ZUR KERNPHYSIK DES BÜRGERLICHEN INDIVIDUUMS
von Ernst Lohoff
Wann immer Gesellschaftstheorie scheinbare Selbstverständlichkeiten zum Ausgangspunkt
nimmt und überhistorische, allen Gesellschaften gemeinsame Konstanten präsentiert,
ist Vorsicht und Mißtrauen angebracht. Hinter den beschworenen ontologischen
Grundtatsachen verbergen sich für gewöhnlich spezifisch bürgerliche Kategorien
und Verhältnisse. Dieser apologetische Zug setzt sich regelmäßig auch unabhängig
von den Intentionen der jeweiligen Theoretiker durch. Der verblichene Arbeiterbewegungsmarxismus
etwa verstand sich selber als radikale Kritik der bürgerlichen Gesellschaft.
Dennoch wurde die marxistische Doktrin als Durchsetzungsideologie der bürgerlichen
Form kenntlich und wirksam, so oft sie unabänderliche, alle Gesellschaftsformationen
übergreifende Wesenheiten bemühte. Das wird besonders am „Primat der Produktion“
deutlich, das die marxistische Gemeinde ihren Lebtag lang als ein Essential
des "wissenschaftlichen Sozialismus“ handelte.
Es ist ebenso trivial wie richtig, daß die Menschen, unter welchen gesellschaftlichen
Bedingungen auch immer sie leben mögen, vor allein anderen die Erzeugung ihrer
unmittelbaren Konsumtionsmittel sicherstellen müssen. Der Mensch ist eine durch
und durch bedürftige Kreatur, und er kann seine Bedürfnisse nur realisieren,
indem er sich die ihm umgebende stoffliche Wirklichkeit aneignet und sie ihm
gemäß umformt. In diesem durchaus banalen Sinn bildet die Reichtumsproduktion
unterschiedslos für alle Gesellschaftsformationen eine unhintergehbare Voraussetzung.
Hinter dem vom Arbeiterbewegungsmarxismus emphatisch besetzten "Primat der Produktion“
verbirgt sich aber etwas gänzlich anderes als die höchst prosaische Einsicht,
daß Menschen unter allen Umständen zunächst essen, trinken und wohnen müssen.
Die Marxisten sahen und sehen in der stofflichen Produktion nicht einfach einen
integralen Bestandteil der menschlichen Existenz, sie erheben das Produzieren
als Arbeit(1) vielmehr zur eigentlichen Kernbestimmung
des menschlichen Daseins. Der Marxismus faßte den homo sapiens als animal laborans.
Sowohl phylogenetisch als auch ontogentisch wird der Mensch nur als Produzent
überhaupt zum Menschen.
Diese sakrale Rolle der Produktion aber ist nichts weniger als eine überzeitliche,
von der „menschlichen Natur“ gesetzte Konstante. Was da vom Marxismus
hypostasiert wird, entpuppt sich bei näherem Zusehen als das auf die Spitze
getriebene protestantisch-kapitalistische Arbeitsethos. Das unbedingte "Primat
der Produktion“ verbindet die bürgerliche Epoche keineswegs mit allen
vorgängigen und künftigen Gesellschaftsformationen. Die Apotheose des Produzenten
zum eigentlichen gesellschaftlichen Menschen macht gerade das Besondere an der
entwickelten Warengesellschaft aus. Die kapitalistische Gesellschaft gesellt
sich daher keineswegs, wie die marxistische Weltsicht annimmt, zu den übrigen
historischen Typen von Produktionsgesellschaften; sie ist vielmehr in einem
durch und durch totalitären Sinne die Produktionsgesellschaft par excellence.
Jahrtausendelang war die Erzeugung von stofflichem Reichtum an die Erfüllung
ebenso klar wie eng umrissener konsumtiver Bedürfnisse gekoppelt. Erst unter
der Ägide des Kapitals verselbständigt sich die Produktion zu einer eigenständigen,
von anderen Lebensäußerungen systematisch abgegrenzten Sphäre, reißt sich gleichzeitig
von der Kette und avanciert zum zentralen Medium von Gesellschaftlichkeit. Für
die kapitalistische Gesellschaft läßt sich tatsächlich von einem „Primat
der Produktion“ sprechen. Diese Vorherrschaft ist jedoch gerade das Kritikable
an dieser Vergesellschaftungsform und macht deren (selbst)zerstörerische Potenz
aus.
