Robert Kurz

Die letzten Gefechte

Ein Essay über den Pariser Mai, den Pariser Dezember und das Bündnis für Arbeit

Im Rückblick auf den Mai 68


Wer erinnert sich nicht an den Pariser Mai? Selbst die Nachgeborenen, die nicht dabeigewesen sind, erinnern sich anhand der Dokumente der Geschichte, und bis heute spukt der Mai 1968 durch die Literatur. Der Pariser Mai 1968, nicht der Berliner oder Frankfurter Mai, der eher eine Mai-Attrappe war. Frankreich dagegen wurde in seinen bürgerlichen Grundfesten erschüttert, und de Gaulle floh in die Arme des Generals Massu, der schon drauf und dran war, die Panzer der französischen Rhein-Armee nach Paris rollen zu lassen. Denn die Revolte der Studenten, losgetreten von der kleinen linksmarxistischen Gruppe der Situationisten an der Universität Nanterre, war wirklich ein Funke, der den Steppenbrand entfachen konnte: Die Kämpfe an der Universität lösten bekanntlich eine riesige Streikwelle und zahlreiche Fabrikbesetzungen der Arbeiter aus. Im Unterschied zur vergleichsweise faden 68er Bewegung in Deutschland schien der Pariser Mai die Frage der sozialen Emanzipation auf die Tagesordnung zu setzen; und die gewerkschaftliche Basis war zur gesellschaftlichen Konfrontation bereit.
Vom 3. Mai bis zum 30. Juni 1968 schien die Macht des herrschenden Systems gelähmt. Daniel Cohn-Bendit, schon damals eitel bis dorthinaus, aber noch nicht demokratisch kretinisiert, schrieb feuerköpfig und vollmundig das Kommunistische Manifest paraphrasierend: »Durch den Bau von Barrikaden hat die revolutionäre Bewegung die Mauer des Schweigens durchbrochen... Ein Gespenst geht um in der Welt, das Gespenst des Linksradikalismus. Alle Mächte der alten Welt haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dieses Gespenst verbündet: der Papst und Kossygin, Johnson und de Gaulle, französische Kommunisten und deutsche Polizisten« (Linksradikalismus – Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus, Reinbek 1968, Klappentext).
Französische Kommunisten deshalb, weil die KPF in der bewährten Manier aller westlichen Linksparteien die Bewegung mit Hilfe ihres gewerkschaftlichen Einflusses abzuwürgen und parlamentarisch zu kanalisieren vermochte. Die für einen kurzen historischen Moment aufblitzende Möglichkeit, daß sich in einem hochentwickelten kapitalistischen Land ein revolutionärer Umsturz und eine soziale Emanzipation vollziehen könnten, fiel wieder in sich zusammen. Und aus der historischen Distanz betrachtet waren es weder allein die bürokratischen Manöver der KPF noch die bürgerlichen Gegenreaktionen, z.B. eine massive Demonstration der erwachsenen, ums Geschäft besorgten Mittelständler gegen ihre Kinder und für das nationale Denkmal de Gaulle, die eine revolutionäre Umwälzung vereitelten. Es war auch eine merkwürdige, keineswegs allein aus ihrer Spontaneität zu erklärende Zielblindheit der Bewegung selbst, von der die vorüberhuschende Möglichkeit wieder ins Unwirkliche abgelenkt wurde.
Sicherlich, es gab einige Worte, die sich einstellten, ohne doch wirklich Begriffe einer Transzendenz über die bürgerliche Welt hinaus sein zu können. Jacques Sauvageot, einer der Studentenführer, sprach z.B. von »Selbstverwaltung der Betriebe durch die Arbeiter«, von einem »nicht-autoritären Sozialismus«, von »Studentenmacht«, »anarchistischen Traditionen« und dem »Erbe der französischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts« (Sauvageot u.a., Aufstand in Paris oder Ist in Frankreich eine Revolution möglich?, Reinbek 1968, S. 16 ff.). Es gab auch das Moment einer romantischen Rebellion gegen die »Arbeit«: »Unter dem Pflaster liegt der Strand«; eine immer wieder kolportierte Parole. »Selbstorganisation« – aber von was und in welcher gesellschaftlichen Qualität? Auffällig ist im Rückblick, daß die Radikalität sich (ähnlich wie in den Revolutionen nachholender bürgerlicher Modernisierung im Osten und Süden) mehr auf die Formen des politischen Vorgehens und der Organisation als auf die Frage einer anzustrebenden nicht-kapitalistischen Reproduktion der Gesellschaft bezog.
Die radikale Kritik der Situationisten an der gesellschaftlichen Reproduktionsform des Warenfetischismus blieb als Problemstellung der Kritik ein esoterisches Minderheitsprogramm. Dieses Programm sickerte höchstens indirekt in die Äußerungen der Bewegung ein und wurde, wenn überhaupt, dann nur in einem kulturalistischen Sinne verstanden. War das ein Mißverständnis? Vielleicht bloß ein halbes. Denn die Formulierungen der Situationisten klangen oft eher kulturrevolutionär als ökonomiekritisch im strengen Sinne. Beides muß sich nicht ausschließen, gehört vielmehr sogar zusammen. Aber es blieb offen, inwiefern eine Emanzipation von den Zwängen der totalisierten Ware-Geld-Beziehung möglich sein und praktisch ins Werk gesetzt werden könnte, ohne die Potentiale der modernen Produktivkräfte zu negieren. Es gab keinerlei Vermittlung; nur den großen Gestus.
Der Wille der spontanen französischen Arbeiterbewegung von 1968 ging erst recht nicht über den Horizont der warenförmigen Vergesellschaftung hinaus; und die beschworene Tradition »der französischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts« sowieso nicht. Die bürgerliche Funktion des »Geldverdienens« wurde von den meisten Teilnehmern der Bewegung nicht im Ernst, also nicht sozialökonomisch, sondern bestenfalls metaphorisch und kulturalistisch in Frage gestellt. So war das Einmünden der Massenbewegung auf den Parlamentarismus und auf die kümmerliche gewerkschaftliche Forderungsebene eines »gerechten Lohnes für ein gerechtes Tagewerk« nur das Resultat einer immanenten Schranke der Bewegung selbst. Was sich im Pariser Mai zum letzten Mal abspielte, das war der immergleiche Film der westlichen »sozialistischen« und »proletarischen« Revolutionsbewegungen: ein kurzes Hinausschießen über einen unbekannten Horizont, um dann von der trägen Masse des Geldverdiener-Bewußtseins zurückgezwungen zu werden in die bürgerliche Verkehrsform, deren Endlosreform auf diese Weise als kläglich immanente Zielsetzung einzig und allein übrig bleibt.
Diese paradigmatische Verlaufsform, von den Linksradikalen zur heroischen Geschichte der Niederlagen stilisiert, verweist in Wahrheit auf den zuinnerst bürgerlichen Charakter der formal revolutionären Intention selbst. Der zweite, dritte, vierte und fünfte Aufguß der bürgerlichen Aufklärungs- und Modernisierungsvernunft, der bürgerlichen Revolution und ihrer jakobinischen Spitze kann auch im marxistischen oder anarchistischen Gewande immer nur dieselben Stationen in einer immer schwächeren Version durchlaufen: wie die astronomisch determinierte Bahn von Himmelskörpern, deren Vorbild ja auch den modernen Begriff der Revolution (von Kopernikus entlehnt) geliefert hat.
Je entwickelter eine moderne warenproduzierende, von der Verwertungsbewegung des Geldes bestimmte Gesellschaft bereits ist, desto weniger bedarf sie für ihre weitere Durchsetzungsgeschichte noch der jakobinischen Spitze, die dysfunktional wird wie ein blinder Wurmfortsatz und daher, in welcher ideologischen Legitimationsgestalt auch immer, zu einer Art folkloristischen Begleiterscheinung von Modernisierungsschüben degeneriert. Der Pariser Mai 1968 war vielleicht ein kurzer Blick ins verbotene Zimmer, aber die Tür wurde sofort wieder zugeschlagen und man beeilte sich, für die Revolutionstouristen die alten Stammestänze der bürgerlichen Revolution aufzuführen. Das Bakschisch ist ja auch nicht ausgeblieben.
So hat der Pariser Mai letztlich keine eigene neue Idee der sozialen Emanzipation über die westlich-kapitalistische Gesellschaft hinaus stabilisieren und weiterentwickeln können. Die situationistische Leuchtspur verglühte schnell und wurde in der deutschen 68er Bewegung kaum zur Kenntnis genommen. Stattdessen richtete man den Blick zunehmend dorthin, wo die alte Verlaufsform noch jung und frisch zu sein schien: in die Dritte Welt. Die Solidarität mit den antiimperialistischen Befreiungsbewegungen wurde nicht im Namen einer Transformation über das moderne warenproduzierende System hinaus entwickelt, in deren Kontext die historischen Nachzügler und Späteinsteiger gleichzeitig darüber hinausgetrieben worden wären, sondern genau umgekehrt: Die nachholende bürgerliche Revolution der Dritten Welt wurde zum Modell erhoben, weil man sich in ihrem Glanze so schön pseudojakobinisch wärmen konnte. Denn je unentwickelter eine warenproduzierende Gesellschaft ist, je mehr sie überdies im Zeichen einer nachholenden Modernisierung ihre nationalökonomische Selbstbehauptung gegen die vorausgeeilten Konkurrenten auf dem Boden derselben Produktionsweise und ihrer globalen Vermittlungsform (Weltmarkt) erkämpfen muß, desto bedeutsamer bleibt die jakobinische Spitze, egal in welcher ideologischen Gestalt.
Es wiederholte sich also die historische Paradoxie, daß das Bewußtsein der (dem eigenen Selbstverständnis nach) revolutionären Bewegung in den kapitalistisch entwickeltsten modernen Gesellschaften zum bloßen Ableger des Bewußtseins einer nachholenden bürgerlichen Revolution in den kapitalistisch unentwickelsten Gesellschaften wurde. Wie der alte westliche Linksradikalismus nicht über die Rolle eines kleinen Bruders der Oktoberrevolution hinauskam, so kam der Radikalismus der neuen Linken nicht über die Rolle eines kleinen Bruders der Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt hinaus. Auch der romantische Impuls verlagerte sich demzufolge von einer Kritik der »Arbeit« auf die Schinderhannes-Romantik des bewaffneten Kampfes im Trikont und seiner Symbole, die doch an den Originalschauplätzen nichts anderes als das Signum der »Arbeit« und ihrer nachholenden Durchsetzungsgeschichte waren, wie sich am repressiven Charakter der neuen Regimes schon bald überall zeigen sollte. Als die häßliche, gänzlich unromantische Seite der nachholenden Modernisierung und etatistischen »Inwertsetzung« in der Dritten Welt zum Vorschein kam, suchte die 68er Intelligenz heulend Zuflucht im bürgerlichen Mutterschoß des demokratischen Westens. Das Umlügen der Repressionsform in eine Befreiungsform kann im Westen nur bei der liberalen Marktfreiheit des individualisierten Konkurrenzsubjekts enden.
1968 warf sich ein Cohn-Bendit in die Brust, er und seinesgleichen könnten sich souverän als antiautoritäre Linksradikale der Marktgesetze bedienen: »Warum sind wir auf den Vorschlag eingegangen, dieses Buch zu schreiben? Um den Spieß umzudrehen, die Marktgesetze dieser Gesellschaft gegen sie selbst zu kehren und endlich auszusprechen, was schon lange ... hätte gesagt werden müssen« (a.a.O., S. 12). Das war damals wohl mit schiefem Blick auf mögliche moralisierende Anwürfe gesagt, Cohn-Bendit hätte sich an bürgerliche Verleger verkauft. Natürlich wäre es albern, die Möglichkeit zu verweigern, mit antibürgerlichen Inhalten in die bürgerliche Zirkulation hineinzukommen. Denn die Zirkulation ist in der bürgerlichen Gesellschaft, in der selbst die Liebe Warenform annimmt, die einzige Vermittlungsweise, in der sich Ideen schnell und weit verbreiten können. Aber das Problem ist, ob die Ideen überhaupt einen harten antibürgerlichen Kern besitzen und ob sie sich mit einer Praxis vermitteln können, die über das System der totalisierten Warenform hinausgeht. In dieser Hinsicht war die Bewegung von 1968 butterweich. Deswegen ist Cohn-Bendit heute ein historischer Idiot der Marktwirtschaft; und bekanntlich nicht er allein.
Der grüne Allerweltsdemokrat meint im beschaulichen Rückblick, 1968 sei »die letzte Revolution gewesen, die noch nichts vom Ozonloch wußte«. Mit Blick auf die soziale Physiognomie von ihm und seinesgleichen können wir sagen, 1968 war die letzte Revolution, die noch verbeamtet werden konnte. Ja, der Pariser Mai war das unwiderruflich letzte Gefecht der bürgerlich-proletarischen Revolution in der Moderne, der letzte Schnaufer eines asthmatisch gewordenen Jakobinismus, das letzte Gefecht des Geldverdiener-Bewußtseins, das noch in revolutionären Kostümen ausgetragen werden konnte. Mit dieser Revolution ist es aus, weil sie ihr immanentes Ziel längst überschritten hat. Die warenförmigen Revolutionen, die jetzt noch ausgerufen werden, finden nur noch in den Werbetexten eines Gaga-Konsumerismus statt. Die politische Revolution war der Weg des Fetischismus, das Resultat ist nicht romantisch. Der urbane Konsumdepp und Marktlückenforscher hat gesiegt, über den Preis reden wir später.
Vielleicht klingt das alles ziemlich ungerecht gegenüber dem Pariser Mai, der doch noch gar nichts davon wissen konnte, wo seine Protagonisten enden würden. Das ist nur halb richtig, also falsch. Der Pariser Mai hatte durchaus ein gewisses Bewußtsein davon, daß er sich das verbotene Zimmer letzten Endes auch selber verbietet. Nicht nur der Pariser Mai im unmittelbaren Sinne, sondern die antiautoritäre Bewegung insgesamt. Deswegen schlug sie auch so schnell in Autoritätsgläubigkeit um, zuerst in eine sozialdemokratische oder bolschewistische (auch wenn letztere bloß ein historisches Faschingskostüm war), dann in eine bedingungslose Unterwerfung unter die »Autorität« der subjektlosen Marktgesetze. Der unerkannten Herrschaftsform der Demokratie, deren Name schon die Selbstrepression beinhaltet, hatte man ja bereits in der antiautoritären Phase gehuldigt. Insofern ist es gar nicht so überraschend, daß die »neuen Philosophen« à la Glucksman schließlich einen enthistorisierten westlichen Kapitalismus in seichten Propagandaschriften besangen, die eine »Philosophie« zu nennen immerhin dreist ist; ebensowenig wie es überraschend ist, daß die Cohn-Bendit und Konsorten heute Teil der politischen Klasse sind, die sie einst bekämpft hatten.
Es steckte eben doch ein harter kleinbürgerlicher Kern in dieser revoltierenden Mittelstandsjugend, und natürlich in den Arbeitern sowieso. Die »petit bourgeois«, das sind nun einmal alle, die sich selber als eine Art Bauchladen begreifen und die sich nicht vorstellen können, daß das Kaufen und Sichverkaufen jemals aufhören wird; also zunächst einmal buchstäblich alle. Daß der »Bourgeois« in der kapitalistisch totalisierten Warenform als solcher steckt, davon wollten auch die Barrikadenkämpfer von 1968 nichts wissen. Das war nicht bloße Unkenntnis oder Nichtwissenkönnen, sondern ein bewußtes Absehen von der Möglichkeit, über die Aufhebung der warenförmigen Beziehungen konkrete Aussagen zu machen und praktische, einsehbare Vermittlungsschritte anzugeben. Und es war auch nicht bloß ein Bewußtsein davon, daß die Arbeiter diesen »ungeheuerlichen« Gedanken ablehnen würden; denn das hätten sie mit Sicherheit (auch die Fabrikbesetzer). Trotz aller romantischen Rhetorik gegen die »Arbeit« und für den Strand unter dem Pflaster galt in den meisten Köpfen von 1968 ungebrochen das eherne Gesetz des Geldes. Insofern war die gewerkschaftliche Beschränkung eine allgemeine. Was zumal in Deutschland aus dem französischen Impuls wurde, sagt die sinnlose Zusammensetzung des Namens einer ehemals antiautoritär-linksradikalen Frankfurter Zeitschrift, die sich »Pflasterstrand« nannte; nicht zufällig ging aus diesem Verein die zentrale Fraktion der grünen Realos und »urbanen« Marktwirtschaftsfreunde hervor.
