stand der sozialen Kämpfe und der geschichtlichen Entwicklung der gesellschaftlichen Widersprüche nicht geben kann, dann gibt es letztlich die Gesamtkonstellation nicht, die von Derrida als glückliches historisches Ereignis gefeiert wird. Weder gab es "die Theorie", die als ein umfassendes Begreifen der historischen Situation verstanden werden könnte,3 noch den Stand der sozialen Kämpfe, der Organisationspraxis oder der gesellschaftlichen Widersprüche in der von Derrida angenommen Art und Weise. Die Aussage über die Koinzidenz zwischen theoretischer Kritik, sozialen Kämpfen und der "wirklichen Bewegung" war bei Marx und Engels schon immer eine politisch-strategische Aussage mit normativ orientierten Elementen, mit der die eigene Kritik in sozialen Konflikten verortet und diese dabei politische beeinflusst werden sollten. Für die Begründung eines Avantgardeanspruchs reicht sie selbst dann nicht aus, wenn die Identifikation einer Avantgarde ("des Proletariats", aber auch: "des Kanakentums"?) aufgegeben wird.

Ausblick

Ich bin nun nicht in der Lage, ein konsistentes Gegenmodell zu entwerfen. Statt dessen möchte ich nur einige vorläufige Konsequenzen andeuten, die das Problem des Universalismus betreffen. Nach den Erfahrungen des 20sten Jahrhunderts sollten wir zunächst allen Versuchungen widerstehen, die Differenz zwischen theoretischer Kritik, politischem Veränderungsanspruch und der Entwicklung der Gesamtgesellschaft einzuebnen. War die Einheit von theoretischer und praktisch-politischer Kritik mit der krisenhaften Entwicklung der Gesellschaft immer ein Mythos, der auf geschichtsphilosophischen Prämissen beruht, die wir nicht mehr teilen sollten, dann müssen wir lernen, mit den Bruchstücken zu leben. Wenn dies heißt, bürgerlich zu sein (so die Kritik von Diethard Behrens in einem internen Diskussionspapier) – meinetwegen. Wir können die Verankerung in den gegebenen sozialen Verhältnissen nicht durch einen voluntaristischen Akt transzendieren, sondern nur durch eine kritische, d.h. mit Unterscheidungen arbeitende Auseinandersetzungen mit den herrschenden Denkformen und Praxen. Wenn es eine Lehre aus der Geschichte der kommunistische Bewegung gibt, an die wir anknüpfen sollten, dann die, daß das Versprechen, welche das kommunistische Manifest in den geschichtlichen Raum gestellt hat, prinzipiell nicht haltbar ist. Das heißt auch, daß wir keine Garantien dafür haben, daß eine theoretisch angeleitete und auch nur dort begründete Kritik sich mit der Organisationspraxis sozialer Bewegungen treffen muß. Und genauso müssen wir immer reflektieren, inwieweit eine irgend geartete Organisationspraxis möglicherweise zur Stabilisierung kapitalistischer Verhältnisse beiträgt. Das gilt für den migrantischen Widerstand nicht weniger als für die Arbeiterbewegung.

Gerade die Selbstreflexion von Kanak Attack hebt ja diesen Punkt auch hervor. Eine jegliche Praxis ist ein letztlich situativer Einsatz in den Stand und die Probleme sozialer Auseinandersetzungen (hier: des migrantischen Widerstands mit den auch im Papier beschriebenen Problemen von Identitätspolitik und Anti-Essentialismus). Schon auf dieser Ebene gibt es keine universellen Interessen, denn die Widerstandspraxis generiert eine ganze Reihe höchst gegensätzlicher neuer und partikularer Identitäten und damit verbundener Interessen, die wir nicht einfach verleugnen können. Dies liegt nicht zuletzt daran, daß auch der Widerstand gegen alle herrschaftsförmigen Identifizierungen nicht im luftleeren Raum stattfindet, sondern im konkreten Raum einer "polis". Wenn diese Praxis also Karriereförmig ausgenützt wird und zur Ausbildung von "Edelkanaken der Kulturindustrie" führt, dann ist diese Entwicklung zwar politisch fatal und zu bekämpfen – es bleibt aber eine der gesellschaftlichen Realität der Bundesrepublik geschuldete Entwicklung, mit der gerechnet, die in den eigenen politischen Strategien berücksichtigt werden muß. Das Problem des Universalismus potenziert sich aber noch, wenn die Probleme der politischen Regulierung von Migration und deren neue Funktion im Rahmen neoliberaler Globalisierung betrachtet wird. Denn es ist leicht zu vermuten, daß die neue Entwicklungsstufe des institutionellen Rassismus, wie er uns aus der Green Card-Diskussion entgegentritt, zu neuen politischen Strukturen und damit auch zu neuen Interessenlagen innerhalb des migrantischen Widerstands führen wird. Es werden interessante Integrationsangebote entstehen, mit denen die geködert werden sollen, die, wie Beckstein sagt, "uns nützen". Und es werden umso massivere Ausgrenzungen derjenigen folgen, die "uns ausnützen". Die Ausbildung eines gemeinsamen Interesses selbst unter MigrantInnen wird dann immer schwieriger werden. Dies ist nicht als Denunziation gemeint, im Gegenteil: Es hat sich immer wieder als fatal erwiesen, gegensätzliche Interessen in sozialen Bewegungen, die sich z.T. auch aus den gesellschaftlichen Integrationsangeboten herleiten, zu ignorieren. Und vor allem muß auch die Frage beantwortet werden, wie es denn um das Verhältnis zu anderen sozialen Bewegungen und sozialen Kämpfen konkret bestellt ist – wo sind gemeinsame, wo gegensätzliche Interessen? Wo widersprechen sich Zielsetzungen, die bspw. weiterhin auf den Nationalstaat bezogen bleiben, mit denen, die diesen grundsätzlich in Frage stellen? Selbst da, wo im Kontext der globalen Proteste gegen die neoliberale Globalisierung und ihre Organisationen (Seattle etc.) ein gemeinsamer Grundkonsens vorhanden zu sein scheint, bleibt dieser höchst widersprüchlich (vgl. das Papier von Uli Brand). Diese Widersprüche haben ihren Grund aber letztlich darin, daß alle Formen des Widerstands die Verhältnisse und insbesondere die nationalstaatliche Organisierung von Politik zunächst auch als Tatsache ihrer eigenen Praxis anerkennen müssen, selbst wenn ihre politischen Ziele auf die Überwindung dieser Verhältnisse zielen. Die alte Formel von einem politischen Handeln "im und gegen den Staat" ist mit der "Globalisierung" nicht obsolet geworden.4 Dieser Raum des Politischen kann, im Gegensatz zu der im Papier vertretenen Aufforderung zum "Exodus", nicht völlig verlassen werden. Dies ist nur ein alter bürgerlicher Traum, dem Gegeneinander widersprüchlicher Interessen und deren politischer Artikulation im Staat enthoben zu sein.