Dieser Problemhorizont war dem im Produktionsfetischismus befangenen Marxismus
vollkommen fremd. Dementsprechend konnte er keinerlei Sensorium für die im Vormarsch
wertförmiger Vermittlung gleichzeitig erzeugten und zur Schattenwelt degradierten
Aspekte der gesellschaftlichen Wirklichkeit entwickeln. Im Gegenteil, der allzeit
affirmativ verstandene Bezug auf die Produktion als die Basis des gesellschaftlichen
Zusammenhangs war angetan, den strukturellen Ausblend- und Subordinationszwang
ideologisch-theoretisch zu reproduzieren und zu zementieren. Im Lichte des marxistischen
„Primats der Produktion“ ließen sich die voneinander getrennten
gesellschaftlichen Sphären insgesamt als krude Entitäten behandeln. Wo aber
schon „die Politik“ und „die Ökonomie“ zu positiven
Fakten versteinerten, da mußte erst recht die aus dem gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhang
herausgespaltene „Privatheit“ in ihrem außergesellschaftlichen Sosein
blind akzeptiert werden. Jedem gesellschaftskritischen Zugriff schien dieser
scheinbar vorgesellschaftliche Zusammenhang enthoben. Wer nur immer entschlossen
die „Einsicht“ hochhielt, daß die Produktion das Eigentliche sei,
der hatte es von vornherein nicht nötig, einen Blick in die dunklen Abgründe
des außerökonomischen „nur“ Privaten zu riskieren und ihr Verhältnis
zum gesellschaftlichen Ganzen zu problematisieren. Sobald die Zumutung, sich
mit diesen Aspekten der gesellschaftlichen Wirklichkeit auseinanderzusetzen,
an ihn herangetragen wurde, konnte er jederzeit in vermeintlich tiefere und
sicherere Gewässer abtauchen. Das „Primat der Produktion“ verkehrt
sich hier zur Zauber- und Abwehrformel. Zu einer bloß vorgesellschaftlichen
Größe degradiert, taugt die Welt der Konsumtion ex definitione nicht zum Gegenstand
ernsthafter theoretischer Auseinandersetzung.
In der Theorie ist Sterilität allerdings, zumindest langfristig, Krankheit zum
Tode. Wer abtaucht, kann ertrinken, und theoretische Konzepte scheitern meist
an den Problemstellungen, die sie beständig übersehen. Der Marxismus hat ein
Jahrhundert lang die Welt der Privatheit konsequent außen vor gelassen. In der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat dieses Schattenreich aber seine so selbstverständlich
anmutende Ordnung verloren. Es hat sich damit, der Frauenbewegung sei Dank,
ins Bewußtsein gedrängt. Die nicht länger zu leugnende Frage schreit nach einer
theoretischen Antwort. Der Marxismus war außerstande sie zu liefern, übte sich
nur in Ignoranz, und dankte auch deswegen ein für allemal ab.
Die Theorie zollt der veränderten Wirklichkeit mittlerweile ihren Tribut. Zum
Primat des Ökonomischen, wie es der Marxismus zelebrierte, mag sich heute niemand
mehr bekennen. Die Welt der Privatheit ist im letzten Vierteljahrhundert sukzessive
in den Rang eines legitimen Theoriegegenstandes aufgerückt. Diese überfällige
Anerkennung wird jedoch dadurch entwertet, daß sie zusehends mit einem Rückzug
ins Mikrologische einhergeht. Es ist fast schon Mode, sich auf die bisher weggeschobenen,
scheinbar vorgesellschaftlichen Schattenthemen und auf das Alltagsverhalten
zu werfen; das hat aber immer schon eine kompensatorische, gegen jeden „großtheoretischen“
Anspruch gerichtete Funktion. Der wissenschaftliche Zeitgeist steht auf Selbstbescheidenheit
und hat das „small is beautiful“ zum Dogma erhoben. So selbstverständlich
die gesellschaftswissenschaftliche Beschäftigung mit Aspekten des privaten Lebens
geworden ist, so streng verboten ist es, diese Untersuchungen mit der Analyse
der Gesellschaft als ganzer zu verknüpfen. Ein Denken, das seine eigene Zusammenhangslosigkeit
in den Rang einer Philosophie erhob, hat ein solches Ansinnen von vornherein
wegeskamotiert. Die Geschichte hat nicht nur einen Motor, „die Produktion“,
sie hat deren viele, und sie laufen natürlich nicht streng synchron im Takt
einer ökonomischen Logik. Diese Einsicht soll die Marxsche Theorie und mit ihr
jedes Denken, das sich mit dem Wald und nicht mit einzelnen Bäumen beschäftigt,
desavouieren. Kaum ein akademischer Zwergpinscher kann der Versuchung widerstehen,
dem „Monokausalisten“, „Ökonomisten“ und „Totalitätstheoretiker“
Marx nebenbei ans Schienbein zu pinkeln, wenn er den besonderen Stellenwert
der sozialgeschichtlichen Anatomie seiner Lieblingsstecknadel zu belegen sucht.