Nein, die bewußte Negation des Gedankens, mit der Kritik und praktischen Aufhebung des Warenfetischismus Ernst zu machen, ist ja schon damals zum Prinzip erhoben und ideologisiert worden. Wir wissen doch, daß der gesamte neuere Linksradikalismus, der von den marxistisch gemauserten Existentialisten und von der Kritischen Theorie herkam, ein Bilderverbot für das Ziel einer nichtkapitalistischen Gesellschaft und einer »selbstorganisierten« Reproduktion ausgesprochen hat. In Wahrheit ist diese bewußt leere Negation ein Selbstschutz des bürgerlichen Bewußtseins gegen die möglichen Konsequenzen seiner eigenen Gesellschaftskritik. Eine ökonomische Bestimmung nicht-warenförmiger Reproduktion gibt es bis heute auch deshalb nicht, weil der Linksradikalismus in allen seinen Varianten, in der kraftmeierischen ebenso wie in der schöngeistigen, sich selber diese Aufgabenstellung bewußt verboten hat. Ausgerechnet im Namen der Selbstbestimmung und der Selbstorganisation der revolutionären Bewegung, deren glorreiche Praxis nicht im vorhinein theoretisch geschurigelt werden dürfe! Selten hat es eine billigere Ausrede in der Geschichte der sozialen Ideen gegeben.
Wahrscheinlich hätte es den Selbstdarstellern nicht in den großen revolutionären Gestus gepaßt, einfache ökonomische Bestimmungen und womöglich praktische Ansätze einer Entkoppelung von Markt und Staat zu entwickeln; das wäre ihnen zu klein und zu langfristig erschienen, irgendwie zu »weiblich« vielleicht, weil nicht unbedingt mit der weit ausholenden lateinamerikanischen Guerilla-Gebärde vermittelbar (Frauen machen immer etwas Unbedeutendes, Nicht-Glorreiches in den Augen der glorreichen Revolverhelden von Theorie und Politik). Obwohl selbst ein kleiner Schritt der Entkoppelung von der Warenform bereits zum Konflikt mit der verrechtlichten bürgerlichen Reproduktionsstruktur führen müßte und damit ein Guerilla-Moment enthielte – freilich in einer ganz anderen Art und Weise, als es sich die Heldenspieler von 1968 und ihre ideologischen Nachfahren vorstellen wollten.
Die ewigen und ewig verwegen dreinschauenden Trenchcoat-Jünglinge mit der ewigen Zigarette im Mundwinkel, die den Begriff der sozialen Emanzipation ewig als Zweig der Literatur mißverstehen; die kleinen Dantons und Mirabeaus vor den Mikrofonen, die eine Chance wittern; die stoppelbärtigen, lederbejackten Emiliano-Zapata-Attrappen, die für gefährlich gelten und in irgendwelchen großbürgerlichen Salons herumgereicht werden möchten; die himmelstürmenden Doktoranden, die doch nur habilitieren wollen: Das alles sind Masken der bürgerlichen Revolutionen und Revolutiönchen, die irgendwann als Klamottenteil der Herbstmode gezeigt werden. 1968 ff. wußten ihre Träger bloß noch nicht, ob sie mit der Utopie und dem »ganz Anderen« als ersten Sprossen der Karriereleiter nun bürgerliche Literaten, Professoren oder Politiker werden wollten.
Die Arbeiter in den besetzten Fabriken bekamen also erst 15 Jahre später, als sie die Frage längst vergessen hatten, eine Antwort auf das ökonomische Problem eines »antiautoritären Sozialismus«: Selbstverwaltete Betriebe sollten als Marktteilnehmer ihr Geld »alternativ« verdienen, so die Köpfe der Alternativbewegung. Das »ganz Andere« sah da schon ziemlich trübselig-kleinbürgerlich aus. Wir wissen auch, was daraus geworden ist. In Deutschland gab es ohnehin nicht einmal 1968 besetzte Fabriken; denn hierzulande wurden die Agitatoren der antiautoritären Bewegung vor den Fabrikstoren von den fanatischen Gläubigen des gerade zu Ende gehenden Wirtschaftswunders eher verprügelt. Deshalb konnte die mittelständische Revolutions-Farce hier ganz ohne Risiken aufgeführt werden, wenn auch nicht ohne Nebenwirkungen eines marktwirtschaftlichen Modernisierungsschubs, auf die man heute peinlicherweise auch noch stolz ist.
»Trotz alledem und alledem«: Die Ausstrahlungskraft des Pariser Mai bestand darin, daß das verbotene Zimmer einen Moment lang offen war. Oder wenigstens offen zu sein schien, wer weiß das schon so genau; denn richtig hingesehen hat ja niemand. Und längst ist man heilfroh, daß man nicht so genau hingeschaut hat, geschweige denn hineingegangen ist, denn das wäre ja furchtbar gewesen. Die Verwertung des Geldes als totale Reproduktionsform, so heißt es heute, sei »alternativlos«. Das haben auch die Gewerkschaften in der ganzen Welt gefressen, die sich endlich nicht mehr vor ihrer eigenen unbestimmten Idee der sozialen Emanzipation fürchten müssen. Und so soll es auch bleiben. Auch die ambitiösen Trenchcoat- Jüngelchen sitzen immer noch in den Cafés, aber jetzt haben sie nicht einmal mehr literarische Träume.

Das Elend des Pariser Dezember

Welcher Pariser Dezember?, so ist man versucht zu fragen, weil man sich daran fast so schwer erinnern kann wie z.B. an den Namen des FDP-Vorsitzenden. Der Pariser Dezember 1995, erst wenige Wochen zurückliegend (ich schreibe dies Anfang Februar 1996) ist nicht zum Begriff geworden wie der Pariser Mai; er wird nicht einmal eine kleine Leuchtspur in der Geschichte zurücklassen. Und das liegt keineswegs bloß an den unterschiedlichen Temperaturen dieser beiden Monate. Zur Erinnerung also: Im Dezember 1995 war Frankreich für einige Wochen scheinbar fast so stark erschüttert wie im Mai 1968. Es gab freilich keine Betriebsbesetzungen, und auch der Generalstreik war nur ein indirekter: Durch den Ausstand bei den öffentlichen Verkehrsmitteln wurden nahezu alle anderen Bereiche lahmgelegt.
Der Anlaß für die Streiks war ein partikularer, die Ursache dagegen eine gesellschaftlich-allgemeine. Die Regierung von Ministerpräsident Juppé plante, nichts Ungewöhnliches in der gegenwärtigen Welt, »harte Einschnitte« im Interesse eines finanziell schlankeren Staates: eine restriktive Sanierung der Eisenbahn und eine restriktive Reform der Sozial- und Krankenversicherung im öffentlichen Dienst. Oberflächlich gesehen handelte es sich zumindest teilweise um den Abbau von (allerdings eher bescheidenen) Privilegien der Staatsangestellten. Normalerweise kann ein derart korporativistisch beschränktes Interesse sich nicht zur Höhe der gesellschaftlichen Allgemeinheit aufschwingen; und zumal ein Streik im öffentlichen Dienst, der fühlbar das tägliche Leben belastet, zerrt oft schnell an den Nerven einer Bevölkerung, die in den Spezialinteressen der Staatsangestellten nicht ihre eigenen wiedererkennt. Dieser Effekt ist schon oft einer Regierung im sozialen Konflikt mit ihren Staatsdienern zu Hilfe gekommen; und offensichtlich hoffte auch Juppé, auf einer solchen Stimmungswelle gegen die Streiks reiten zu können.
Dieses Kalkül ist gründlich danebengegangen. Das korporativistische Moment des Streiks wurde rasch überspült von einem allgemeinen sozialen Protest, der weit über den spezifischen Anlaß hinausreichte. Nicht nur die unmittelbar Streikenden gingen auf die Straße, sondern Hunderttausende von Sympathisanten. In vielen Stimmungsberichten war von einer »Explosion der sozialen Gefühle« die Rede, von einem plötzlich erwachenden Geist der Solidarität, einem Entdecken der Improvisationskunst und einer Menschenkameradschaft wie sonst nur noch bei Feuersbrünsten und Naturkatastrophen. Eine Art soziales Marienwunder mitten in der Wüste der marktwirtschaftlichen Individualisierung und Entsolidarisierung? Ein erzreaktionärer deutscher Beobachter aus der Abteilung Adel und Banken, Thankmar von Münchhausen, wunderte sich in der einschlägigen »Zeitung für Deutschland«: »Keine demokratische Regierung dürfte den Franzosen Entbehrungen zumuten, wie es die Gewerkschaften nunmehr fast drei Wochen Tag für Tag tun. Jede bescheidene Klage über die Auswirkungen – über Schlafmangel oder entgangene Geschäfts- und Lebenschancen – beginnt mit der Versicherung, daß man für die Forderungen der Streikenden ja viel Verständnis habe. Das Streikrecht wird auch bei den Monopolbetrieben des Staates von niemandem in Frage gestellt. Hört man die resignierten Stimmen, so könnte man meinen, die Staatsangestellten streikten nicht selbstsüchtig gegen die Allgemeinheit, sondern stellvertretend für alle« (FAZ, 13. Dezember 1995).
Ungewollt trafen gereizte, von einer antisozial-konservativen Journaille abgesonderte Kommentare wie dieser den Nagel auf den Kopf: Der Pariser Dezemberstreik fand deshalb so viel Unterstützung, weil die Streikenden tatsächlich, und sogar ziemlich bewußt, stellvertretend für alle Lohnabhängigen in den Ring traten. Nur vordergründig ging es um die Renten der Eisenbahner oder um die Krankenversicherung der Staatsangestellten: In Wirklichkeit war der neoliberale Konsens der Eliten die Zielscheibe des Protestes. Es waren jene aufreizenden Worte von der »Unvermeidlichkeit« des sogenannten Sozialabbaus, vom Ende des angeblichen »toujours plus« (des »immer mehr«) und von der »notwendigen Einsicht« etc., die den französischen Massen die Galle hochsteigen ließ. Und völlig zu recht. Alle wissen doch längst, daß das soziale Schlachtfest ein allgemeines und das Messer für den eigenen Hals schon gewetzt ist. Die bodenlose Unverschämtheit der marktwirtschaftlichen Eliten geht heute ja so weit, und nicht nur in Frankreich, daß sie den sozialen Bankrott ihres Systems als hinzunehmende Naturgesetzlichkeit verkaufen wollen, an deren Gang die Menschen sich »anpassen« müßten. Das eigentliche soziale Marienwunder besteht darin, daß die Eliten in der ganzen Welt für diese Frechheit nicht schon längst aufgehängt worden sind. Aber während die deutschen Lohnarbeiter sich im Namen der sogenannten Marktgesetze auch noch dankend die Hosen ausziehen lassen, scheinen die Franzosen wenigstens den Anstand zu besitzen, sich ihrer gewaltsamen Entblößung zu widersetzen.
Ein zusätzliches Motiv mag der plumpe Wahlbetrug von Jacques Chirac gewesen sein, auf den allerdings auch die Franzosen wider besseres Wissen hereingefallen sind, weil sie sich wie alle marktwirtschaftlich verhexten Menschen unbedingt betrügen lassen wollten. Es war der sozialistische Präsident Mitterand, seinerseits längst zum Denkmal mutiert, also sprachlos und ideenlos wie Stein, der unter dem Druck der marktwirtschaftlich-kapitalistischen »Systemgesetze« mit den sozialen Restriktionen begonnen hatte; ähnlich wie schon vorher das deutsche Denkmal Helmut Schmidt jenen »Sozialabbau« auf den Weg gebracht hatte, den dann die Kohl-Administration so erfolgreich fortsetzen sollte. In Erwägung, daß das Gedächtnis der Markt-Menschen extrem kurz ist, kam der um die Nachfolge Mitterands kämpfende konservative Kandidat Chirac im Herbst 1994 auf die bauernschlaue Idee, sich als eine Art Linkspopulist zu profilieren, der das soziale Frankreich gegen die neoliberalen Exzesse der pro-europäischen Sozialisten zu verteidigen gedenke.
Gestützt auf eine »note« von Emmanuel Todd, einem Mitarbeiter der akademischen Fondation Saint-Simon, ließ sich Chirac zu sozialen Versprechungen hinreißen. Nach Todd decken sich die sozialen Konfliktlinien nicht mehr mit den politischen; und das bedeutet, daß zumindest propagandistisch Sozialpolitik und Konservatismus fast wie einst bei Bismarck zusammengehen könnten, während die progressistische und internationalistische, aber marktwirtschaftlich eingebundene sozialdemokratische Ideologie sich bei den Unterschichten blamieren muß. Der Denkfehler war allerdings, daß Chirac real keinen sozialpolitischen Spielraum mehr besaß, im Unterschied zu Bismarck, sondern unter dem Druck der EU bzw. der anvisierten Europäischen Währungsunion und unter dem Druck der Weltmärkte sehr schnell (zu schnell sogar für das marktwirtschaftliche Kurzzeitgedächtnis) zu brutalen Restriktionen und damit zum offenen Bruch seiner taktischen Wahlversprechen überzugehen genötigt war. Während aber in Deutschland jedes soziale Wahlversprechen folgenlos gebrochen werden darf, wird derselbe Vorgang in Frankreich immer noch gnadenlos bestraft.
Dennoch ist der Pariser Dezember kein Pariser Mai geworden. Eine Bewegung, die keinen Traum hat, ist keine Bewegung mehr. Der Traum des Pariser Mai mag einer jener Träume gewesen sein, an die man sich schon während des Träumens nicht mehr erinnern kann; er mag diffus und inkonsequent gewesen sein, aber es war dennoch der Traum von einem anderen Leben jenseits des real-ökonomistischen Stumpfsinns der Marktwirtschaft. Von den einen schwach utopisch und von den anderen eher verkürzt als eine westlich-demokratische Variante des »Realsozialismus« gedeutet, war es nur dieser Anflug eines Traums, der den Pariser Mai historisch und erinnerungswürdig gemacht hat. Dieser Traum, jeder Traum überhaupt, ging schon damals über das Fassungsvermögen der Partei- und Gewerkschaftsapparate. Deswegen hofften diese Apparate, zusammen mit dem Untergang des Staatssozialismus im Osten würde jeder Gedanke an eine Systemalternative zuschanden werden. Sie hofften, nun pragmatisch das Beste herausholen zu können jenseits sogenannter dogmatischer oder utopischer und »unrealistischer« Ideen.
Selten ist der Anti-Traum der westlichen Apparatschiks grausamer enttäuscht worden. Sie haben nicht begriffen, daß es in der kapitalistischen Dialektik nur die Existenz des transformatorischen Traums von einer grundsätzlich anderen Produktions- und Lebensweise ist, die indirekt auch ihre eigene Existenzberechtigung ausmacht: sei es als zögernde und bremsende Hiwis einer antikapitalistischen Zielsetzung und der sozialen Umwälzung oder (in aller Regel) als bürgerliche Sozialtechniker und im Ernstfall vielleicht als Hiwis der Repression. Zwischen diesen Polen ist das Feld gewerkschaftlicher Möglichkeiten angesiedelt, auch im Sinne von sozialen Reformen und selbst der bloßen Abwehr des »Sozialabbaus«. Seitdem es nur noch marktwirtschaftsfromme »Realisten« gibt, ist der Pol der radikalen Kritik verschwunden. Damit aber muß das gesamte Feld der gewerkschaftlichen Möglichkeiten in sich zusammenfallen. Denn eine einpolige und eindimensionale Handlungsfähigkeit gibt es nicht.
