Robert Kurz
Der
Stalinismus des Geldes
Anmerkungen zur Debatte über die
Transformation der Marktwirtschaft
Der Staatssozialismus
"durfte" untergehen, die Marktwirtschaft als solche aber "darf" es nicht.
Jedenfalls laut Michael Brie, der in meiner theoretischen Analyse, dass die
marktwirtschaftliche Modernisierung aufgrund der selbsterzeugten absoluten
Schranke im Verwertungsprozess abstrakter Arbeit (Rationalisierung,
Globalisierung etc.) ebenfalls an ihr historisches Ende gekommen ist und deshalb
eine gesellschaftliche Transformation über das Ware-Geld-System hinaus notwendig
wird, nichts als "das leere Pathos des absoluten Bruchs", die "Apokalypse" usw.
zu erkennen vermag (ND-Forum vom 16./17. Juli 1994). Ich muss daraus schliessen,
dass Brie einfach jede denkbare Alternative zum modernen warenproduzierenden
System von vornherein verweigert. Die menschliche Gesellschaft soll entweder
weiter eine "geldverdienende" sein, oder sie muss untergehen: das ist seine
(nicht meine) Schlussfolgerung.
Alles Irdische, Menschliche und
Geschichtliche hat einmal ein Ende, nur die moderne Welt des totalen
Geldverdienens soll niemals aufhören? Dass alle früheren
Gesellschaftsformationen der geschichtlichen Vergänglichkeit unterlagen, die
Moderne sich aber mit ihren gesellschaftlichen Basiskategorien bis in alle
Ewigkeit "weitermodernisieren" soll, darin zeigt sich nichts anderes als der
quasi-religiöse Fundamentalismus eines angeblich aufgeklärten
Gesellschaftssystems. Es gibt heute eine wahre Inflation von opportunistischen
Verewigungstheorien der Moderne, die zwar die grosse Weltkrise am Ende des 20.
Jahrhunderts nicht völlig ableugnen, dennoch aber die (markt- und geldförmige)
Modernisierung nunmehr als sogenannte "reflexive Modernisierung" (Ulrich Beck)
trotzdem unbedingt weiterlaufen lassen wollen. Wenn jemals ein akademisches
"Wort zum Sonntag" eine gebetsmühlenhafte reine Leerformel war, dann dieses.
Michael Brie liegt ganz auf derselben Linie, wenn er behauptet: "Die Moderne ist
nicht am Ende, aber sie ist zu wesentlichen Teilen immer noch halbmodern, ja
unmodern" (a.a.O.). Ein total gewordenes Weltsystem mit Automatisierung, "global
outsourcing", künstlicher Intelligenz, Satelliten-Kommunikation, Cyber-Sex,
hochgradiger Individualisierung der Menschen usw., das schon die halbe Welt
ökologisch verwüstet und sozial degradiert hat - wohin um Himmelswillen soll
sich denn diese geldgeborene Monstrosität noch immer "weitermodernisieren" in
ewig derselben entsinnlichten, fetischistischen Form? Geraten wir hier nicht
schon in aller elaborierten Soziologensprache über die Grenzen des
gesellschaftlichen und historischen Irrsinns hinaus?
Dem uneingestandenen
Fundamentalismus der Moderne entspricht ein übereifriger Scheinpragmatismus. Das
Scheinhafte besteht darin, dass zur Krisenbewältigung zwar jede Menge Konzepte
zurechtgebastelt werden, die sich aber niemals wirklich pragmatisch darauf
einlassen, wie mit den stofflich-sinnlichen Ressourcen (Erde, Natur,
Produktivkräfte, menschliches Wissen, Tatkraft) für ein "gutes Leben" umzugehen
sei, sondern die aller Pragmatik immer schon gnadenlos die abstrakten
Fetischkriterien des warenproduzierenden Systems blind voraussetzen und damit
ihren angeblichen Pragmatismus selber dementieren. Alles ist möglich, aber nur,
wenn es apriori schon dem verrückt gewordenen Gesetz des Geldes unterworfen
wird. Wie der Katholik sich vor jedem eigenen Gedanken erst einmal bekreuzigt,
so verbeugt sich Michael Brie vor dem "betriebswirtschaftlichen
Rentabilitätsinteresse" (a.a.O.), das er heiligspricht, bevor er sich über die
historische Bedingtheit dieses Kriteriums Klarheit verschafft hat. Dass die
staatsbürokratische Planwirtschaft am Kriterium der Rentabilität gescheitert
ist, beweist nicht die Richtigkeit und Ewigkeit dieses Kriteriums, sondern nur,
dass der Staatssozialismus sich daran messen liess, weil er Fleisch vom Fleische
der warenproduzierenden Moderne (nämlich der spezifische Einstiegsmodus der
historischen Nachzügler) war.