Die sich antiökonomistisch und antireduktionistisch gerierende Absetzbewegung
von der Marxschen Theorie kommt schon bei der Einschätzung des klassischen Marxismus
zu fragwürdigen Ergebnissen(2). An der Kritik
der politischen Ökonomie geht sie allemal vorbei und bleibt tief unter deren
Reflexionsniveau. Während Gegner und Epigonen gleichermaßen im "Wert“,
dem Zentrum und der Basiskategorie der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie,
immer nur eine positive, binnenökonomische Größe erkennen können, behandelt
der Wertkritiker Marx diese Basiskategorie durchgängig als etwas ganz anderes.
Er sieht im "Wert“ das Formprinzip, das der Sphärentrennung, so wie sie
allein die bürgerliche Gesellschaft charakterisiert, zugrunde liegt. Marx deklariert
nicht einfach, daß „die Ökonomie“ die weitere Entwicklung vorherbestimmt
und Kultur sowie Politik nur abhängige Variablen darstellen, vielmehr ist ihm
ebenso die historische Herausbildung dieser Sondersphäre ein Problem wie der
gesellschaftliche Vermittlungs- und Bedingungszusammenhang, in dem diese Teilbereiche
zueinander stehen. Das populäre Vorurteil, Marx hätte den ökonomischen Faktor
umstandslos für das letztlich Entscheidende erklärt, macht keinen Sinn, weil
die Marxsche "Kritik der politischen Ökonomie“ gerade mit jeder Art von
Faktorendenken energisch bricht.
Wie wenig die Marxsche Herangehensweise mit dem mechanischen Verständnis seiner
Epigonen in eins zu setzen ist, zeigen schon jene Passagen, in denen sich Marx
mit dem „allgemeinen Verhältnis der Produktion zu Distribution, Austausch
und Konsumtion“ auseinandersetzt. Besonders deutlich zeichnet sich das
wohl in der Einleitung zu den „Grundrissen“ ab. Einem Denken, das
die bürgerlichen Formen als natürliche und ewige Grundbedingung menschlichen
Verkehrs betrachtet, kann der Vermittlungszusammenhang zwischen Konsumtion und
Produktion, mit dem sich Marx auseinandersetzt, gar nicht zum Problem werden.
Konfrontiert mit der Marxschen Analyse muß die Problematisierung des Verhältnisses
von Konsumtion und Produktion als überflüssige sophistische Fingerübung erscheinen.
Die Marxisten und andere bürgerliche Theoretiker haben denn auch über die vermeintliche
bloße Begriffsakrobatik konsequent hinweggelesen. Tatsächlich bewährt sich in
diesen Überlegungen aber der eminent historische Sinn des radikalen Kritikers
der bürgerlichen Gesellschaft. Nicht nur die Produktion und die Konsumtion sind
für sich genommen historischem Wandel unterworfen, auch die Beziehung dieser
Momente zueinander hat nichts Übergeschichtliches an sich. Die Entwicklung der
bürgerlichen Gesellschaft bringt eine ganz spezifische, für diese Formation
charakteristische Konfiguration hervor, die mit dieser Reproduktionsweise auch
wieder verschwinden wird. Gerade deshalb muß sie Gegenstand von Untersuchung
und Kritik werden.
Mit dieser Auffassung stellte sich Marx in einen scharfen Gegensatz zur klassischen
Nationalökonomie. Marx wandte sich gegen Adam Smith und noch deutlicher gegen
John Stuart Mill, weil diese federführenden Nationalökonomen ihrer Zeit so etwas
wie historisch-gesellschaftlichen Wandel nur der Welt der Distribution zuordneten,
während sie die Reichtumserzeugung ahistorisch, „als eingefaßt in von
der Geschichte unabhängige ewige Naturgesetze“(3), verstanden.
Mit dem gleichen Verdikt grenzt Marx seinen Ansatz auch von der ricardianischen
Sichtweise ab. Bei Ricardo, so stellt er fest, ist zwar die Distributionsweise
„gesellschaftlicher Willkür“ zugänglich, die Ausformung der Produktion
hingegen deutete der Vollender der klassischen Nationalökonomie als bloßen Reflex
auf den jeweiligen Stand der Naturerkenntnis und trennte sie konsequent vom
gesellschaftlichen Bezugsrahmen ab. Damit fällt aber letztendlich die Produktion
überhaupt aus dem Zuständigkeitsbereich der Ökonomie heraus, und so kommt Marx
zu einer unorthodoxen Wertung Ricardos: „Ökonomen wie Ricardo, denen am
meisten vorgeworfen wird, sie hätten nur die Produktion im Auge, haben... ausschließlich
die Distribution als Gegenstand der Ökonomie bestimmt...“(4).