Wenn die Gewerkschaften nicht mehr ein Bewußtsein repräsentieren, das trotz der verinnerlichten kapitalistischen Verkehrsform ein Moment der Systemtranszendenz behält, dann verlieren sie ihre Existenzberechtigung überhaupt. In demselben Maße, wie ihre ideelle Legitimation deckungsgleich mit dem herrschenden System wird, tendiert ihr Spielraum gegen Null. Die auch nur partielle Aufhebung der Konkurrenz unter den Lohnarbeitern, wie sie die Gewerkschaften darstellen, ist nämlich nicht möglich ohne ein Moment grundsätzlicher Systemkritik und damit der (wenn auch unausgesprochenen) Option der praktischen Systemaufhebung als letztes Faustpfand. Entfällt diese Option völlig und selbst als vage Idee, dann werden die Gewerkschaften absolut mit den »Gesetzen der Marktwirtschaft« erpreßbar, können also keinen nennenswerten Vorteil mehr für ihre Mitglieder sinnfällig machen. Gleichzeitig werden sie auch als Puffer des Kapitalismus gegen die Eskalation sozialer Bewegungen überflüssig. Auf diese Weise setzt sich logischerweise die ungehemmte individuelle Konkurrenz unter den Besitzern der Ware Arbeitskraft durch. Die Konsequenz kann nur die allmähliche Selbstauflösung der Gewerkschaften sein, wie sie sich schon längst durch einen unaufhaltsamen Mitgliederschwund andeutet. Als soziale Instanz der kapitalistischen Gesellschaft bleibt dann, von caritativen Institutionen wie der Bahnhofsmission und der Heilsarmee abgesehen, einzig und allein noch die staatliche Arbeits- und Armutsverwaltung übrig.
Die bleierne Traumlosigkeit der westlichen Gesellschaften nach dem Ende der bisherigen (altmarxistischen) Kapitalismuskritik führt auch zum Untergang der Gewerkschaften. Die ohnehin traumlosen Funktionäre haben vergessen, daß sie nur als Verwalter eines vergangenen und längst eingesargten Traums der sozialen Emanzipation existieren konnten. Sie haben vergessen, daß selbst der seichteste Reformismus innerhalb des kapitalistischen Systems immer einer Legitimation bedarf, die nicht aus den Systemkriterien selbst ableitbar ist und ein Moment der Nichtübereinstimmung braucht. Der Verlust jeder transzendierenden Idee führt den gewerkschaftlichen Reformismus in eine hoffnungslose historische Defensive. Statt von ideologischem Ballast befreit strategisch offener operieren zu können, verfallen die legitimatorisch wehrlos gewordenen Gewerkschaften der strategischen Paralyse. Und statt pragmatisch-selbstsicher verhandeln zu können, werden sie von ihren »Sozialpartnern«, die den Vorteil wittern, gnadenlos niedergemacht.
Gewiß kann diese Lage nicht in die alten Kategorien des Klassenkampfs rückübersetzt werden, wonach dann »die Kapitalistenklasse« und »ihr Staat« siegreich auf dem strategischen Vormarsch wären. Der Vorteil, den die Konzernspitzen und Unternehmerverbände aus dem strategischen Desaster der Gewerkschaften ziehen, beschränkt sich auf das bornierte betriebswirtschaftliche Kalkül und läßt jeden Blick auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung vermissen. Zwar gehört es zur Natur des Kapitals als Form der gesellschaftlichen Reproduktion, daß es von Haus aus nur die Summe partikularistisch bornierter Interessen-Handlungen darstellt, die eine blinde und subjektlose Resultante hervorbringen; dennoch war das unternehmerische Interesse für die gesamtgesellschaftliche Zukunft niemals so gering wie heute. Das geradezu hemmungslose Wahrnehmen des historisch unverhofften Vorteils und die sozialen »Machtproben«, auf die man es inzwischen tagtäglich ankommen läßt, all dies hat etwas Selbstmörderisches an sich, weil jede Reflexion auf die zukünftigen Verwertungsbedingungen des Kapitals selber fehlt.
Das wird noch deutlicher, wenn man die staatliche Seite (unabhängig von der parteipolitischen Couleur) betrachtet. Der Sozialabbau folgt den blinden Zwängen rückläufiger Wachstumsraten, steigender Massenarbeitslosigkeit, sinkender Staatseinnahmen und steigender Staatsverschuldung, ohne daß eine andere lenkende Instanz als die berüchtigte »invisible hand« zu vermuten wäre. Mit anderen Worten: Sozialabbau, soziale Machtproben »von oben«, Lohnsenkung usw. folgen nicht aus einem »großen Plan« des Kapitals oder des Staates. Es gibt keinen weitreichenden politisch-strategischen Willen, der hinter den antisozialen Maßnahmen erkennbar wäre, weder in Frankreich noch anderswo. Selbst der neoliberale ideologische Konsens der Eliten ist nur noch das Resultat eines Pawlowschen Reflexes auf die Signale des irrwitzig vor sich hinprozessierenden Marktes.
Gerade deswegen aber laufen die Proteste ins Leere. Denn die Protestierenden haben ja selber die verückt spielende totale Marktwirtschaft als »alternativlos« anerkannt und hinsichtlich der Systemgesetze längst bedingungslos kapituliert. Wenn ihnen jetzt kein bloß strategischer sozialer Wille mehr entgegentritt, dem man mit einer systemimmanenten Gegenstrategie etwas abtrotzen könnte, sondern die strategielose pure Vollstreckung der Systemgesetzlichkeit selbst, dann dürften sie sich eigentlich nicht beschweren. Der alte Klassenkampf um Geldlohn, Arbeitsbedingungen, soziale Reformen etc. setzte nicht nur das warenproduzierende System, sondern auch dessen objektive soziale Reproduktionsfähigkeit voraus. Selbst die implizite Drohung mit der (staatssozialistischen) Systemalternative war ja weit davon entfernt, die Kategorien der modernen Warenproduktion zu transzendieren. Jetzt wird es immer deutlicher, daß das Ende des staatssozialistischen Traums einhergeht mit dem Ende der sozialen Reproduktionsfähigkeit aller warenproduzierenden Systeme überhaupt, d.h. auch der westlichen Variante.
Der gewerkschaftliche Protest wird damit gleich doppelt unglaubwürdig. Er kann den erloschenen staatssozialistischen Traum nicht mehr als impliziten Katalysator benutzen, während gleichzeitig weder in den Apparaten noch im Massenbewußtsein eine andere Systemalternative auch nur im Ansatz ernsthaft erwogen wird; in Frankreich will man sich auch an die situationistische Leuchtspur nicht erinnern. Dennoch sehen sich die Gewerkschaften genötigt, auf die zunehmende (uneingestandene) Reproduktions-Unfähigkeit des Systems zu reagieren. Sie müssen also eine Art Klassenkampf führen, aber paradoxerweise ohne klassenkämpferischen Bezug. Sie müssen die Systemgesetze vorbehaltlos bejahen und gleichzeitig Maßnahmen gegen die Systemgesetze verlangen (die dann natürlich nicht so genannt werden dürfen). Während der Traum eines anderen, nicht mehr marktwirtschaftlichen Produzierens und Lebens viel weiter weg als 1968 und praktisch nicht existent ist, sind gleichzeitig die absoluten, objektivierten Grenzen des warenproduzierenden Systems viel näher gerückt als 1968. Früher gab es einen kleinen Traum, während der systemimmanente Spielraum groß war; jetzt bedürfte es eines großen Traums, um auch nur einigermaßen anständig überleben zu können. Schlechte Karten für Realisten.
Der Pariser Dezember, um zu diesem zurückzukehren, hat die desolate Konfliktlage der Gewerkschaften und der sozialen Protestbewegung überhaupt in mindestens drei Punkten exemplarisch gezeigt. Erstens trat die Bewegung von vornherein nicht mehr mit eigenen positiven Forderungen auf. Vielleicht zum erstenmal in der Geschichte der modernen sozialen Bewegungen waren die Triebkräfte und Beweggründe auf den kläglichen Wunsch zusammengeschrumpft, daß es doch um Gotteswillen irgendwie so weitergehen möge wie bisher. Auch insofern wird die Grenze der kapitalistischen Systementwicklung sichtbar: Noch jeder qualitative Wachstumsschub der letzten 200 Jahre hatte sowohl immanente politische und soziale Programmforderungen als auch überschießende utopische Momente seitens der »progressiven« sozialen Bewegung hervorgebracht; die blanke Verteidigung des status quo stempelt dagegen heute das letzte soziale Aufbegehren der Gewerkschaften zu einem im Wortsinne konservativen, ja vielleicht sogar reaktionären Impuls. Nichts könnte deutlicher machen, daß die Gewerkschaften eine gesellschaftliche Kraft sind, die in ihrer tradierten Gestalt keine Zukunft mehr hat, weil sie keine Zukunft mehr formulieren kann.
Wenn auf diese Weise die Gewerkschaften plötzlich als konservative, bloß noch passiv beharrende soziale Rückzugsarmee erscheinen, dann darf es kaum verwundern, daß umgekehrt Kapitalmanagement und Regierung sich aus demselben Grund in die progressive Pose werfen. Fast in situationistischer Manier haben sie den Gewerkschaften den Begriff der Reform »entwendet«; die »Entwendung« war ein Ausdruck der Situationisten, mit dem sie eine raffinierte Umcodierung der herrschenden Codes, Muster und Verhaltensweisen bezeichnen wollten. Jetzt hat der herrschende Neoliberalismus/Neokonservatismus seinerseits den Begriff der Reform raffiniert umcodiert und aus einem Inbegriff des sozialen Fortschritts in einen höhnischen Terminus der sozialen Destruktion verwandelt. Die Gewerkschaften haben ihren Anteil an der Definitionsmacht über die gesellschaftspolitische Richtung verloren. Sie müssen sich jetzt anhören, daß sie den »notwendigen Reformen« im Wege stünden oder sogar »reformunfähig« seien. Es nützt gar nichts, die ursprüngliche Codierung des Begriffs »Reform« einklagen zu wollen und z.B. festzustellen, daß damit jetzt nur noch eine unverschämte Rückkehr in den Frühkapitalismus gemeint ist. Diese neue Konnotation des Begriffs »Reform« ergibt sich aus den objektivierten Verlaufsformen der Marktwirtschaft selbst, die als solche auch von den Gewerkschaften nicht einmal mehr »im Traum« in Frage gestellt wird.
Zweitens disqualifiziert sich der wieder einmal bemühte Begriff der Solidarität dann automatisch selbst, wenn er nur noch für das kleinmütige Sichfestkrallen an dennoch objektiv vergehenden sozialen Gratifikationen der Marktwirtschaft instrumentalisiert wird. Denn unter den heute gegebenen Bedingungen schließt das Verlangen, es möge irgendwie so weitergehen wie bisher, von vornherein die stumme Entsolidarisierung mit all denen ein, die bereits längst »draußen« sind: ob in der ehemaligen Dritten Welt, in der europäischen Peripherie oder im eigenen Land. Sicherlich waren gewerkschaftliche Forderungen schon immer ihrem Wesen nach unmittelbar ein Ausdruck partikularer Sonderinteressen, und sie konnten schon immer auch rein defensiven Charakter tragen. Aber in der Vergangenheit der noch im Aufstieg begriffenen Modernisierungsgeschichte war selbst der Kampf für das beschränkteste Sonderinteresse und Teilziel in das Licht einer allgemeinen, übergreifenden Idee sozialer Emanzipation getaucht, die wenigstens indirekt und vermittelt einen Zusammenhang sozialer Bewegung über den unmittelbaren Anlaß hinaus herstellte und uneingeschränkte »Solidarisierung« ermöglichte. Genau deswegen konnte auch eine für sich genommen rein defensive Forderung dennoch in einem historisch offensiven strategischen Kontext stehen.
Zusammen mit der bedingungslosen Anerkennung der Marktwirtschaft ist aber das strategische Moment des gewerkschaftlichen Handelns völlig verschwunden, und die defensiven Abwehrkämpfe können nicht mehr eine Taktik in einem größeren Zusammenhang sozialer Emanzipation genannt werden. Damit wird der Ausschluß derer, die von der defensiven Forderung nicht mitgetragen werden, ein absoluter. Die Solidarität gilt dann nur noch in bezug auf all diejenigen, die noch nicht »draußen« sind. Insofern haben die streikenden Eisenbahner und Staatsangestellten des Pariser Dezember strenggenommen nicht wirklich für alle stellvertretend gekämpft, sondern nur für den marktwirtschaftlich momentan noch reproduzierbaren Teil der französischen Lohnarbeiter, der sich dagegen sträubt, in die Masse der bereits Ausgestoßenen hinabgeworfen zu werden, für die es keine Solidarität mehr gibt. Das wurde sogar institutionell deutlich, als Juppé am 21. Dezember im Regierungssitz Hôtel Matignon einen »therapeutischen Sozialgipfel« einberief: »Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit hatten ... die Vereinigungen der sogenannten Rechtlosen (Obdachlose, Arbeits-lose und sonstwie sozial Ausgeschlossene), die fünf Millionen Personen vertreten wollen, vergeblich einen Sitz am Verhandlungstisch gefordert« (Neue Zürcher Zeitung vom 22.12.95).
Selbst wenn ein Teil dieser Organisationen und Vereinigungen bloß caritative Anliegen und zweifelhafte Ideologien vertreten sollte (die auch nicht zweifelhafter als die marktwirtschaftlichen Anpassungs-Ideologien sein können), so ist doch ihre bloße Existenz ein Beweis für die Unfähigkeit der Parteien und Gewerkschaften, auf die soziale Misere der Ausgestoßenen anders als mit unverbindlich moralisierenden Phrasen zu reagieren. Der Mangel an Systemkritik erweist sich als identisch mit der Unfähigkeit, eine wachsende Masse von »herausfallenden« Menschen sozial repräsentieren zu können. Mag daher auch im Pariser Dezember eine Aufwallung der sozialen Gefühle stattgefunden haben, so enthielt diese Solidarisierung dennoch ein großes Maß an sozialer Heuchelei. Die korporatistische Beschränkung der Staatsangestellten wurde bloß zugunsten einer Meta-Korporation, eines Kartells der Noch-Beschäftigten und Noch-Berechtigten transzendiert; es war die Pseudo-Solidarität der sozialen Apartheid. Nur eine uneingeschränkte Solidarität, die nach dem Motto »Alle oder niemand« handelt, verdient diesen Namen. Wenn die Gewerkschaften kaum mehr als eine organisierte Gang darstellen, die den Zugang zu den Rettungsbooten ohne Rücksicht auf die Schwachen und Unglücklichen für sich selbst verteidigt, dann wird »Solidarität« zu einer perversen Sekundärtugend, die ihr eigenes Gegenteil einschließt.