Die Vorschläge, die dann herauskommen,
übertreffen an Blauäugigkeit und schlechtem Utopismus mühelos jede wirkliche
Kritik des Geldes, gerade weil sie so hoffnungslos "modern" bleiben wollen.
Michael Brie etwa möchte allen Ernstes die ökonomische Fetischkategorie des
"Werts" einfach "umdefinieren": "Der Arbeitswert ist - bei Strafe des Untergangs
der Menschheit - in einen anderen Wert, in einen Reproduktionswert zu
überführen. Und im Reproduktionswert bliebe der Arbeitswert zugleich als dessen
immanentes Moment aufbewahrt" (a.a.O.). Hier sehe ich nur noch theoretischen
Aberglauben am Werk, der sozusagen mit einer Zauberformel den Tod überlisten
möchte (vgl. dazu die Kritik an Brie von Hans-Christoph Linke im ND-Forum vom
6./7. August 94). Und auch damit steht Brie nicht allein: je mehr die
Systemkrise voranschreitet, desto inflationärer werden die wohlfeilen
Vorschläge, den unheimlichen ökonomischen "Wert", der die Natur und immer mehr
Menschen "wertlos" macht, in einen menschenfreundlichen "Sozialwert" umzutaufen
oder einen famosen "Wert der Natur" zu kreieren usw. Man spürt zwar, dass mit
dem bisher blind vorausgesetzten "Wert" einiges nicht mehr stimmt, krallt sich
aber trotzdem verzweifelt an dieser zentralen Vergesellschaftungskategorie der
Moderne fest. Besonders in der sozialwissenschaftlichen und sozialpädagogischen
Intelligenz scheint das Fieber des "Umdefinierens" in dieser Hinsicht zu
grassieren. Das ist die klassische bürgerliche Krisenreaktion: den Pelz waschen
wollen, ohne ihn nass zu machen. Ich glaube dagegen nicht, dass man das ABC der
Marxschen Theorie vergessen muss, um mit der Krise fertig zu werden. Der
ökonomische "Wert" ist nichts anderes als die phantasmatische gesellschaftliche
"Darstellung" von Quanta vergangener abstrakter Arbeit an den Produkten. Diese
an sich absurde Art, den Aufwand von Zeit und Material zu messen, ist der
Getrenntheit der Warenproduzenten voneinander geschuldet, die nur indirekt über
den Marktmechanismus (die Ware-Geld-Beziehung) miteinander vermittelt sind. Wenn
jedoch ein
Stadium der Produktivkraftentwicklung erreicht wird, in dem
durch angewandte Naturwissenschaft die an den Produkten phantasmatisch
erscheinenden Arbeitsquanta bis an die Grenze ihrer "Darstellungsfähigkeit"
minimiert werden, dann ist die auf dem "Wert" beruhende Produktionsweise (im
Klartext des alltäglichen Verstandes: die permanente Verwandlung von Arbeit in
Geld) eben historisch am Ende, punktum. Da nützen alle theoretischen Umdeutungen
ebensowenig etwas, wie wenn ich eine Handgranate willkürlich zur Kaffeekanne
"umdefiniere" - sie wird trotzdem ihre objektivierte Gestalt behalten.
Im
Grunde genommen sind das theoretische Herumdoktern an der Wertkategorie und
sämtliche einschlägigen "Geldpfuschereien" (wie Marx das nannte) nur eine
weitere Erscheinungsform der fundamentalistischen Hybris der Moderne, die
glaubt, ihren eigenen Fetischcharakter durch "politische Regulation" steuern zu
können, ohne ihn aufgeben zu müssen. Die bürokratische Staatsplanung der
unaufgehobenen Warenbeziehungen war nur eine andere (wenn auch historisch
weitaus verständlichere) Variante dieser Hybris, die stets in der allen modernen
Gesellschaften gemeinsamen Phrase gipfelt, das Medium "Geld an sich" sei völlig
O.K., es komme nur darauf an, was "inhaltlich" damit gemacht werde (ein geradezu
kindlicher Irrtum, den der Kommunikationstheoretiker McLuhan schon in den 60er
Jahren mit Recht verspottet hat). Deswegen kann die reale Aufhebung des
warenproduzierenden Systems auch keineswegs durch irgendeine neue Form der
zentralistischen Staatsplanung geschehen. Die neuen Produktivkräfte, die erst
jetzt am Ende des 20. Jahrhunderts die säkulare Systemkrise der Moderne
heraufbeschwören, können gleichzeitig einen ganz anderen Weg der
Vergesellschaftung jenseits von Markt und Staat zeigen. Ich denke, dass die
Zielvorstellung eines vernetzten Systems von Selbstversorgungs- und
Selbstverwaltungs-Kooperativen (mit modernen Produktivkräften, aber jenseits der
Geldwirtschaft) viel realistischer ist als alle Krisen-Quacksalberei innerhalb
des Marktsystems.