Marx hat in seiner Absetzbewegung von der klassischen Nationalökonomie die von
der bürgerlichen Formbestimmtheit gesetzte zentrale Rolle der Produktion betont
und dabei deren historischen Charakter herausgearbeitet. Vor dem von der klassischen
Nationalökonomie diktierten rezeptionsgeschichtlichen Hintergrund konnte er
allein auf diese Weise überhaupt eine Forschungsperspektive entwickeln, bei
der „Produktion, Distribution, Austausch und Konsumtion... alle Glieder
einer Totalität bilden“. Nur so gewann sein Ziel, diese Momente als „Unterschiede
innerhalb einer Einheit“(5)darzustellen,
Konturen.
Der Produktionsfetischismus der Epigonen hat diese kritische Frontstellung vollkommen
eingeebnet. Das marxistische Verständnis fällt de facto auf Ricardo und Co zurück.
Wenn die Marxisten das „Primat der Produktion“ beschwören, dann
haftet diesem Theorem immer jener überhistorische Hauch an, der schon die klassische
Nationalökonomie durchwehte. Der Marxschen Grundintention läuft diese Wendung
diametral entgegen. Der Begriff verrät es schon, die Kritik der politischen
Ökonomie, wie er sie formuliert hat, hat die Kritik der Form selber zum Ausgangspunkt.
Die Ökonomie wird bei Marx nicht nur immanent kritisiert im Namen einer anderen,
besseren Form des Wirtschaftens, sondern es wird das ganze Bezugssystem, in
dem sich die Wirtschaft zu einem gesonderten, von anderen Lebensäußerungen getrennten
Phänomen verselbständigt, in Frage gestellt.
So klar dieser radikale Bezug von der Grundintention her ist, er bleibt über
weite Strecken implizit. Der "reife Marx“ der „Grundrisse“
und des „Kapitals“ setzt sich in erster Linie mit den binnenökonomischen
Fetischformen und ihrer Logik auseinander. Was in den Frühschriften vorzugsweise
in der Auseinandersetzung mit der Hegelschen Philosophie und dabei selber noch
in philosophischen Termini thematisiert wurde, ist nicht negiert, sondern vorausgesetzt,
aber nicht weiterausgearbeitet(6). Nur im
Fetischkapitel und entsprechenden Ausführungen in den Grundrissen wird diese
Ebene explizit. Während er in diesem Kontext dann immerhin die Verschlingung
von Distribution und Produktion zum Problem macht, verstummt Marx völlig, sobald
es um das Verhältnis von warenförmiger Gesellschaftlichkeit und Privatheit geht.
Wo die Ware aufhört, Ware zu sein und in die dunkle Welt privater Konsumtion
und aller darum gruppierten Lebenszusammenhänge eintritt, bricht Marx als Kind
seiner Zeit mit dem Durchleuchten schlichterdings ab.
Es wäre jedoch kurzschlüssig, wollten wir aus diesem „Versagen“
des Theoretikers folgern, daß die von ihm in Angriff genommene Kritik der bürgerlichen
Fetischformen per se untauglich für die Erklärung dieser Wirklichkeitsaspekte
wäre. Jede große Gesellschaftstheorie hat Implikationen, die ihrem Schöpfer
selber entgingen, und die erst mit einigen Jahrzehnten Verzögerung überhaupt
ins Blickfeld geraten können.
2.
Der Marxsche Ansatz unterscheidet sich von der klassischen Nationalökonomie
und den Interpretationen der marxistischen Epigonen nicht allein aufgrund seiner
historisierenden Tiefendimension. Die Differenz reicht weiter. Die marxistisch-ricardianische
Richtung argumentiert werttheoretisch, die Marxsche „Kritik der politischen
Ökonomie“ ist dagegen wertkritisch ausgerichtet. Die Bedeutung dieses
Unterschieds kann kaum überschätzt werden, er ist aber wenig beachtet worden.