Drittens schließlich zeigte der Pariser Dezember seine historische Nichtigkeit dadurch, daß er bar jeden intellektuellen Ausdrucks, also völlig theorielos war. Beim 18. Kongreß der Gewerkschaft Force ouvrière (FO), die neben der bekannteren KPF-nahen CGT den Kampf im Dezember wesentlich mitgetragen hatte, räumte zwei Monate nach den Streiks der Generalsekretär Marc Blondel ein, »es habe kein Überfluß an Ideen geherrscht« (Neue Zürcher Zeitung vom 2.3.1996). Das ist nur logisch: Wenn es keinen Traum einer anderen Produktions- und Lebensweise, also auch keine Systemkritik mehr gibt, welche sozialen und ökonomischen Ideen sollte es dann noch geben, die nicht schon tausendmal ausgelutscht und bis zur Lächerlichkeit unglaubwürdig wären? Vor allem dann, wenn auch die Gegenseite keiner Idee (d.h. keinem bewußten »Gestaltungs«- und Regulationsanspruch) mehr folgt, es sei denn, man wollte die neoliberale Propaganda für die bedingungslos Vollstreckung der subjektlosen Pseudo-»Naturgesetze« des Marktes eine »Idee« nennen.
Das ist natürlich nicht die Schuld allein der Gewerkschaften. Sie brauchen sich gar nicht zu sperren gegen eine neue systemkritische Theorie, weil eine solche nicht existiert im öffentlichen Raum. Was schon seit Ende der 70er Jahre absehbar war und nach dem Epochenbruch von 1989 manifest wurde, hat sich im Pariser Dezember zum ersten Mal anhand einer konkreten Konfliktsituation in seiner ganzen Erbärmlichkeit gezeigt: An die Stelle des verblichenen Arbeiterbewegungs-Marxismus in seinen verschiedenen Spielarten ist weder bei den führenden Intellektuellen noch bei der akademischen Jugend auch nur der Schimmer einer neuen kritischen Gesellschaftstheorie getreten. Der Marxismus wurde nicht der weltgesellschaftlichen Entwicklung entsprechend transformiert, sondern nur verscharrt. An die Stelle einer obsolet gewordenen Gestalt der kritischen Theorie trat die Abwesenheit von Theorie überhaupt. Für die Akzeptanz des Marktes braucht man allerdings weder eine kritische noch überhaupt eine Theorie. Stattdessen sind die sogenannten Gesellschafts- und Geisteswissenschaften in eine Art sinnloses Plappern verfallen. Die Kritik der politischen Ökonomie ist in Frankreich ebenso wie in Deutschland und anderswo so vollständig aus den Köpfen und aus dem gesellschaftlichen Diskurs verschwunden, als hätte sie niemals existiert.
So kamen im Unterschied zum Mai 68 auch keinerlei ideelle, systemkritische Impulse von den französischen Studenten. Zwar gab es parallel zur Auseinandersetzung um den öffentlichen Dienst im November 95 sogar einen landesweiten Ausstand der Studenten für bessere Studienbedingungen: »An über 30 Universitäten ruht der Lehrbetrieb« (Frankfurter Rundschau vom 29.11.1995). Aber dieser Studentenstreik hatte nicht die Qualität einer ideell flankierten Studentenbewegung, sondern war genauso kopflos und theorielos wie der Streik der Staatsangestellten. Jugendliche, die nichts weiter wollen als eine Chancenverbesserung im Konkurrenzkampf um idiotische marktwirtschaftliche Arbeitsplätze, sind natürlich an nichts weniger als an sozialkritischen Ideen interessiert.
Am vollständigsten war vielleicht die Blamage der ehemaligen Linksintellektuellen von Rang und Namen. Die falschen Hofsänger des Kapitalismus vom Schlage Glucksmann u. Co. starrten ebenso blöde und sprachlos auf den unverhofften, so gar nicht ins Konzept passenden Sozialkonflikt wie die in seichten Medien- und Diskurs-Diskursen vor sich hinplaudernden Protagonisten der Postmoderne. Erst nach einer peinlichen Sendepause meldeten sich dann einige bekannte, alteingesessene Soziologen in zwei gegensätzlichen Manifesten zu Wort; geschart um die beiden alten Kontrahenten Alain Touraine und Pierre Bourdieu. Aber welch ein Abstieg gegenüber den Debatten, die vor zwanzig und dreißig Jahren noch im Kontext des Marxismus geführt worden sind! Nicht daß die damaligen Inhalte heute noch wegweisend sein könnten; aber der Verlust jedes intellektuellen Niveaus in den Äußerungen zum Pariser Dezember macht deutlich, daß sich die ehemaligen Vordenker nur noch gewohnheitsmäßig zu Wort melden und ihr Denken die realen Widersprüche der Krisengesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts nicht mehr kritisch formulieren kann.
Der erste niveaulose Appell wurde im Umkreis der linkskatholischen Zeitschrift Ésprit formuliert und von Touraine unterzeichnet, der als spiritus rector dieser Intervention gilt. Der Inhalt läßt sich auf eine schlichte Zustimmung zu den antisozialen »Reformen« der Regierung Juppé reduzieren, deren »Notwendigkeit« betont wird. Damit haben sich zum ersten Mal in Frankreich führende Wissenschaftler, die (im weitesten Sinne) zu den »Linksintellektuellen« gerechnet werden, offen gegen eine soziale Massenaktion und an die Seite einer konservativen Regierung gestellt; eine faule Frucht des »Realismus«, die seit langem zu erwarten war und bis dahin mangels großer Sozialkämpfe nur keine Gelegenheit gehabt hatte, ihre Reife zu zeigen (es paßt übrigens ins Bild, daß der grüne deutsch-französische Taschenplauderer Cohn-Bendit in französischen Zeitungen ebenfalls die »Reform« von Juppé im Kern verteidigt haben soll).
Die Position von Touraine hat gleichzeitig eine eindeutig nationalistische Schlagseite insofern, als er sich um die »Konkurrenzfähigkeit Frankreichs« auf dem Weltmarkt Sorgen macht und fürchtet, der spezifische französische »Sozialkapitalismus«, insbesondere der öffentliche Sektor, könnte unfähig sein, sich dem objektiven Prozeß der Globalisierung anzupassen. Die Vokabel der »Anpassung« hat sich also bereits im ehemals kritischen Diskurs auch in Frankreich breitgemacht. Im Namen der (vermeintlichen) nationalen Konkurrenzfähigkeit auf den globalisierten Märkten dürfen die ohnehin schon seit langem immer kümmerlicher gewordenen sozialen Gratifikationen geopfert werden. Damit hat im Bewußtsein sogar vieler Linksintellektueller, die hemmungslos zur Marktwirtschaft übergelaufen sind, eine ideologische Verkehrung stattgefunden. Nicht die »Konkurrenzfähigkeit« soll der sozialen Reproduktionsfähigkeit dienen, sondern genau umgekehrt: Die soziale Reproduktion soll nur noch gelten, soweit sie der Konkurrenzfähigkeit dient.
Leute wie Touraine können sich die Frage gar nicht mehr stellen, was das System von Markt und Konkurrenz überhaupt noch für einen Sinn haben soll, wenn es für die Massen keine Gratifikationen mehr abwirft. Waren früher die Massen der Gott dieser Linken, so bekennen sie sich jetzt ganz unschuldig tuend zum Gott der »Verwertung des Werts«, jenem Monstrum der Moderne, das als verrückter Selbstzweck zur Staatsreligion der Demokratie geworden ist. Das einzige, was Touraine u. Co. am marktwirtschaftlichen Anpassungskurs der Regierung noch bemängeln, ist die sogenannte »Unsensibilität« von Juppé beim propagandistischen Verkauf seiner Maßnahmen an die französischen Massen. Diese Intellektuellen, die zu soziologischen »Fachberatern« einer restriktiven Politik mutiert sind, beginnen also, die marktwirtschaftliche Illusion zu teilen, daß Hundescheiße durch eine raffinierte Verpackung als Konfekt verkauft werden könnte. Gleichzeitig beweisen sie damit, daß sie zu »Akzeptanzforschern« herabgesunken sind und aufgehört haben, Theoretiker der Gesellschaft zu sein. Deswegen hieß dieser Appell wohl auch die »Expertenliste«.
Nicht besser sieht es freilich mit dem Gegenmanifest der Leute um Bourdieu aus. Dieser Appell schlug sich vorbehaltlos, das heißt aber auch unkritisch, auf die Seite der Streikenden. Die alte Anbetung der Massen wurde noch einmal zelebriert, aber ohne transzendierende Idee. Denn die Marktwirtschaft ist letzten Endes für die Bourdieu-Soziologen genauso »alternativlos« wie für die Touraine-Soziologen. Damit aber mußte sich der Solidaritäts-Appell von Bourdieu implizit gleichzeitig als Entsolidarisierungs-Appell erweisen. Blieb diese Entsolidarisierung nach innen stumm, so wurde sie dafür nach außen umso brutaler deutlich. »Sollen wir uns Hongkong anpassen?«, so fragte Bourdieu mehr demagogisch als theoretisch. Der kritische Verweis auf die Kinderarbeit in Hongkong und anderswo ist aber nur dann berechtigt, wenn er mit einer radikalen Kritik des marktwirtschaftlichen Systems verbunden werden kann; ohne diesen Zusammenhang verwandelt er sich in ein heuchlerisches Argument der Konkurrenz kapitalstarker gegen kapitalschwache Länder.
Tatsächlich ist der »jakobinische« Bourdieu-Appell sogar noch nationalistischer als der »pragmatische« Touraine-Appell. Er appelliert hauptsächlich an die nationale Tradition der Französischen Revolution, die im Sinne »sozialer Gleichheit« interpretiert wird – ein abgeschabter alter Hut. Sicherlich war auch schon der alte Sozialismus nationalökonomisch und nationalstaatlich beschränkt, ebenso wie die sogenannten antiimperialistischen Befreiungsbewegungen. Aber der frühere linksalternative Nationalismus war mit der (freilich historisch selber noch bürgerlich-warenförmigen) Idee einer sozial-ökonomischen Systemalternative verbunden. Zweifellos ist die Zeit dieser Art der (staatssozialistischen) Systemkritik abgelaufen. Aber wenn keine neue, andere, weitergehende Systemkritik entwickelt wird, dann bleibt von der linken Sozialkritik nur irgendeine Version des Sozialnationalismus übrig, und sie wird Teil der Rechten oder deren Wasserträger.
Die Berufung des Bourdieu-Appells auf »nationale Traditionen« erinnert fatal an die ideologische Entwicklung in Osteuropa und in Rußland, wo von der ehemaligen sozialistischen Staatsideologie und ihren politischen Erben auch nichts anderes zurückgeblieben ist als ein ordinärer und primitiver Nationalismus. Daran ändert sich auch nichts, wenn z.B. der Soziologe Edgar Morin, auch er einer von der alten Garde der französischen Linksintellektuellen, dem französischen Sozialnationalismus eine höhere Weihe als in anderen Ländern zubilligen möchte, weil in Frankreich der Nationalismus qua revolutionäre Tradition gleichzeitig moderner Universalismus und eine sogenannte »republikanische Identität« sei. Das ist alles nur Augenwischerei. Ideologisch handelt es sich bei einem derartigen Räsonnement sowieso schon immer bloß um die linke Anrufung der bürgerlichen Ideale gegen die bürgerliche Realität; jetzt aber, im Zeichen der unaufhaltsamen kapitalistischen Globalisierung, durch deren Prozeß die nationalökonomischen Fundamente wegbrechen, ist es der ideologische Selbstmord der Linken, die schon keine mehr ist.
Paradoxerweise hat Bourdieu gleichzeitig in einem Gespräch eine neue »Internationale von kritischen Intellektuellen und sozialen Bewegungen« als ein »vitales Bedürfnis« eingeklagt. Das klingt zwar gut; aber wenn dabei mit keinem Wort von einer neuen radikalen Kritik der Marktwirtschaft die Rede ist, bleibt diese Forderung hoffnungslos unglaubwürdig. Eine »Internationale« im Schatten des akzeptierten Marktes und auf der Basis von nationalen ökonomischen und politischen Institutionen wird es nicht mehr geben; und wie sollte eine schwächelnde, begriffslos gewordene Sozialkritik, die sich an »nationale Traditionen« klammert, eine transnationale Perspektive und Ausstrahlungskraft gewinnen? Eine Internationale von Sozialnationalisten wäre ein Widerspruch in sich.
Ist der Nationalismus Marke Touraine ein indirekter, der eine fiktive nationale (in Wirklichkeit bloß betriebswirtschaftliche) Konkurrenzfähigkeit in den globalisierten Strukturen ohne Rücksicht auf die Verlierer verficht, so ist der Nationalismus Marke Bourdieu sogar ein direkter, der im Namen des sozialen Status quo die (erst recht fiktive) nationale ökonomische Eigenständigkeit gegen die Globalisierung einklagt. Diese Intellektuellen haben wirklich keinerlei kritische Reflexion mehr zu bieten, sondern nur noch affirmative pseudotheoretische Reflexe auf die totale Marktwirtschaft. Ihr Denken verdoppelt lediglich die praktische Paralyse der Gewerkschaften in der Sphäre der Ideen. War der Pariser Mai das letzte Gefecht des alten Arbeiterbewegungs-Radikalismus, so war der Pariser Dezember das allerletzte Gefecht eines historischen Nachtrabs, der nicht einmal mehr ein eigenes Emblem besitzt. Tiefer können Theorie und Praxis der sozialen Bewegung nicht mehr sinken.

Die deutsche Version der sozialen Paralyse: ein »Bündnis für Arbeit«

Im Unterschied zu Frankreich können in Deutschland die Gewerkschaften gar nicht mehr im Sinne einer sozialen Bewegung kritisiert werden, weil sie den Charakter einer solchen längst verloren haben. Der sozialpatriotische Sündenfall der alten westlichen Arbeiterbewegung im Ersten Weltkrieg war zwar bereits ein gemeinsamer gewesen. Und natürlich ist diese Bezeichnung heute nur noch ironisch zu nehmen, weil die Kapitulation vor dem Krieg nicht subjektivem »Verrat« entsprang, sondern erstmals den bürgerlich immanenten, warenförmigen Charakter des »Klassenkampfs« ans Tageslicht der Geschichte brachte. Aber innerhalb dieser reduzierten, bereits nicht mehr ernsthaft systemkritisch interpretierbaren Konstellation behielten die Gewerkschaften in den westeuropäischen Ländern auch später noch ein soziales Bewegungsmoment, das die altsozialistische, zunehmend verblassende Systemkritik immer wieder (und zum letzten Mal im Pariser Mai) wie eine lästige Erinnerung aufblitzen ließ. In Deutschland dagegen waren die Gewerkschaften mit der nicht nur kampflosen, sondern auch peinlich anbiedernden Kapitulation vor dem Nationalsozialismus selbst im reduzierten Sinne als soziale Bewegung bereits historisch erledigt.
Daran änderte sich auch nach 1945 nichts mehr grundsätzlich. Zwar versuchten einige Gewerkschafter, die aus dem KZ und aus dem Exil zurückkamen, an den alten Bewegungs-Charakter der Gewerkschaften, an die Tradition sozialer Kämpfe und an die Zielsetzung einer gesellschaftlichen Transformation anzuknüpfen. Aber die Mehrheit der kleinen Kader, die durch die NS-Arbeitsfront hindurchgegangen waren, wußte mit dieser Tradition bereits nichts mehr anzufangen. Die sozialen Konflikte der BRD kamen nie über ein harmloses Schattenboxen hinaus. Insofern war die BRD von Anfang an »moderner« als Westeuropa; eine fortgeschrittene Modernität warenförmiger und sozial-etatistischer Integration, die sie durchaus vom Nationalsozialismus geerbt hatte (und die damit ihren destruktiven, im Kern barbarischen Charakter verriet). Während in Frankreich, Italien, Spanien und auch England die alten sozialen Milieus der kapitalistischen Klassen noch länger fortbestanden und die Nachhutgefechte des alten Klassenkampfs sich hinzogen, erreichte der Grad abstrakter Individualisierung in der BRD bereits das Maß der USA (wenn auch mit anderer Akzentsetzung), und zwar gerade durch die Vorbereitung der kurzen, aber tief einschneidenden nationalsozialistischen Ära. Zwar zerfielen die Gewerkschaften in der BRD nicht augenblicklich zusammen mit dem sozialen Milieu der alten Arbeiterbewegung, aber sie blieben nur als formale Hülle stehen, die im Massenbewußtsein keinen höheren Rang mehr als den einer Autoversicherung oder einer Sterbekasse einnahm.