Damit wird aber die im Papier unternommene Konstruktion eines Universalismus letztlich unhaltbar. Wohlgemerkt: Diese Form der Konstruktion. Es wäre eine andere Frage, ob und wie ein Universalismus sonst zu begründen wäre. Wahrscheinlich läßt er sich nur als Lernprozeß sozialer Bewegungen konzipieren, denen es gelingt, durch ihre Kämpfe hindurch den bürgerlichen, d.h. widersprüchlichen Universalismus zu transzendieren und damit auch der Idee der Demokratie einen neuen Gehalt zu geben. Eine Voraussetzung für diesen Lernprozeß ist aber die Einsicht, daß es auch heute keine Subjekte gibt, die nichts weiter zu verlieren haben als "ihre Ketten" oder alle ihre Identifizierungen, alle ihre herrschaftsförmigen Zuschreibungen. Wie sich die verschiedenen sozialen Kämpfe letztlich zueinander verhalten, ob sie einen gemeinsamen Sinn in ihren Kämpfen entdecken können, inwieweit Bündnisse und Kompromisse möglich sind, und wo letztlich unvereinbare Positionen vorliegen, dies muß in einem langwierigen Erfahrungsprozeß erst herausgefunden werden, und zwar von den Akteuren selbst. Die Unterstellung einer glücklichen Einheit von Kämpfen ist da theoretisch wie politisch fatal.

Auch auf der Ebene der Theorie muß eine gewisse Trennung von den sozialen Bewegungen immer mit reflektiert werden. Letztlich ist auch das Papier der Ausdruck einer solchen Trennung, denn es kann nur verstanden werden von Leuten, die eine stringente theoretische Arbeit über Jahre hinweg intensiv betreiben können. Diese Chance zu nutzen, halte ich nach wie vor für unverzichtbar. Aber damit baut man neue Trennungen auf, einmal zu anderen Theorievarianten und deren Sprachspiel, und vor allem zu vielfältigen Praxisformen – und diese Trennungen müssen auch theoretisch reflektiert werden und dürfen nicht durch geschichtsphilosophische Konstruktionen überspielt werden. Dies impliziert, die Maßstäbe der theoretischen Kritik und ihr Verhältnis zu sozialen Bewegungen offenzulegen und nicht deren Identität plakativ zu behaupten. Kurz gesagt: Ich halte es für sinnvoller, mit den Trennungen und Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaft zu arbeiten, weil deren historische Existenz nicht einfach verleugnet werden kann, als mich als "(Nicht-)Subjekt" einer "wirklichen Bewegung" zu imaginieren. Der kanakische Universalismus erbt gerade in seinem Avantgardeanspruch alle die Aporien und mythischen Elemente des "kommunistischen Versprechens", die die Hoffnung auf universeller Befreiung historisch in ihr Gegenteil verkehrt haben.

Anmerkungen

  1. Vgl. dazu C. Görg/H-D. Köhler: Eine begriffslose Debatte. Zum Sozialismusbegriff, in: links Nr. 237, Januar 1990.Zurück zur Textstelle
  2. Auf die Probleme des Proletariatsbegriffs kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. So wenig eine soziologisierende Behandlung und eine Gleichsetzung mit der Arbeiterklasse der theoretischen Problematik gerecht wird, so wenig kann darauf verzichtet werden, die konkrete gesellschaftliche Existenz dieser Kategorie zu bezeichnen. Daran ist in den diversen "Krisen des Marxismus" im 20sten Jahrhundert immer wieder erinnert worden.Zurück zur Textstelle
  3. Auch die Schriften von Marx und Engels haben dahingehend viel zu viele Defizite, Widersprüche und Unklarheiten. Daran weiter zu arbeiten und dabei diese zu bearbeiten ist sicherlich wichtiger und vielversprechender, als ihre Theorie zu einem singulären historischen Ereignis zu mystifizieren.Zurück zur Textstelle
  4. Vgl. dazu die Beiträge in dem Sammelband: Kein Staat zu machen. Zur Kritik der Sozialwissenschaft, Hrsg. von C. Görg und R. Roth, Münster, Verlag Westfälisches Dampfboot, 1998.Zurück zur Textstelle
© links-netz Juni 2001