Wenn die diversen Interpretatoren den zentralen Stellenwert der Wertkategorie
in der Marxschen Theorie überhaupt wahrnahmen, dann faßten sie für gewöhnlich
die Marxsche „Kritik der politischen Ökonomie“ in Analogie zur Hegelschen
Logik. Genauso wie im Hegelschen System die alles in sich fassende Kategorie
„Sein“ selbstgenügsam aus sich heraus die Wirklichkeit setzt, soll
Marx die gesellschaftliche Totalität aus dem „Wert“ abgeleitet haben.
Diese Annahme stellt den Marxschen Ansatz auf den Kopf. Zwar läßt sich ein Ableitungszusammenhang
zwischen den innerökonomischen Fetischformen und zum Rechtsfetisch entwickeln(7),
das ändert aber nichts daran, daß das daraus hervorgehende
Ensemble nur als eine negative Totalität zu begreifen ist. Der kontemplativ
affirmative Grundtenor, unter dem Hegel die Wirklichkeit sich aus dem Begriff
des „Seins“ entfalten läßt, ist der Marxschen Darstellung vollkommen
fremd. Der „Wert“ kann bei ihm die Realität nicht umgreifen, er
subordiniert sie seinem Formzwang, indem er sie und damit sich selber zerstört.
Die Marxsche Wertkritik akzeptiert „den Wert“ nicht als positive
Grundgröße und argumentiert in seinem Namen. Sie dechiffriert seine selbstgenügsame
Existenz als Schein. Gerade die flächendeckende Realisierung wertförmiger Vermittlung
führt keineswegs zu deren endgültiger in sich geschlossener „Verwirklichung“,
sie fällt vielmehr mit ihrer Krise zusammen.
Die Wertlogik enthüllt sich in ihrem Kollaps als Ausblendlogik. Der Ausblendzwang
wird aber natürlich nicht erst in der Krise als zusätzlich hinzutretendes Moment
wirksam, er ist für die Funktionsweise wertförmiger Vermittlung überhaupt konstituierend.
Die Wertlogik kann sich als prozessierender Widerspruch nicht deshalb durchsetzen,
weil sie in der Lage wäre, umstandslos alles Nichtwertförmige zu liquidieren,
sie herrscht, indem sie auch den formlosen Nichtwert in eine stille Voraussetzung
ihrer selbst verwandelt. Der „Wert“ wird das ihm Fremde dabei nie
wirklich los.
Auf der Ebene der Sphären läßt sich die Subordinationslogik am Verhältnis von
Konsumtion und Produktion festmachen. Die Beziehung von Konsum und Produktion
erscheint auf den ersten Blick simpel und überhistorisch. Die Produktion ist
das Mittel, die Konsumtion der Zweck, dem dieses Mittel dient. Genußgegenstände
werden erzeugt, um schließlich genossen zu werden. Die warenproduzierende Gesellschaft
vollzieht jedoch eine merkwürdige Verkehrung. Das Mittel mutiert hier zum Selbstzweck.
Die Verwertung des Werts schwingt sich zum „automatischen Subjekt“
auf, und die tautologische Selbstbewegung der abstrakten Arbeit schlägt alles
und jeden in ihren Bann. Dieser totalitäre Zug der Wertproduktion befreit sie
aber keineswegs von der konsumtiven Seite. Auch das verselbständigte Mittel
bleibt unter allen Umständen Mittel, das auf einen außer ihm liegenden Zweck
verwiesen ist. In einer Welt, in der es nur Mittel gäbe, hätte sich die Kategorie
des Mittels selber aufgehoben und damit natürlich auch der universelle Vermittler,
„der Wert“. Als scheinbar so selbstgenügsamer Souverän hängt er
also strukturell von dem ab, was er aus dem weiten Feld der glorreichen Ökonomie
konsequent ausgeschieden hat, von der subordinierten Konsumtion(8).
In der Warengesellschaft können sich die erzeugten Produkte und der in ihnen
enthaltene Wert in letzter Instanz nur realisieren, sofern sie sich am Ende
ihres Lebensweges in einfache Gebrauchsdinge verwandeln und verzehrt werden(9).
Die Ware fungiert allein dann erfolgreich als Ware, wenn sie
in der Lage ist, diese Bestimmung schließlich abzustreifen, um sich im tatsächlichen
Gebrauch in einen unmittelbaren Genußgegenstand zu verwandeln. Als solcher aber
befindet sie sich nicht nur jenseits der gesellschaftlichen Sondersphäre Ökonomie,
sondern außerhalb der Zauberwelt gesellschaftlicher Formbestimmung überhaupt(10).
Die Warengesellschaft funktioniert mit einem Bereich im Hintergrund,
der ihren abstrakten Kategorien nicht zugänglich ist, und den sie dementsprechend
denn auch nur als vorgesellschaftliche Größe fassen kann(11).