Daß dieser Zustand als gelungene »Sozialpartnerschaft« und sogar als »Modell Deutschland« verkauft werden konnte, hatte seinen Grund einzig und allein im Aufstieg der BRD (neben Japan) zum großen Weltmarktgewinner und Exportweltmeister. Nur durch die riesigen Gewinne auf den Weltmärkten seit dem »Wirtschaftswunder« war es möglich, daß die als soziale Bewegung bereits in die Leichenstarre übergegangenen westdeutschen Gewerkschaften fast reibungslos als Tarifmaschine und sozialpolitische Instanz erfolgreich funktionieren konnten. Selbst ein Blinder hätte sehen müssen, daß diese Erfolge nicht auf sozialer Kampfkraft, sondern lediglich auf den nationalen Privilegien einer Gewinnerökonomie beruhten, also nicht verallgemeinerbar und somit auch kein »Modell« sein konnten. Umso größer mußte die Hilflosigkeit der deutschen Gewerkschaften werden, als seit den 80er Jahren die strukturelle Massenarbeitslosigkeit von Zyklus zu Zyklus immer größere Ausmaße annahm und die sozialen Gratifikationen Stein für Stein abgetragen wurden. Heute sind für die Ruinen des einst so stolzen deutschen Sozialstaats die Abrißbirnen aufgefahren, und die Gewerkschaft als gesellschaftliche Instanz zerfließt wie ein Schneemann an der Sonne.
In der strukturellen Dauerkrise des kapitalistischen Systems ist es nur folgerichtig, daß die in Westdeutschland längst vollzogene sozialökonomische Individualisierung auch an die institutionelle Oberfläche durchschlägt. Deswegen sind die deutschen Gewerkschaften nicht einmal mehr zu jenem schwachen Nachspiel des letzten Verlierergefechts fähig, das wir in Frankreich gesehen haben (und vielleicht in ganz Westeuropa in einigen Varianten noch öfter sehen werden). Obwohl die soziale Konstellation im eingemeindeten Ostdeutschland eine andere ist und dort unter der staatsbürokratischen Kruste auf paradoxe Weise das Milieu einer sozialen Kohärenz als eine Art Subkultur weiterexistierte, schlägt sich dieser Unterschied bis jetzt nicht sozial und institutionell nieder; stattdessen scheinen es die Ostdeutschen eilig zu haben, die westdeutsche abstrakte Individualisierung im Eiltempo nachzuholen und sich selbstkasteiend an den westdeutschen Kapitalismus anzupassen (daß der verlorenen sozialen Nestwärme einige sentimentale Tränen nachgeweint werden, hat den Prozeß der Anpassung in einem halben Jahrzehnt nicht im geringsten gestört).
Es wäre verfehlt, nach alten linksradikalen Mustern vor allem die Gewerkschaftsführung dafür verantwortlich zu machen, daß nicht einmal dem Schein nach eine Gegenwehr zu erkennen ist. Der Apparat würde zwar mit Sicherheit eine militante Bewegung der gewerkschaftlichen Basis nicht unterstützen, sondern sie abwürgen; in Deutschland noch eindeutiger und brutaler als einst im französischen Mai. Aber umgekehrt kann der Apparat natürlich erst recht nicht kämpferischer und aktivistischer sein als seine eigene Mitgliederbasis. Wer jahrzehntelang nichts als Schattenboxen gelernt hat, kann nicht plötzlich ernsthaft in den Ring steigen. Die Prügel kämen zuerst gar nicht vom institutionellen Gegner, sondern von der Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder selber, die sich in Deutschland nie auf einen verzweifelten Kraftakt wie im Pariser Dezember einlassen würden. Hierzulande heißt es in der Krise eindeutiger als sonst in der Welt (außer vielleicht in den USA): »Jeder für sich und Gott gegen alle«.
Dennoch ist die institutionelle Restmasse der deutschen Gewerkschaften gezwungen, im Interesse der eigenen raison d'être so etwas wie eine »Krisenpolitik« zu versuchen. Naturgemäß sieht diese noch viel schäbiger als in Frankreich aus. Führende Gewerkschaftsvertreter wie der IG Metall-Vize Walter Riester haben schon längst einen ideologischen Stellungswechsel vollzogen, wie er in Frankreich bis jetzt noch undenkbar wäre: »Ich bin zunehmend gezwungen, unternehmerisch mitzudenken – auch und vor allem im Interesse der Beschäftigten, sagt der Tarifexperte ... über die in Zeiten des Stellenabbaus wachsende Herausforderung an seine Organisation, oft auch für die Belegschaften unangenehme Entscheidungen mitzutragen« (Nürnberger Nachrichten, 27.12.95). Die auf den ersten Blick ziemlich krause Logik, »im Interesse« der Beschäftigten für dieselben »unangenehme Entscheidungen mitzutragen«, kann (abgesehen von dem penetrant-paternalistischen Beigeschmack) nur den Zweck haben, die marktwirtschaftliche »Anpassungspolitik« innerhalb der Gewerkschaften zu radikalisieren. Auf die Krise soll nicht mit einer Reformulierung der Gesellschaftskritik, sondern im Gegenteil mit einer Verschärfung des Akzeptanz-Masochismus reagiert werden. Genau das ist es, was Riester u. Co. letzten Endes unter »Modernisierung« verstehen, ganz ähnlich wie die sogenannten SPD-Modernisierer um den niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder oder den nordrhein-westfälischen Wirtschaftsminister Clement.
Diese Linie ist sicherlich in den Gewerkschaften nicht unumstritten; aber sie konnte einen Durchbruch erzielen, als der IG Metall-Vorsitzende Klaus Zwickel im Herbst 1995 auf dem Gewerkschaftstag der größten Einzelgewerkschaft der Welt die Delegierten mit einem undiskutierten und unabgesprochenen Konzept überrumpelte, das seither als »Bündnis für Arbeit« firmiert. Damit wurde nicht nur den »Modernisierern« und den institutionellen Eliten bis hin zur konservativ-neoliberalen Bundesregierung eine griffige Floskel oder Formel für die Ruhigstellungs-Propaganda geliefert, sondern auch eine dramatische Kehrtwende in der Gewerkschaftspolitik überhaupt vollzogen, die schon länger im Krisenkontext herangereift war.
Der entscheidende Punkt dabei ist, daß die Politik der Arbeitszeitverkürzung klammheimlich aufgegeben und begraben wird. So schnell wird man das nicht offiziell zugeben, aber faktisch ist es so. Daran ändert auch die jüngste Vereinbarung in der Stahlindustrie mit der Möglichkeit, die wöchentliche Arbeitszeit situationsbedingt auf 30 Stunden (ohne Lohnausgleich) herunterzufahren, nichts mehr; ebensowenig die sogenannte Altersteilzeit, die nur das Auslaufen der »unbezahlbar« gewordenen Frühverrentungs-Modelle flankieren soll und nicht mehr Teil einer allgemeinen Strategie der Arbeitszeitverkürzung ist. Das Ende dieser Strategie war schon länger abzusehen. Als die IG Metall und die IG Druck und Papier (heute: IG Medien) Ende der 70er Jahre die Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich als Forderung gegen die beginnende Massenarbeitslosigkeit aufstellten, taten sie das noch als Tarifmaschinen, deren Sprit von den Weltmarktgewinnen der BRD geliefert wurde. Soweit der Einstieg in die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich in den 80er Jahren gelang, geschah dies keineswegs als bloße Umverteilung zwischen Kapital und Arbeit innerhalb der BRD, sondern teils auf Kosten der Weltmarktverlierer, teils mit Hilfe des defizitgenährten Exportbooms in die USA während der Hochzeit der »Reaganomics«. Die Massenarbeitslosigkeit wurde dadurch nicht gestoppt, sie stieg vielmehr auch in dieser Zeit von Zyklus zu Zyklus an.
Als die Weltmarktposition der BRD zu bröckeln begann und der von der gewaltigen Sockelarbeitslosigkeit ausgehende soziale Druck den institutionellen Spielraum der Gewerkschaften immer mehr beschränkte, begann in den 90er Jahren eine allerdings ziemlich vage Diskussion über Arbeitszeitverkürzung auch ohne (bzw. ohne vollen) Lohnausgleich. Es gab sogar einige Modellversuche, z.B. bei Volkswagen (oder eben jetzt wieder marginal in der Stahlbranche). Aber diese Strategie hätte nur eine Perspektive, wenn sie mit dem Übergang zu autonomen Reproduktionsformen jenseits von Markt und Staat verbunden wäre, d.h. wenn die zusätzliche »disponible Zeit« nicht als leere »Freizeit«, sondern als Zeit für selbstbestimmte Tätigkeiten außerhalb der Ware-Geld-Beziehung genutzt werden könnte. Für eine solche Doppelstrategie fehlt aber nicht nur ein Konzept, es mangelt auch an der Bereitschaft, darüber nachzudenken. Innerhalb einer flächendeckenden marktwirtschaftlichen Reproduktion aber macht das Modell Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich weder ökonomisch noch sozial einen Sinn. Was die Krise angeht, so ist dieses Modell durch die Verminderung der Binnenkaufkraft von prozyklischer Wirkung. Während ein systemkritisches Programm der gesellschaftlichen Transformation dadurch dynamisiert werden könnte, muß das in der totalen Lohnarbeit verharrende Bewußtsein denselben prozyklischen Effekt rein negativ als Krisenverschärfung erleben. Für die Massen, die auf Geldeinkommen durch Lohnarbeit sowie auf den warenförmigen Konsum fixiert sind und am Tropf von Eigenheim- und Konsumkrediten hängen, ist dieses Modell nicht oder nur schwer akzeptierbar. Lediglich für Doppelverdiener könnte es eine gewisse Attraktivität gewinnen, in der Regel zu Lasten der Frauen, die durch Teilzeitarbeit in einem rein marktwirtschaftlich bestimmten Kontext wieder mehr auf »Kinder, Küche, Kirche« beschränkt werden. Die VW-Arbeiter wiederum nutzten ihre gewonnene disponible Zeit reichlich für handwerkliche Schwarzarbeit, was zu Klagen der Handwerkskammern im Raum Wolfsburg führte. Das Fehlen jeder Systemalternative und die totale Fixierung auf Markt und Lohnarbeit führen zwangsläufig dazu, daß für den Gedanken einer Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich kaum mehr als ein stilles Begräbnis übrigbleibt. Was dann noch so genannt wird, ist kein gesellschaftspolitisches Konzept mehr, sondern nur noch ganz gewöhnliche Kurzarbeit bei schlechten Auftragslagen.
Es ist bezeichnend, was das »Bündnis für Arbeit« an die Stelle der Arbeitszeitverkürzung als gesellschaftspolitische Perspektive gesetzt hat, nämlich außer dem Versprechen einer Zurückhaltung bei den kommenden Tarifrunden vor allem die Akzeptanz von »Einstiegslöhnen« unter Tarif für Langzeitarbeitslose und die Hinnahme von Kürzungen bei den Sozialleistungen. Das ist ein Dammbruch in mehrfacher Hinsicht. Für die Arbeitslosen ist es eine freche Zumutung: Teilzeitlohn bei Vollzeitarbeit. Statt zusätzlicher disponibler Zeit, die zumindest der Potenz nach für soziale, ökonomische und kulturelle Alternativen zur Lohnarbeit und für eine Kritik der Marktwirtschaft genutzt werden könnte, der »Einstieg« in die soziale Apartheid und in die marktwirtschaftliche Sklaverei bei Billiglohn, um für schwachsinnige oder gemeingefährliche Zwecke »voll« schuften zu »dürfen«. Kein Wunder, daß die neoliberale Wirtschaftspresse diesen »Schritt nach vorn« zu würdigen wußte, als das »Bündnis für Arbeit« unter der Schirmherrschaft von Kanzler Kohl abgesegnet wurde: »Man kann von den Gewerkschaften nicht erwarten, beim Abbau von Sozialleistungen oder Überstundenzulagen und bei niedrigen Einstiegslöhnen an der Spitze der Bewegung zu stehen. Mit ihrem Ja zu dem Bündnis-Papier erklären sie sich bereit, solche Eingriffe ohne Streiks, Massenproteste oder das bisher übliche Gekeife hinzunehmen. Allein damit hat die Kanzlerrunde einen wichtigen Beitrag zum sozialen Frieden in diesem Land geleistet« (Handelsblatt, 25.1.96).
Die Kritik aus den eigenen Reihen und von Seiten kleinerer Gewerkschaften soll offenbar in bewährter administrativer Manier abgewürgt werden; in ihrer starren bürokratischen Struktur mit de facto von oben eingesetzten hauptamtlichen Spitzenfunktionären kennen die Gewerkschaften ohnehin keinen wirklich offenen Prozeß der Meinungsbildung. Die IG Metall-Spitze um Zwickel und Riester erhält dabei kräftige Schützenhilfe seitens der schon traditionell »rechten« IG Chemie, die sich am frühesten zu einem weltmarkt-orientierten Sozialkartell von Kernbelegschaften gemausert hatte: »Der Vorsitzende der IG Chemie, Hubertus Schmoldt, hat davor gewarnt, den Vorschlag der IG Metall für ein Bündnis für Arbeit im eigenen Lager zu zerreden. In einem Gespräch mit dem Handelsblatt übte er scharfe Kritik an den skeptischen Äußerungen aus Gewerkschaftskreisen in den vergangenen Tagen... Dies sei nicht die Stunde der Bedenkenträger, die nicht bereit seien, traditionelle Gewerkschaftsstandpunkte wie den, daß Lohnsenkungen keine Arbeitsplätze bringen (!), zum Gegenstand von Gesprächen zu machen... Jeder, der im Vorfeld der Gespräche Hürden aufbaut, die später ohne Gesichtsverlust nicht mehr beseitigt werden können, riskiert französische Zustände in Deutschland (!)... Völlig unverständlich findet Schmoldt die Ablehnung von niedrigeren Einstelltarifen (!) durch die Gewerkschaft HBV. Auch wenn eine entsprechende Vereinbarung in der Chemie nicht zu massenhaften Neueinstellungen geführt habe (!), sei das Instrument doch genutzt worden. Ich bin froh über jeden Langzeitarbeitslosen, der so (!) in den Arbeitsmarkt integriert werden kann.« (Handelsblatt, 22.12.95).
Was in Zwickels »Bündnis für Arbeit« wirklich steckt, wird hier deutlich ausgesprochen: nämlich nicht weniger als eine geradezu absurde gewerkschaftliche Wende zum marktradikalen Neoliberalismus. Wirtschaftspolitisch ist es die Wende vom Keynesianismus zum Monetarismus, von der Nachfragepolitik (Deficit spending, Stärkung der Massenkaufkraft) zur Angebotspolitik (Kostensenkung, Abbau der Binnenkaufkraft, Exportorientierung). Das ist das Endstadium beim radikalen Abbau jeder systemkritischen Position: War die alte Arbeiterbewegung noch mit staatssozialistischen Vorstellungen einerseits und utopischen Überschußmomenten andererseits angetreten, so wurde diese Position in den westlichen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg schon zum Keynesianismus abgebaut, der sozusagen eine »schwache«, mit dem westlichen Kapitalismus kompatible Version des sozialen Staatsinterventionismus vertrat. Damit einher ging die »wissenschaftspolitische« Wende von der Marxschen Theorie zum platten Popper-Positivismus in Sozialdemokratie und Gewerkschaften (in der BRD eindeutiger und weitergehend als im übrigen Westeuropa). Jetzt ist die Zwickel-Seilschaft dabei, zusammen mit den SPD-»Modernisierern« auch noch den Keynesianismus über Bord zu werfen und damit den letzten Schritt hin zur Totalakzeptanz der puren Marktwirtschaft zu tun.