Die Kritik am Fundamentalismus der Moderne kann selber
nicht fundamentalistisch sein. Es geht also nicht darum, ein anderes
abstrakt-allgemeines Zwangssystem an die Stelle des bisherigen zu setzen. Gerade
das wäre keineswegs radikal (an die Wurzeln gehend), sondern wieder nur eine
Verlängerung des abgelebten modernen Fundamentalismus selbst. Aber das Leben
darf nicht der Marktwirtschaft aufgeopfert werden. Alle Ressourcen, die von
Markt, Geld und Staat nicht mehr sinnvoll mobilisiert werden können, müssen
freigegeben werden für selbstverwaltete Nutzungszwecke, statt sie zu zerstören
oder brachliegen zu lassen. Es ist einfach zu verstehen, wie dieser Weg
allmählich über die kapitalistische Lebensweise hinausführen kann. Einen Schritt
in diese Richtung zu tun, heisst natürlich auch, mit einem Bein noch in der
alten Gesellschaftsform zu stehen (sonst ist ein Schritt gar nicht möglich).
Deswegen kann von einem "leeren Pathos des absoluten Bruchs" gar keine Rede
sein. Wir müssen lernen, uns zunächst teilweise vom Geld zu entkoppeln und
Bereiche einer davon befreiten Reproduktion und Lebensweise zu erschliessen. Das
wird unvermeidlich auch in einen neuen gesellschaftlichen Konflikt führen, weil
alle Ressourcen von der Logik des Geldes besetzt sind. Die Frage ist, wie sich
die bisherigen (auch die linken) gesellschaftlichen Kräfte auf Dauer dazu
verhalten. Unterstützen sie eine theoretische und praktische Initiative, die
über die totale Marktwirtschaft hinausgeht, oder begehen sie aus Angst vor dem
Tod Selbstmord, indem sie sich auf die Verlängerung einer Moderne vergattern
lassen, die den Lebensinteressen nicht mehr gerecht werden kann?
Eine
radikale Umorientierung hat natürlich auch ihre moralische und kulturelle Seite
(darauf haben Hans-Christoph Linke im ND-Forum vom 16./17. Juli und Ruth Priese
im ND-Forum vom 10./11. September 94 hingewiesen). Gegen die konservative blosse
Verzichtsideologie innerhalb des marktwirtschaftlichen Systems ist ein
qualitativ anderer Reichtumsbegriff zu setzen, der den Konkurrenz- und
Konsumwahn mittels teuer erkaufter und ökologisch zerstörerischer Kinkerlitzchen
durch andere materielle Lebensqualitäten ersetzt. Nicht nur die Menschen in
Ostdeutschland und den anderen ehemals staatssozialistischen Ländern fürchten
"unbewusst noch Freiheit und Autonomie" (Ruth Priese). Im Westen ist das ganz
genauso, denn statt des Stalinismus der Bürokratie hat hier immer nur der
Stalinismus des Geldes geherrscht, den jetzt auch der Osten zu seinem Schaden am
eigenen Leibe erfährt. Das sinnlose, fremdbestimmte "Rackern" für einen
fetischistischen Selbstzweck war das gemeinsame Merkmal hüben wie drüben, und
daran hat sich durch die Vereinigung unter dem Diktat des Geldes nicht das
geringste geändert.
Die "Selbstverantwortung" beginnt nicht dort, wo die
Menschen (und die Ideologen der Menschenverwaltung) die eine Form der "Diktatur
über die Bedürfnisse" (Agnes Heller) durch die andere auswechseln, sondern dort,
wo sie sich die Kritik am gesellschaftlichen Wahn zutrauen und ein Terrain des
Lebens für materielle und kulturelle Selbstbestimmung erobern. Die Diskussion
darüber hat erst begonnen. Sie wird an konkreten Fragen (neue Bodenreform,
Entwicklung neuer genossenschaftlicher Formen und einer
anti-marktwirtschaftlichen Ästhetik und Kultur, Umwälzung des Schul- und
Erziehungswesens, Forderung nach freien Wohn- und Kommunikationsstätten,
grundsätzliche Veränderung des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern, Ideen
einer neuen nicht-bürokratischen gesellschaftlichen Planung usw.) weiterzuführen
sein. Es gibt andere Hoffnungen als die, wie ein unmündiger Idiot ewig auf den
"Investor" oder "politischen Hoffnungsträger" Godot zu warten, der bekanntlich
niemals kommt. Und es gibt Besseres zu tun, als sich dafür zu ruinieren, ein
"Standort" für marktwirtschaftlich konkurrenzfähigen gemeingefährlichen
Schwachsinn zu bleiben oder zu werden. Vielleicht beginnt die Befreiung sogar
mit einem unbotmässigen Hohngelächter über die unfassbaren Zumutungen, denen wir
uns bisher unterworfen haben.