Die ausgelagerten Momente fallen aus der Welt der Formbestimmung heraus, sie
entschwinden aber weder spurlos ein für allemal, noch bilden sie ob ihrer Artfremdheit
per se einen Hort unterschwelliger Subversion. Hermetisch geschieden von der
Sphäre abstrakter Gesellschaftlichkeit ist der um die Konsumtion gruppierte
Lebensbereich zum gesellschaftlich Formlosen herabgesetzt. Als das Unbenennbare
und Unbegriffliche gibt diese „Privatangelegenheit“ die Unterlage
und den passiven Resonanzboden für das „eigentliche“, vom „Wert“
und seinen diversen Emanationen („Arbeit“, „Recht“,
„Geld“ usw.) arrangierte gesellschaftliche Schauspiel ab.
3.
Die Herrschaft der gesellschaftlichen Abstraktion erzeugt das Paradoxon einer
„immanenten Transzendenz“. Sie schafft und definiert einen Gegenbereich,
der jenseits des Werts liegt, der damit aber auch aus dem gesellschaftlichen
Zusammenhang herausgedrängt ist, und selber wiederum in diesem Sinne abstrakt
und negativ vom herrschenden negativen Zusammenhang erfaßt wird. Diese merkwürdige
Schattenbildung kennzeichnet nicht nur auf der Metaebene das Verhältnis der
konsumtiven und der produktiven Sphäre, sie läßt sich bis in die Keimzelle der
bürgerlichen Gesellschaft zurückverfolgen. Schon die Beziehung der Warenbesitzer
im Tauschakt setzt voraus, was sie ausgeblendet haben, und dieser Abspaltungsmechanismus
ist ein integraler Bestandteil der Konstitutierung moderner Waren-Subjektivität.
Wo Menschen sich als Käufer und Veckäufer gegenüberstehen und damit ihren gesellschaftlichen
Zusammenhang herstellen, nehmen sie bekanntlich nicht persönlich Bezug aufeinander.
Nicht die Menschen treten zueinander in Beziehung, sondern ihre Waren verkehren
miteinander. Weil die Waren keine eigenen Beine haben, müssen sich die Menschen
zwar dazu bequemen, sie; zu Markte zu tragen; indem die Marktteilnehmer dieses
Joch auf sich, nehmen, reduzieren sie sich aber selber zu Charaktermasken ihrer
Waren: Sie figurieren allein als deren Stellvertreter, und alles, was an ihnen
über diese dünne Platzhalterfunktion hinausgeht, ist in der Tauschrelation systematisch
ausgelöscht.(12)
Menschliche Beziehungen verkehren sich hier zu Dingbeziehungen, und der gesellschaftliche
Zusammenhang stellt sich als subjektloser Prozeß her. Dennoch ist die Äquivalenzbeziehung
mit ihrer rein instrumentellen Bezugnahme auf den anderen selber wiederum subjektkonstitutiv.
Die Tauschpartner sind einander persönlich vollkommen gleichgültig, aber ausgerechnet
diese Gleichgültigkeit wird zur Voraussetzung dafür, daß sie sich füreinander
in selbständige und allesamt gleich gültige mit jeweils eigenem freien Willen
begabte abstrakte Individuen verwandeln.
Wo Waren die Hände wechseln, sind die Protagonisten für einander nur als bloße
Mittel gegenwärtig und nicht als Personen, mit ihrer jeweiligen individuellen
Geschichte und ihren individuellen Fähigkeiten und Eigenarten. Diese Degradation
ist aber immer wechselseitig und selbstreflexiv. Während die Aneigner des Mehrprodukts
in vorkapitalistischen Formationen die unmittelbaren Produzenten als Naturressource(13)
behandelten, kann der einzelne Warenbesitzer sein Pendant
nur als Mittel und Mittler seines eigenen Genusses benutzen, weil er sich ihm
wiederum selber als Mittel und Mittler andient. Indem er aber den Standpunkt
seines Gegenübers immer schon antizipiert und sich ihm als Mittel zu verkaufen
sucht, affirmiert er den anderen als unabhängig von ihm für sich seiendes, mit
einem eigenen Willen begabtes Selbstzweckwesen. Oder um mit Marx zu sprechen:
„Um... Dinge als Waren aufeinander zu beziehen, müssen die Warenhüter sich zueinander als Personen verhalten, deren Willen in jenen Dingen haust, so daß der eine nur mit dem Willen des anderen, also jeder nur vermittelst eines beiden gemeinsamen Willenakts sich fremde Ware aneignet, indem er die eigne veräußert.“(14)
In der Welt des Tauschs kann der eine Warenbesitzer für den anderen, Warenbesitzer
nur deshalb als Mittel fungieren, weil er ihn als seine eigene Zwecksetzungsinstanz
anerkennt.