Was das bedeutet, läßt sich im Vergleich mit der Auseinandersetzung in Frankreich verdeutlichen. Die Zwickel-Initiative kommt der Position von Alain Touraine nahe, freilich mit dem Unterschied, daß es sich hier nicht um eine bloß publizistische Äußerung von Intellektuellen, sondern um eine institutionelle Wende handelt. Die Position von Bourdieu dagegen kann als eine noch-keynesianische verstanden werden. Das macht auch die Berufung auf die nationalökonomische Kohärenz aus. Denn schon Keynes war sehr deutlich bewußt, daß seine Theorie von staatlicher Regulation und Intervention nur auf dem Boden einer kohärenten nationalökonomischen Basis möglich sein konnte; er warnte daher sogar vor einer zu starken Ausdehnung des Weltmarkts. Keynesianismus, Nationalökonomie und Sozialnationalismus gehören logisch zusammen. Freilich ist auch der implizite sozialnationale Keynesianismus der Bourdieu-Richtung kein Reformkeynesianismus »für alle« mehr, sondern bloß noch ein defensiver Status-quo-Keynesianismus sozialnationaler Schadensbegrenzung, der keine Veränderungsperspektive mehr hat und die bereits Herausgefallenen nicht mehr integrieren kann.
Der gewerkschaftliche Übergang zur neoliberalen Angebotspolitik bedeutet aber weit mehr als die bloß ideologische Akzeptanz der Marktwirtschaft. Er beinhaltet vielmehr die Akzeptanz, daß alle soziale Reproduktion, die nicht »regulär« marktwirtschaftlich unter den neuen Bedingungen der Globalisierung rentabel »erwirtschaftet« werden kann, schlicht entfallen muß. Obwohl der Terminus »Bündnis für Arbeit« zumal in Deutschland stark nationalistische Untertöne hat (er erinnert fast zwangsläufig an die nationalsozialistische »Arbeitsfront« und »Volksgemeinschaft«), wie ja auch der französische Touraine-Appell nationalistisch unterlegt ist, so kündigt die darin enthaltene Preisgabe von Keynesianismus und Nachfragepolitik doch implizit die Geschäftsgrundlage des bisherigen Sozialnationalismus auf.
Der neue monetaristische, angebotspolitische Sozialnationalismus im Zeichen kapitalistischer Globalisierung ist eigentlich schon keiner mehr oder er ist eher ein Zweiklassen-Nationalismus. Nicht mehr nur die Verliererländer »draußen«, sondern auch die sozialen Verlierermassen »drinnen« sollen auf das Niveau einer marktwirtschaftlichen Hungerlohn-Realität heruntergedrückt werden. Das Einschwenken auf die Kostensenkungs- und Export-Ideologie läuft darauf hinaus, einen rein marktwirtschaftlichen und global konkurrenzfähigen Erste-Klasse-Salonwagen für minoritäre Kernbelegschaften und daran angehängt die Viehwaggons mit Billiglohn-Zwangsarbeit für die Verlierer auf die Reise schicken zu wollen. Mit dazu passender neoliberaler Frechheit beeilen sich die Zwickelisten, diese Horror-Perspektive als »Standortsicherung« und »Integration der Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt« zu verkaufen, während der bloße Gedanke an soziale Kämpfe selbst im beschränkten keynesianischen Sinne als angebliches Schreckensbild »französischer Zustände« denunziert wird.
Was für den Sozialabfall des kapitalistisch nicht mehr brauchbaren Menschenmaterials dann noch übrigbleibt, gibt Klaus Lang, persönlicher Referent des IGM-Chefs Zwickel, mit dem diskreten Charme des ultramodernen Sozialtechnikers zum besten, wenn er sich in einer Zwischenbilanz über das »Bündnis für Arbeit« in sozialdiplomatischen Verrenkungen übt: »Und bei der Arbeitslosenhilfe? Hier ist die geplante Absenkung der Bemessungsgrundlage für die individuelle Arbeitslosenhilfe von fünf auf drei Prozent zurückgenommen worden. Der Regierungsentwurf, der eine Absenkung um fünf Prozent vorsah, war längst vor der Bündnisinitiative beschlossen worden. Wo wäre ohne diese Initiative für die Regierungskoalition der öffentliche Druck entstanden, ihre Absicht nicht voll durchzuziehen? (!) Sicher auch kein berauschender Erfolg, aber ein kleiner Schritt...« (in: Frankfurter Rundschau, 14.2.96). Ein derartiger Hohn auf gewerkschaftliche Konfliktfähigkeit, der auch noch den Grad der Leistungskürzung für die Ärmsten als Meßlatte des »Erfolgs« anlegt, ist sogar in der deutschen Sozialgeschichte selten. Die Arbeitslosen werden einsehen müssen, daß sie wahrscheinlich bei der Caritas noch besser aufgehoben sind als bei den Gewerkschaften.
Daß die »Integration in den Arbeitsmarkt« (egal um welchen Preis) zum höchsten aller Ziele verklärt wird, als könnten sich die Menschen nichts Besseres mehr wünschen, das ist natürlich schon eine Spekulation mit dem erbärmlich gewordenen Massenbewußtsein. Sicherlich ist es auch eine Reaktion auf das tatsächliche Obsoletwerden des Keynesianismus. Denn die Politik des Deficit spending ist ja tatsächlich gescheitert, und ihre Gratifikationen waren ja auch nie mehr als der sozialnationalistische Bonus weniger kapitalistischer Kernländer. Insofern ist auch eine Position wie die von Bourdieu unhaltbar, der sich »contre la déstruction d'une civilisation« wendet und damit nichts als die keynesianische Zivilisation des Nachkriegs-»Sozialkapitalismus« meint. Diese keynesianische Zivilisation des Wohlfahrtsstaates und des »öffentlichen Dienstes« geht in allen ihren Hochburgen zu Ende, in Frankreich und Deutschland ebenso wie in Schweden. Das heißt aber nur, daß die Möglichkeiten einer sozial akzeptablen Wirtschaftspolitik innerhalb des Marktsystems überhaupt ausgeschöpft sind. Genau das aber wollen die Gewerkschaften mit ihrer angebots- und kostensenkungs-politischen Flucht nach vorn nicht wahrhaben.
Die Zwickel-Initiative überholt dabei sogar die programmatische Abrüstung der Gewerkschaften, die erst im Herbst 1996 auf dem DGB-Kongreß in Dresden mit einem bis zur Schamgrenze reduzierten Keynesianismus abgesegnet werden soll, der »auf die Formulierung in sich geschlossener Alternativkonzepte verzichtet« (so der 1994 gestorbene frühere DGB-Vorsitzende Meyer in seiner Absage an das DGB-Grundsatzprogramm von 1981). Im »Bündnis für Arbeit« ist aber nicht einmal mehr die Spur eines Schamkeynesianismus zu entdecken. Von jetzt an kann sich der DGB ein Programm und einen Kongreß überhaupt sparen (ein Beitrag zur Kostensenkung?).
Auf einem ganz anderen Blatt steht es freilich, ob die kapitalistischen Blütenträume der »Modernisierer« für eine Gewerkschaft drastisch reduzierter sozialer Repräsentanz auch aufgehen und ob der »Zwickel-Abschlag« (gewerkschaftlicher Volksmund) den Einstieg in ein minoritäres Globalisierungs-Kartell tatsächlich ermöglicht. In Wirklichkeit ist eine neoliberale Gewerkschaftspolitik ein Widerspruch in sich. Das Einschwenken auf die Linie von angebotspolitischer Kostensenkung bedeutet die endgültige Selbstaufgabe der Gewerkschaften, d.h. der mit der Preisgabe jeder Systemkritik bereits eingehandelte Legitimationsverlust wird nun auch praktisch und im großen Maßstab ratifiziert. Das suizidale Zwickel-Programm schützt auch die Kernbelegschaften nicht, sondern läuft auf eine allgemeine Senkung des Lohn- und Sozialniveaus hinaus. Denn es ist eine Illusion, daß die Preisgabe tariflicher Löhne und Arbeitsbedingungen auf ein soziales Segment eingegrenzt werden könnte. Die Akzeptanz von Einstiegslöhnen unter Tarif ist der Anfang vom Ende der Tariflöhne überhaupt.
Auch im betrieblichen Mikrobereich zeigt sich an konkreten Beispielen schon jetzt, daß das »Bündnis für Arbeit« von vornherein auf einem Sozialmasochismus der Kernbelegschaften selbst beruht: »Ein eigenes Bündnis für Arbeit praktiziert Mercedes-Benz jetzt gemeinsam mit dem Betriebsrat im neuen Motorenwerk von Bad Cannstatt. Die Fabrik der Zukunft für 800 Millionen Mark arbeitet mit modernster Technik rund um die Uhr, nach Bedarf auch samstags. Selbst die sogenannte Steinkühler-Pause von fünf Minuten je Arbeitsstunde wollen die 900 Beschäftigten opfern, wenn im September die Produktion anläuft. Außerdem unterwerfen sie sich einem neuen Lohnsystem und arbeiten in Gruppen nach genauen Vorgaben für Qualität und Produktivität« (Die Woche, 12.1.96). Die Hauptvokabeln für die neuen Kernbelegschaften werden nicht Komfort und Hochlohn sein, sondern »Opfer« und »Unterwerfung«, »Hochleistung« bis an die physischen und psychischen Grenzen, individuelles und gruppenmäßiges Aushandeln ohne Rücksicht auf Schwächere. Das »Privileg« individualisierter, »olympiareifer« Hochleistungs- und Hochgeschwindigkeits-Arbeiter wird darin bestehen, auf hohem Niveau erbarmungslos ausgequetscht zu werden, um mit 40 reif für die Psychiatrie oder für die Leichenhalle zu sein. Gewerkschaften sind dabei völlig überflüssig.
Abgesehen von den sozialen Standards und von der weiteren Existenzberechtigung der Gewerkschaften steht aber auch die Frage, ob Angebotspolitik und soziale Kostensenkung überhaupt als Systemrettungsprojekt durchgehen können (laßt euch kollektiv kreuzigen für die Erlösung der Marktwirtschaft). Ein Moment der Marxschen Krisentheorie, das auch von Rosa Luxemburg wieder aufgegriffen wurde, war ja bekanntlich die strukturelle Unterkonsumtion der Massen als Krisenfaktor des Kapitals selbst. Insbesondere seit der fordistischen Ära eines flächendeckenden Vollkapitalismus mit hochorganisierter Massenproduktion ist die Massenkaufkraft eine conditio sine qua non für eine gelingende Akkumulation des Kapitals. Wird die Massenkaufkraft durch Massenarbeitslosigkeit, Abbau der Sozialleistungen und Zurückfahren öffentlicher Dienste bzw. staatlicher Investitionen radikal abgeschmolzen, dann ist nicht nur die soziale Reproduktion, sondern auch die ökonomische Existenz- und Funktionsfähigkeit des Kapitalismus selber grundsätzlich in Frage gestellt. Durch die betriebswirtschaftliche Globalisierung wird dieses existentielle Problem nicht beseitigt, sondern nur selber globalisiert; auf dieser Ebene wird es mit verstärkter Wucht auf das Kapital zurückschlagen. Insofern ist der monetaristische Neoliberalismus schon mittelfristig ein Selbstmordprogramm der kapitalistischen Produktionsweise.
Genau dieses Problem bildete ja auch den Kern der Theorie von Keynes und den Hintergrund für die Nachfragepolitik des Deficit spending (ursprünglich unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise von 1929-33). Sicherlich war die keynesianische Theorie verkürzt, weil sie keine Krisentheorie der kapitalistischen Produktionsweise, sondern von vornherein bloß eine seichte Systemrettungs-Theorie war. Das gilt auch für den Linkskeynesianismus mit zuweilen verschämten Anleihen bei Marx, wie er etwa in der BRD durch die sogenannte Memorandum-Gruppe linker Professoren vertreten wurde und lange Zeit auch in die gewerkschaftliche Argumentation Eingang fand. Die mangelnde Massenkaufkraft wird hier in schönstem Positivismus als isoliertes Phänomen betrachtet, das »politischer Regulation« und staatlicher Intervention zugänglich sei. Letzten Endes wird an das Kapital appelliert, es möge doch Mitleid mit sich selbst haben und die Stärkung der Massenkaufkraft als Systemnotwendigkeit »politisch« anerkennen.
Bei Marx dagegen wird die mangelnde Massenkaufkraft nicht als isoliertes, tarif- oder staatspolitisch regulierbares Krisenphänomen, sondern als strukturelle, objektive innere Schranke des Kapitalverhältnisses analysiert. Es handelt sich auch nicht um eine bloß äußere Grenze der »Realisierung« des produzierten Mehrwerts auf dem Markt (wie es bei Rosa Luxemburg erscheint), sondern um eine mangelnde Produktion von ausreichendem Mehrwert selbst, die der Oberflächenerscheinung mangelnder Massenkaufkraft zugrunde liegt. Die Fetischform »Wert«, die sowohl von der VWL als auch von der Arbeiterbewegung positiv genommen wird, hat nichts mit der produzierten stofflichen Gütermenge zu tun, sondern allein mit der darin inkorporierten Masse abstrakter Arbeitsquanta auf der Höhe des jeweiligen Rentabilitätsstandards. Das Kapital tendiert durch die konkurrenzvermittelte Steigerung der Produktivität dazu, immer mehr stoffliche Produkte mit immer weniger Arbeit zu erzeugen, während sein eigentlicher Zweck gerade die Anhäufung von in Geld inkarnierten Arbeitsquanta ist. Es kommt also dazu, daß bei »zu hoher« (vom Standpunkt der Verwertung aus) Produktivität das bereits akkumulierte Kapital nicht mehr ausreichend rentabel reinvestiert werden kann (»Überakkumulation«). Der Rückgang der Massenkaufkraft und der Staatseinnahmen zeigt insofern nur den Rückgang der realen Wertproduktion an und ist an sich keinerlei äußerer, »politischer« Regulation zugänglich, sondern markiert die Systemgrenze selbst. Überakkumulation und Unterkonsumtion sind die beiden Seiten derselben Medaille.
Die Theorie der Überakkumulationskrise wurde schon innerhalb des Arbeiterbewegungs-Marxismus (etwa von Paul Mattick) gegen die verkürzte, isolierte Unterkonsumtions-Argumentation der Linkskeynesianer zu Recht ins Feld geführt. Freilich ließ Mattick zeitbedingt die Frage einer absoluten historischen Akkumulationsgrenze noch offen, wie er auch (ebenso zeitbedingt) die Frage der Systemaufhebung noch in den alten soziologischen Terms des Klassenkampfs formulierte. Tatsächlich konnte in der Vergangenheit die in den Krisen aufscheinende Systemgrenze immer wieder hinausgeschoben werden, indem neue Felder der Verwertung abstrakter Arbeit auf immer höherem Niveau erschlossen wurden; zuletzt bekanntlich im Nachkriegsboom des Wirtschaftswunders. Die keynesianische Illusion konnte sich halten, nicht weil der Keynesianismus funktionierte, sondern weil die Kapitalakkumulation von sich aus genügend reale Wertproduktion abwarf, um das Deficit spending füttern zu können (vgl. dazu den Artikel »Die Himmelfahrt des Geldes« in Krisis 16/17). Seitdem durch das Ende des Fordismus und durch die mikroelektronische Revolution die Krise der realen Wertproduktion auf neuer Stufenleiter zurückgekehrt und die Überakkumulation des Kapitals nicht mehr eine bloß zyklische, sondern strukturell geworden ist, hat sich auch die Unhaltbarkeit eines Programms für die äußere, »politische« Stützung der gesellschaftlichen Kaufkraft erwiesen. Gerade darin liegt ja das Scheitern des Keynesianismus in den kapitalistischen Kernländern selbst.