Die I.ogik und ihre Implikationen lassen sich auf der Ebene der einfachen Wertform
recht einfach exemplifizieren. A benötigt einen Stuhl. Er kann ihn jedoch von
dem am Wohlergehen von A ausgesprochen desinteressierten B nur erlangen, wenn
er ihm dafür jenen Sack Kartoffeln liefert, nach dem sich B seit Jahr und Tag
verzehrt. Die Sehnsucht des A nach einem Stuhl muß B also in der Form eines
prallen Kartoffelsacks entgegentreten, denn allein in dieser den Leib stärkenden
Gestalt ist B dem A gern zu Willen. Die ausgesprochen merkwürdige Metamorphose
von As Stuhlbedürfnis in die leibhaftige Kartoffelform ist für das Zustandekommen
des Tausches unerläßlich und macht dessen wesentlichen Gehalt aus; das spezifische
innere Motiv hingegen, das A dazu treibt, partout in den Besitz dieses Stuhles
kommen zu wollen, ist für den Vollzug der Tauschbeziehung irrelevant. Es ist
„bloß privat“ und fällt aus dem Tauschakt heraus. Das freie Willenssubjekt
A hat seinen Beweggrund, das ist vorausgesetzt, aber in dieser Unbestimmtheit
eben auch schon hinreichend. Die Natur seines Bedürfnisses tut nichts zur Sache
und bleibt konsequent außen vor. Den Stuhlverkäufer ß geht es gar nichts an,
welches Schicksal den veräußerten Stuhl erwartet, ob A von fanatischer Sammelwut
besessen ist, den Wunsch nach Bequemlichkeit verspürt, es ihm an Brennholz fehlt,
er den geheimen Plan hegt, seine Ehefrau mit einem Stuhlbein zu erschlagen,
oder ob A als Sexualfetischist eine ganz besondere, eher intime Beziehung zu
Stühlen pflegt; vice versa gilt natürlich das gleiche. B‘s Kartoffelhunger
interessiert als solcher A nicht die Bohne. Relevanz gewinnt die Sache für ihn
lediglich deshalb, weil B‘s Appetit ihm ausgerechnet in der Gestalt eines
tauschbaren Stuhls begegnet. Was B dann mit den glücklich eingeheimsten Kartoffeln
beginnen mag, ist wiederum allein sein Bier(15).
Das Verhältnis, das unsere tauschenden Kartoffel- und Stuhlbesitzer nolens volens
miteinander eingegangen sind, verleiht der bürgerlichen Ordnung insgesamt ihr
merkwürdiges Gepräge. Die ganze Gesellschaft scheint aufgelöst in Warenmonaden,
die, sobald sie den Lärm des Marktplatzes hinter sich lassen, weltvergessen
allein um den eigenen Bauchnabel kreisen. So entschieden der Käufer beim Erwerb
Preis und Qualität der Ware einklagt, so deutlich wird er sich jede Einmischung
verbitten, wenn es um die Verwendung und den Sinn der erstandenen Güter geht.
Weder bei seiner Kaufentscheidung noch im Umgang mit der erworbenen Ware hat
ihm jemand reinzureden. Im Reich der Konsumtion lautet die Devise allemal „freie
Fahrt für freie Bürger“, und Diskretion gehört nicht nur bei Beate Uhse
und im Bankgeschäft zum guten Ton(16). Der
Wirt, der dem Alkoholiker den nächsten Schnaps verweigert, versündigt sich nicht
allein am eigenen Umsatz, er tritt auch noch das persönliche, von der Verfassung
garantierte „persuit of happiness“ seines Gastes mit Füßen. Wer
nicht ausfällig wird und anderen bei deren „freier Entfaltung ihrer Persönlichkeit“
lästig fällt, sondern nur still vor sich hinsäuft, hat das selbstverständliche
Recht, nach Kräften seine Leberzirrhose zu fördern.
Das Warensubjekt affirmiert im Tauschakt seinen Tauschpartner als abstrakt-freies
Willenssubjekt. Indem es ihn in dieser Situation nur als Verkörperung seiner
Ware behandelt, schreibt es ihm gleichzeitig eine jenseits der ökonomischen
Beziehung verortete, nicht verhandelbare aprioristische Subjektivität zu. Aber
nicht nur dem Pendant wird eine transzendente, dem ökonomischen und gesellschaftlichen
Zusammenhang insgesamt vorgelagerte Subjektivität zugerechnet. Im Tauschakt
definiert sich auch das Warensubjekt selber als eine aprioristische Wesenheit.