Die angebotspolitische Kehrtwende kann aber die Krise nur beschleunigen und verschärfen. Wie es scheint, werden nun die nicht mehr hinauszuschiebenden historischen Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise erreicht. Die Zwickel-Gewerkschaften haben sich offenbar entschlossen, lieber zusammen mit dem Kapitalismus aus Angst vor dem Tod Selbstmord zu begehen als eine neue, andere Systemalternative zu entwickeln und soziale Gegenwehr zu leisten. Die Politik der »radikalen Anpassung« ist naiv, weil es sich nur um die Anpassung an den Untergang des Systems der Lohnarbeit selber handeln kann. Dieser Untergang wird auch dann ratifiziert, wenn ihn die gesellschaftlichen Institutionen nicht wahrhaben wollen. Daß es im Selbstlauf der Krise nur die Kräfte der Barbarei, des Terrors und des Wahnsinns sein können, die das Urteil des Systems über sich selber vollstrecken, versteht sich von selbst.

Kann es eine Praxis radikaler Sozial- und Gesellschaftskritik jenseits des alten Klassenkampfs geben?

Die Gefährlichkeit der Entwicklung wird vielleicht von Teilen der Gewerkschaften ebenso gesehen wie von den Resten der demoralisierten Linken. Aber diese Gefahr wird weiterhin nur in den Kategorien der alten, obsolet gewordenen Systemkritik abgebildet, deren »starke« Version der Staatssozialismus nachholender Modernisierung und deren »schwache« Version der westliche Linkskeynesianismus mit einigen marxistischen Schwanzfedern war. Es gibt eine erschreckende Unfähigkeit der alten Systemkritik, sich selber zu transzendieren und den eigenen Anteil an der untergehenden bürgerlichen Welt der Moderne aufzuarbeiten. Die Erkenntnis, daß der »Bourgeois« in der gesellschaftlichen, totalisierten Warenform selber steckt und nicht auf eine soziale Klasse beschränkt werden kann, wird nach wie vor grundsätzlich verweigert. Sowohl in den Gewerkschaften als auch im Spektrum der politischen Restlinken wird die immer matter ausfallende Kritik am Neoliberalismus und an der zunehmend darauf einschwenkenden Anpassungspolitik von Gewerkschaften, Sozialdemokratie und Grünen mit hoffnungsloser Begriffsstutzigkeit von der alten »klassenkämpferischen« Position aus formuliert, deren historische Implikationen grundsätzlich ausgeblendet bleiben.
Die bei den Grünen bekannte Ausdifferenzierung in »Realos« (kapitalistische Modernisierer) und »Fundis« (altklassenkämpferische Steinzeitmarxisten) wiederholt sich in verschiedenen Konstellationen auch bei den Gewerkschaften und in den sozialdemokratischen und (ex)kommunistischen Parteien; nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, Italien und anderswo. In der IG Metall gibt es immer noch einen sogenannten traditionalistischen Flügel mit Reminiszenzen an die alte Arbeiterbewegung (und gegen allzu starke »Klassenversöhnung« gerichtet), der aber schon seit den Zeiten des wegen Korruption zum Rücktritt gezwungenen Vorsitzenden Steinkühler aufgerieben und zur Bedeutungslosigkeit verdammt worden ist. Ähnlich verhält es sich mit der sogenannten Stamokap-Fraktion in der SPD (vor allem bei den Jungsozialisten). In der PDS ist es die kleine »kommunistische Plattform«, die den kapitalistischen Anpassungskurs der Parteispitze mit verschimmelten DDR-Phrasen zu konterkarieren sucht (dazwischen gibt es noch, wenn dieser Begriff aus der Geschichte der Arbeiterparteien erlaubt ist, eine Art »zentristische« Gruppe, die sich »Marxistisches Forum« nennt). In Frankreich, Italien, Portugal, Spanien etc. sind die altklassenkämpferischen, altmarxistischen Spaltprodukte – der westeuropäischen Entwicklung in der Nachkriegsgeschichte entsprechend – zwar größer als in Deutschland, aber ebenso in der Rolle eines traditionalistischen Nachtrabs. Auch die brasilianische Linkspartei PT hat in den letzten Jahren eine einschlägige Fraktionierung durchgemacht, und auch hier ist der Altmarxismus auf der Verliererstraße.
So durfte es nicht verwundern, daß der Pariser Dezember von der absaufenden altklassenkämpferischen Linken nicht kritisch analysiert, sondern die Nachricht bloß als Strohhalm ergriffen wurde. Man hoffte auf Fortsetzung des Altvertrauten und Immergleichen durch die französischen Ereignisse. Dieser Johannistrieb des Klassenkampfs mußte als Vorschein vermeintlicher neuer Potenz herhalten oder wenigstens als alterstrotzige Erinnerung an vergangene Tatenkraft imaginiert werden, damit man sich weiterhin um die Ratifizierung des Epochenbruchs und den unausweichlichen Paradigmenwechsel radikaler Gesellschaftskritik herumdrücken kann. Den Altmandarinen des klassenkämpferischen Linksradikalismus fiel daher zum Pariser Dezember nichts als blanke Selbstbestätigung ein: »In diesen Dezembertagen in Paris wird offenbar, daß es den Ideologen des Kapitals, die den Klassenkampf feierlich für erledigt erklärt haben, ergeht wie der katholischen Kirche mit ihrem Versuch, den Geschlechtstrieb abzuschaffen. Trotz religiöser Soziallehre, trotz einer einst im Mai in Paris aufgebrochenen Bürgerjugend, die so gerne egalitär-gerecht und trotzdem oben wäre, trotz allen Revisionisten: Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung bricht immer wieder auf« (Hermann L. Gremliza, Konkret 1/96).
Ist ja gut, ist ja rührend. Dennoch wird hier etwas verwechselt, was zu verwechseln in den Zeiten der Arbeiterbewegung unvermeidlich und sogar vorwärtstreibend war, jetzt aber sträflich geworden ist. Ich meine damit das Verhältnis des unbezweifelbar »immer wieder aufbrechenden« Klassenkampfs (dessen freilich ebenso unbezweifelbar stetig zunehmendes Schwächeln bei gleichzeitig zunehmenden sozialen Krisen erklärungsbedürftig ist) zur Frage der Systemalternative. Für den alten Marxismus, seine Mandarine und Mitläufer, war und ist der »Klassenkampf« der Zentralbegriff von Gesellschaftskritik und Systemtranszendenz. Deshalb sehen die Unverdrossenen in jeder Kritik des Klassenkampfs die Option der katholischen Soziallehre durchschimmern, die kleinbürgerliche Klassenversöhnung, die Abkehr von der radikalen Gesellschaftskritik usw. Daß und warum dieser ganze Begriffsapparat heute so verdammt altertümlich klingt, auf dieses Problem will man sich nicht einlassen, obwohl es ganz offensichtlich keineswegs bloß zeitgeistkonjunktureller Natur ist.
Es ist für den verstockten alten Linksradikalismus einfach nicht nachvollziehbar, daß der Klassenkampf seinem Begriff nach in der bürgerlichen Formhülle verbleiben muß, und daß es gerade deswegen eine emanzipatorische Kritik des Klassenkampf-Paradigmas geben kann, die keineswegs bürgerlich und »versöhnlerisch« ist. Dabei handelt es sich um ein Problem, das sich auf der heutigen Höhe der kapitalistischen Entwicklung im Unterschied zu früher nicht mehr ignorieren läßt und ebenso »immer wieder aufbricht« wie der Klassenkampf selbst, diesen aber gleichzeitig immer blasser macht. Kapitalismus ist bekanntlich vermittels der kybernetischen Rückkoppelung des »Werts« bzw. seiner Erscheinungsform, des Geldes, als »Verwertung des Werts« eine Gesellschaft der totalisierten Warenform. Der alte Marxismus und Linksradikalismus hat sich ganz auf den Gegensatz der Funktionssubjekte innerhalb dieser Fetischform konzentriert. Der »Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung« wurde also, wie oben bei Gremliza, auf der Folie des Gegensatzes von »Kapital und Arbeit« im Sinne sozialer Klassen abgebildet. Die »gesellschaftliche Produktion« erschien analog zur »Arbeiterklasse« und die »private Aneignung« analog zur »Kapitalistenklasse«.
Damit aber wird das gesellschaftliche Fetischverhältnis soziologistisch verkürzt (miß)verstanden. Denn auch die »Ware Arbeitskraft« ist eine Ware, in deren Begriff die »Privatheit« enthalten ist. Das bedeutet nichts anderes, als daß auch die »Arbeiterklasse« in der Form des Geldlohns »privat aneignet«. Der bornierte alte Marxismus empört sich bei einer solchen Aussage sofort reflexartig, daß doch die einen nur die Reproduktionskosten ihres Lebens, die anderen dagegen die »Fülle des Reichtums« aneignen. Schon rein immanent ist diese Betrachtungsweise schief. Denn erstens eignet »das Kapital« (in der verkürzten Begrifflichkeit: die eine Seite der Funktionssubjekte) nicht subjektiv oder persönlich die Masse des abstrakten Reichtums an, sondern exekutiert und organisiert hauptsächlich dessen stetige Rückverwandlung in den absurden Selbstzweck der »Verwertung des Werts«. Und zweitens trägt auch die stoffliche Seite des privaten Reichtums der »Besserverdienenden« ebenso wie der »Superreichen« das Signum des subjektlosen kapitalistischen Selbstzwecks, d.h. dieser Reichtum der Reichen nimmt (zunehmend mit fortschreitender Entwicklung des Kapitals) die Züge des Schwachsinns und der Selbstdestruktion an, so daß er schon längst nicht mehr als das verallgemeinerungswürdige Ziel in seinem Sosein emanzipatorisch akzeptiert werden könnte.
Vor allem aber beweist der alte Marxismus mit seiner Betrachtungsweise der »privaten Aneignung« unfreiwillig, daß er nur den quantitativen Unterschied innerhalb der Warenform kennt, hinsichtlich des eigentlichen Charakters der Privatheit aber völlig im Dunkeln tappt und schlicht formblind ist. Wenn es nicht mehr allein um den quantitativen Unterschied der Aneignungsmasse geht, sondern um die Formqualität der Aneignung, dann wird sofort klar, daß der kapitalistische Grundwiderspruch von gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung nicht identisch ist mit dem Klassengegensatz der Funktionssubjekte innerhalb der Warenform. Vielmehr ist es der Widerspruch von gesellschaftlichem Inhalt der stofflichen Produktion und privater Form der gesellschaftlichen Subjekte bzw. ihrer Aneignungsweise insgesamt (unter Einschluß der »Arbeiterklasse«), der das Kapitalverhältnis kennzeichnet. Somit kann der Klassenkampf nur die immanente Formbewegung des Kapitalverhältnisses sein, nicht aber die Bewegung zur Aufhebung des Kapitalverhältnisses.
Marx konnte diese beiden Ebenen sozialer Emanzipationsbewegung noch kurzschlüssig in eins setzen (obwohl dies von Anfang an begrifflich verschwommen blieb), weil die relative Emanzipation innerhalb von Warenform und Lohnarbeit noch einen geschichtlichen Horizont vor sich hatte. Jetzt ist das Kapitalverhältnis völlig ausentwickelt bis an seine äußerste Grenze und wir haben es deswegen mit der Krise des gemeinsamen Bezugssystems von »Kapital und Arbeit« zu tun. Erst wenn man das begriffen hat, wird verständlich, warum die neue sozialökonomische Krise zusammenfällt mit der Paralyse des alten Klassenkampfs. Es geht also nicht um die »kleinbürgerliche Klassenversöhnung« innerhalb und auf dem Boden der (gemeinsamen) totalen Warenform, sondern um die Kritik und Aufhebung dieser gemeinsamen historisch-gesellschaftlichen Fetischform selber. Denn jetzt wird unausweichlich deutlich, daß alle Erscheinungen der sozialen Degradation, der Armut und Unterdrückung primär dieser Form der totalen Ware-Geld-Beziehung als solcher und nicht der bloßen Subjektivität ihrer selber bornierten Funktionsträger entstammen.
Wenn wir im Lichte dieser Einsicht die Entwicklung der sozialen Bewegungen (einschließlich der Gewerkschaften) seit dem Pariser Mai 68 noch einmal Revue passieren lassen, dann erweisen sich die zunehmende Schwäche der letzten und hinterletzten Gefechte des Klassenkampfs und der Verfall des (alten) kritischen Bewußtseins als Indizien für die Annäherung an die historische Systemgrenze. Das ignorierte, mißverstandene oder kulturalistisch verkürzte Programm der Situationisten gegen den Warenfetischismus, das selber noch in den Terms des Klassenkampfs formuliert wurde, aber inhaltlich bereits darüber hinausging, kann als eine historische Scharnierstelle verstanden werden. Es ist heute nicht mehr möglich, unmittelbar daran anzuknüpfen; aber es gilt, unter Einbeziehung einer Kritik und historischen Bewertung dieser damals radikalsten Theorie zu einer neuen, transformatorischen Formkritik der warenproduzierenden Moderne zu gelangen. Solange der Klassenkampfbegriff nur in irgendwelchen weich gewordenen Versionen weitergeschleppt wird, köchelt die etatistische Orientierung als Grundmißverständnis des gesamten alten »Sozialismus« in den lernunfähigen Verliererfraktionen der Gewerkschaften, der Sozialdemokratie, der Kommunisten und der Grünen weiter; und auch in den Köpfen der Gremliza, Trampert/Ebermann usw. dürfte man selbst bei Tiefenbohrungen nichts anderes finden. Bei den historischen Vorbildern, also den ehemaligen oder noch amtierenden Regimes nachholender bürgerlicher Modernisierung, wird diese Perspektive immer finsterer. Nach Jurij Masljukow, seines Zeichens Vorsitzender der russischen Duma für Wirtschaftsfragen und KP-Funktionär, kann »der Staat Wirtschaftsbetriebe durchaus effektiv führen«: »Rußlands Kommunistische Partei fordert Änderungen in der Privatisierungspolitik, den stärkeren Schutz des Binnenmarktes und staatliche Kontrolle über die Ressourcen des Landes« (Handelsblatt, 15.3.96).
Die merkantilistischen Uraltrezepte der marktwirtschaftlichen Vorzeit werden immer wieder aufgewärmt, jetzt aber im Kontext einer offen kapitalistischen Orientierung und deren von jeder marktkritischen Phraseologie gereinigten nationalistischen Flankierung. In der VR China ist der Staatssozialismus nachholender Modernisierung bereits zu einem barbarischen Regime mutiert, das eine allgemeine blutige Zuchthausverwaltung mit einer radikal neoliberalen Entfesselung des Marktes verbindet und sich bösartigerweise immer noch »sozialistisch« nennt. Kuba, das Land der karibischen Lieblingsrevolution des alten Linksradikalismus, will nach den Worten seines Wirtschaftsministers José Rodríguez ebenfalls in diese Fußstapfen treten: »Es geht uns um Effizienz und um noch mehr Effizienz... Wir haben uns natürlich das Ende der sozialistischen Systeme in Osteuropa, aber auch die Krisen in Lateinamerika angesehen. Wir meinen, daß wir einen Mittelweg einschlagen müssen: mehr oder weniger wie China« (Wirtschaftswoche 11/96).
Einige Reste der westlichen Altlinksradikalen setzen ihren kubanischen Revolutionstourismus und ihre unreflektierte Kuba-Solidarität immer noch fort, als wäre nichts gewesen; sie können sich damit nur noch blamieren. Es ist sicher immer noch richtig, gegen die Embargo-Politik der USA einzutreten, aber das hat nichts mehr mit der Verteidigung einer historischen Alternative zu tun. Die Verweigerungshaltung der Altlinksradikalen gegenüber dem Ansinnen, den Charakter all dieser Regimes ebenso wie die eigene Orientierung daran theoretisch aufzuarbeiten und historisch neu zu bewerten, diskreditiert alles, was sie noch an verschwommener Kapitalismuskritik absondern. Nicht besser steht es mit den linksreformerischen Strömungen mehr oder weniger akademischer Provenienz (die in der BRD etwa durch Zeitschriften wie Prokla, Argument, links etc. repräsentiert werden). Diese versuchen sich zwar stärker von der alten »Klassenmetaphysik« und vom alten Linksetatismus zu entfernen, aber nur, um dieselbe Befangenheit in der modernen bürgerlichen Form und ihren Funktionskategorien mit einer lediglich etwas anderen Akzentsetzung zu reproduzieren.
An die Stelle einer formkritischen Transformation des Klassenbegriffs soll eine »Klassentheorie auf der Höhe der Zeit« (links Nr. 310/11, März/April 96) treten, die von jeder ökonomiekritischen Fundierung abgelöst und rein demokratisch-politizistisch legitimiert ist, um sich auf die »politisch-kulturelle Produktion von Sozialstruktur« (Heinz Steinert) weitab vom Schuß der radikalen Markt- und Wertformkritik zu kaprizieren. Je mehr diese Art der Restlinken scheinbar die Kritik der politischen Ökonomie einklagt, desto weniger löst sie selber diese Forderung ein und desto politizistischer und soziologistischer wird sie; und zwar deswegen, weil sie sich vor der radikalen Formkritik ebenso fürchtet wie der vorsintflutliche etatistische Linksradikalismus. Bezeichnend dafür ist das Untersuchungsprogramm »Klassen 96«, das die ganze theoretische und praktische Misere auf den Punkt bringt: »Antagonistische Interessenlagen und Strukturzwänge kapitalistischer Reproduktion beherrschen das politische Alltagsgeschäft. Damit wird auch die Botschaft vom Ende der Klassengesellschaft als das erkennbar, was sie immer schon war: eine voreilige Verallgemeinerung, die an der Oberfläche des Geschehens bleibt... Daß Strukturprinzipien des Kapitalismus so deutlich zu Tage treten, ist keiner wie immer gearteten (!) Logik des Kapitals geschuldet. Vielmehr ist es vor allem auch (!) Resultat einer politischen Strategie, nämlich der neoliberalen Zerschlagung institutioneller Regulierungsformen, durch die der Klassenkompromiß bislang abgesichert wurde« (links, a.a.O.).
Pejorativ wird hier einerseits die Theorie und Kritik der basalen Logik des Kapitals ausgeblendet bzw. in die Nebensätze verbannt. Gleichzeitig soll andererseits die gegenwärtige Krise und soziale Degradation nicht einer historischen Entwicklung und dem Erreichen einer historischen Grenze dieser basalen Logik selber entspringen, sondern unhistorisch sollen es nur die »immer schon« außerhalb jeder strukturellen Entwicklung gesetzten »Strukturprinzipien des Kapitalismus« sein, die aufgrund einer rein »politischen Strategie« des Neoliberalismus nun wieder einmal deutlicher hervortreten. Kapitalistische Geschichte findet also nicht wesentlich strukturell und sozialökonomisch, sondern lediglich in politischen, soziokulturellen und ideologischen Wechsellagen vor dem Hintergrund von geschichtslosen »Strukturprinzipien« statt, die fast schon ontologisch gesehen und daher auch nicht einer konkreten Radikalkritik unterzogen werden. Glaubt der Oberlehrer- und Sozialarbeiter-Sozialismus allen Ernstes, es könnte unter den Bedingungen der mikroelektronischen Revolution und des Kapitals als Weltverhältnis nach der fordistischen Krise eine neue »institutionelle Regulierungsform des Klassenkompromisses« geben, die überhaupt nur nationalstaatlich und nationalökonomisch zu denken ist?
Zwar formuliert Joachim Hirsch, einer der Protagonisten dieses Milieus restlinker Theorie, durchaus eine Art kulturrevolutionäres und lebensweltlich bestimmtes Kritikprogramm, das mit Walter Benjamin darauf hinauslaufen soll, »dieser Maschinerie in die Räder zu greifen, sie anzuhalten, Schluß zu machen, aufzuhören mit dem alltagspraktischen Mitmachen – und sei es noch so kritisch reflektiert. Es gilt, sich von der alten sozialistischen Vorstellung eines besseren Industriekapitalismus zu verabschieden und zu realisieren, daß Befreiung weder eine bestimmte andere Gesellschaft noch die wie immer geartete Modernisierung der bestehenden Verhältnisse, sondern nur die Schaffung der Bedingungen heißen kann, die es möglich machen, das eigene gesellschaftliche Leben frei zu gestalten« (links, a.a.O.). Das klingt gut und vielversprechend, und es könnte der Ansatz für eine weitreichende solidarische Diskussion zur Erneuerung der radikalen Gesellschaftskritik sein. Leider bleibt diese Programmformulierung jedoch bei näherem Zusehen formationskritisch völlig leer bzw. die Formationskritik bezieht sich (der sogenannten Regulationstheorie folgend) lediglich auf die jeweilige Form der »politischen Regulation«, die womöglich durch eine andere abgelöst werden soll, ohne daß auch nur ein Ankratzen der totalisierten Warenform als Thema erkennbar wäre.
Damit verfällt auch Hirsch der ausweglosen Alternative zwischen Skylla und Charybdis, zwischen Markt und Staat. Im modernen warenproduzierenden System kann die repressive Form des Staates immer nur durch die Freiheit des Marktes konterkariert werden, die aber nur die Freiheit des Geldes und niemals die »freie Gestaltung des eigenen gesellschaftlichen Lebens« ist. Der zynische Freiheitsbegriff des Liberalismus verweist also die Menschen darauf, sich als Konkurrenzmonaden selbständig zu machen, betriebswirtschaftlich bzw. individualberuflich zu reüssieren usw. und dabei immer unter dem Joch des Geldes durchzukriechen. Eine solidarische Gesellschaft frei vereinbarter Produktions- und Lebensverhältnisse ist als Gesellschaft von Warenproduzenten per definitionem unmöglich. Soziale Emanzipation kann nur noch Freiheit von der Marktwirtschaft sein. Indem Hirsch diesen formkritischen Kern sozialer Emanzipation heute nicht denken will, bleibt seine Kritik des »alltagspraktischen Mitmachens« hohl. Jeder, der »sein Geld verdient«, muß immer schon alltagspraktisch mitmachen, und dieses Mitmachen endet genau dort, wo das Geldverdienen aufhört. Da er diese Grenze nicht markiert, landet Hirsch bei den alten Formeln der »Politik«, unter Verdrängung der Tatsache, daß dies per se eine etatistische Orientierung ist. Denn jede Politik ist ihrem Begriff nach immer schon staatsbezogen.
Selbst wenn man zugesteht, daß es so etwas wie eine Transformationsperiode geben muß, in der sich ein neuer Ansatz von nicht-warenförmiger Selbstorganisation mit den weiterexistierenden Momenten warenförmiger Reproduktion, Konflikten um Geld und damit auch der sogenannten Politik (kritisch) vermitteln muß, so gilt es doch erst einmal, überhaupt einen solchen neuen Ansatz sozialer Emanzipation zu formulieren, auf die Beine zu stellen und explizit in seiner anti-ökonomischen und anti-politischen Eigenqualität deutlich zu machen, statt die Frage der radikalen Kritik und der Emanzipation im unverbindlichen metaphorischen Bereich zu belassen und ansonsten in den alten Real- und Begriffskategorien von Markt und Politik weiterzudenken und weiterzuagieren.
Auch wenn also jede wirkliche soziale Bewegung, auch die radikalste, und damit auch eine völlig neue Bewegung über die totalisierte Warenform hinaus in irgendeiner Form etwas Ähnliches wie eine »Dialektik von Reform und Revolution« entwickeln muß, freilich mit einer ganz anderen, jetzt erstmals das bürgerliche Universum der Moderne verlassenden Zielsetzung, so bedarf es doch zunächst des neuen radikalkritischen Ziels und eines entsprechenden konfliktträchtigen Impetus, bevor man das reformerische Moment daran benennen kann (wenn dieser Begriff überhaupt noch zutreffend ist). Das bedeutet als unabdingbaren kategorischen Imperativ hier und heute die (auch emotionale) Verweigerung des kapitalistischen Leistungs- und Erfolgswahns, die historische »Arbeitsverweigerung« (und darin eingeschlossen die Kritik eines Leistungs- und Arbeitsquanten-Sozialismus, dessen Idee heute hinter den Stand der Produktivkräfte zurückfällt). Es gilt überhaupt (vielleicht ebenso wie die Situationisten auch Herbert Marcuse kritisch historisierend), eine Kultur der Verweigerung zu entwickeln; und soweit z.B. Joachim Hirsch ähnliches formuliert, ist ihm zuzustimmen, freilich auch die von ihm (bisher) nicht gezogene ökonomie- und politikkritische Konsequenz zu ziehen.
Es kann nicht ausbleiben, daß das neue historische Ziel einer Aufhebung von »Arbeit«, Warenform, Geld, Markt und Staat auf die dumpfe Ablehnung des gesamten herrschenden Bewußtseins stoßen muß; bei den protestantischen Arbeitsfetischisten jeglicher Couleur sowieso aus prinzipiellen Gründen, bei den Scheinpragmatikern aus Gründen der angeblichen Unrealisierbarkeit. Gerade weil aber der Kampf um einen »gerechten Lohn für ein gerechtes Tagewerk« keinerlei historische Entwicklungsperspektive mehr hat, steht jetzt endlich die historische Konkretisierung der Marxschen Gegenparole auf der Tagesordnung: »Nieder mit der Lohnarbeit!«. Das System der »Arbeitsplätze«, d.h. der Verwandlung von »Arbeit« in Geld ist grundsätzlich anzugreifen, statt zu der steinerweichenden Elendsdebatte um die »Schaffung von Arbeitsplätzen« ein jämmerliches Konzept-Scherflein beizutragen.
Diese Perspektive bedeutet keineswegs, das Terrain der »immer wieder aufbrechenden« immanenten (warenförmigen) Interessengegensätze kampflos preiszugeben. Aus diesem bürgerlichen, kapitalistisch formbestimmten Gegensatz kann aber eben kein transformatorisches Ziel, kein Programm einer anderen Produktions- und Lebensweise mehr entwickelt werden. Der Kampf um Geld, Lohn, Sozialstaat etc. ist also ein historisches Auslaufmodell, das aber als solches auch besetzt werden muß. Es steht nicht mehr für sich, sondern ist als flankierendes, taktisches Moment für ein ganz anderes Ziel und Programm zu verstehen, d.h. für eine nicht-warenförmige Reproduktion jenseits von Markt und Staat. Der hoffnungslose Abstieg der Gewerkschaften in den vergangenen Jahren zeigt uns, daß der bloß systemkonforme Konflikt nur noch in die Selbstaufgabe münden kann, weil es Ziel und Strategie nicht mehr gibt, eine »Taktik« für sich allein ohne strategisch-systemkritischen Bezug aber nicht möglich ist. Indem zusammen mit einer neuen Zielbestimmung radikaler Gesellschaftskritik auch wieder ein strategischer Bezug sozialer Bewegung möglich wird, kann überhaupt erst der (flankierende) warenförmig-immanente soziale Interessenkampf erneute Durchschlagskraft gewinnen.
Erst Menschen, die sich ein Ziel jenseits der Lohnarbeit gesetzt und darin lebensweltliche Möglichkeiten gefunden haben, können auch mit härteren Bandagen soziale Gratifikationen in der alten Form einfordern (etwa nach dem Motto: »Euer Weltmarkt ist uns scheißegal«). Der entscheidende Unterschied zum alten Klassenkampf wäre, daß die warenförmig immanente Auseinandersetzung nicht mehr formspezifisch mit dem Ziel sozialer Emanzipation zusammengeschlosen ist, sondern der Bruch mit der bürgerlichen Form der Moderne in den Zielsetzungen selbst erscheint.
Die sozialen Akteure in diesem Kontext können kein »Klassensubjekt« mehr sein, überhaupt kein apriorisch konstituiertes und damit warenförmiges Subjekt, sondern nur eine sich selbst konstituierende soziale Emanzipationsbewegung. Eine solche Bewegung wird nicht mehr die Form einer politischen Partei annehmen, sondern die eines Verbundsystems sozialer Initiativen auf verschiedenen Ebenen, deren gemeinsamer Nenner nicht nur die Gesellschaftskritik an Markt und Staat, sondern auch jeweils ein praktisches, lebensweltliches Moment der Entkoppelung von Markt, Geld und Staat ist: für das gegenwärtige Normalbewußtsein nur deswegen auf Anhieb so schwer vorstellbar, weil alle Kompetenzen der sozialen Kooperation und der Reproduktion des Lebens (mit Ausnahme der »abgespaltenen« weiblichen Tätigkeitsbereiche) auf Kapital und Staat übergegangen sind. Es sind weniger technische oder ökonomische Realisationsprobleme, die sich dem Gedanken einer Entkoppelung von Lebens- und Reproduktionsbereichen heute entgegenstellen, als vielmehr die verinnerlichte Warenform des Subjekts.
Gelingt es, die Perspektive einer Entkoppelungsbewegung von Markt und Staat in erreichbaren Teilbereichen sozialer Reproduktion gesellschaftlich zu entwickeln, dann gewinnt auch die Frage der Arbeitszeitverkürzung auf dem Boden der Warenform eine neue Plausibilität. Auch ohne Lohnausgleich enthält ja die Arbeitszeitverkürzung oder Teilzeitarbeit ein Moment der Gratifikation (im krassen Unterschied zum Billiglohn oder untertariflichen Lohn eines zweiten Arbeitsmarktes): nämlich einen Zugewinn an disponibler Zeit. Erscheint aber diese Gratifikation in einem flächendeckenden System der Abhängigkeit vom Geld als sinnlos, so kann sie bei einem gleichzeitigen Aufbau nicht-warenförmiger Elemente der sozialen Reproduktion durchaus attraktiv werden. Eine gewerkschaftliche Opposition hätte gerade in diesem Kontext (vermittelt mit einer neuen lebensweltlichen Orientierung) ihre Aufgabe statt in einer bloßen Anklammerung an die alte warenförmige Klassenkampf-Ideologie.
In der Geschichte seit 1968 (eigentlich schon seit dem Zweiten Weltkrieg) sind kritische Theorie der Gesellschaft, soziale Bewegungen und Gegenkultur immer weiter auseinandergefallen bis zur völligen Paralyse der Gesellschaftskritik, bei gleichzeitig zunehmender Reproduktionskrise der bürgerlichen Gesellschaft. Erst die Transformation und Reformulierung der Gesellschaftskritik jenseits des Warenfetischismus wird eine Reintegration und neue Durchschlagskraft möglich machen. Sicherlich kann diese Erneuerung der Kritik heute nicht unvermittelt an das gewerkschaftliche, warenförmig fixierte Massenbewußtsein herangetragen werden. Aber unter der Oberfläche der herrschenden Institutionen (Parteien, Gewerkschaften, Universitäten, Kirchen) könnte die Entfaltung eines Diskurses über das »Unmögliche« dennoch möglich sein. Zu viele müssen heute innerhalb der Apparate selber über die Klinge springen, als daß sich nicht Träger und Vermittler eines solchen Diskurses finden lassen sollten. Wir brauchen keine wehmütige Erinnerung an die absteigende Linie der letzten Gefechte des alten Klassenkampfs seit dem Pariser Mai mehr, wenn wir anfangen können, uns auf das erste Gefecht eines ganz anderen Mai vorzubereiten.



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