Die coole Selbstinstrumentalisierung bedarf eines außerinstrumentellen Bezugspunkts.
Dem Warenbesitzer ist es nur deshalb möglich, sich ohne äußeren Zwang überhaupt
dem anderen als Mittel anzudienen und selbstvergessen als Charaktermaske seiner
Ware zu agieren, weil dieses funktionale Denken und Handeln an seinen persönlichen
Kernbestand nicht heranreicht. Wenn er sich zum Mittel für andere macht, dann
ist dieses sich zum Mittelmachen selber wiederum nur Mittel für einen sich allzeit
unvermittelt gerierenden Zweck. Seine eigentliche menschliche Substanz bleibt
von all den eingegangenen Verträgen und Tauschbeziehungen unberührt. Das selbstgenügsame
Geldsubjekt tritt als Inkarnation verschiedenster Sozialkategorien auf, ohne
sie aber je zu „sein“, und kann diese wechselnden Bestimmungen auch
nur deshalb ausfüllen, weil sie an ihm in letzter Instanz abzuperlen scheinen.
Während alle Warenbesitzer inklusive der Lohnarbeiter sich nolens volens darauf
orientieren müssen, die von ihnen angebotenen Waren marktgängig zuzurichten,
schöpft diese Anstrengung für den homo oeconomicus und homo sozialis ihren Sinn
letztendlich aus einem jenseits von Markt und Arbeit angesiedelten transgesellschaftlichen
Raum. Kein allgemeiner Maßstab kann ihm sein Ziel angeben, es liegt einzig und
allein in seinem persönlichen, dem gesellschaftlichen Zusammenhang scheinbar
enthobenen Glück. Die (Selbst)dressur zum einkommensträchtigen Arbeitsautomaten
mag beim ABC-Schützen beginnen, der Zweck der Übung liegt dennoch ausschließlich
im vermeintlichen künftigen Wohl des Zöglings und kommt ganz ohne höhere universelle
Weihen aus. Die Anhäufung abstrakter Arbeitsquanten schwingt sich auf der Ebene
des Gesamtsystems zum tautologischen Selbstzweck auf. Für den Protagonisten
bleibt seine Beteiligung an der verselbständigten Verwertungsbewegung jedoch
bloßes Mittel bei der Verfolgung anderer „persönlicher“ Ziele. Er
nimmt einen hedonistischen Standpunkt ein und will sich nur einen möglichst
einträglichen Lebensunterhalt und damit die Grundlage seiner privaten Glückseligkeit
verschaffen. Das Apersonale, die blanke Gewalt der Versachlichung, unterwirft
sich den gesellschaftlichen Vermittlungsraum. Das „eigentlich Menschliche“
entschlüpft in ein rnit Imaginationen möbliertes Nebenreich.
Die Herrschaft des Werts zwingt ihren Geschöpfen und Schöpfern keine kleinlichen
Lebensvorschriften auf, sie zerstört statt dessen alle unhinterfragbaren Leitlinien.
Die negative Tyrannei der Warenwelt hypostasiert den Einzelnen und macht ihn
zu seiner eigenen Sinngebungsinstanz. Sie stößt ihn in ein Vakuum, in dem er
zu guter Letzt nur auf sein eigenes, allen realen gesellschaftlichen Bezügen
entrücktes Selbst trifft.
4.
Unsere Überlegungen bewegen sich auf der Ebene der Wahrnehmungs- und Denkformen,
und wir werden uns auch im folgenden vornehmlich auf diesen Aspekt konzentrieren.
Eins ist dabei aber klar und liegt wohl mehr oder minder auf der Hand. Die chimärische
Gegenwelt zu Arbeit und Selbstbeherrschung existiert nicht nur als ein inneres
Erlebnis, sie muß auch ihren gesellschaftlich-ungesellschaftlichen Ort finden
und sich verzeitlichen. Die Deifizierung der abstrakten Arbeit zum entscheidenden
Medium von Gesellschaftlichkeit führt weder dazu, daß sich jede menschliche
Tätigkeit und Regung in Arbeit verwandeln würde, noch zwingt sie unterschiedslos
alle menschlichen Beziehungen in die Warenform. Der homo oeconomicus und seine
Arbeits- und Warenlager können nur neben aus der Verwertungslogik herausgesprengten,
gesellschaftlich namenlos gemachten(17) Bereichen
bestehen. Das bürgerliche Individuum geht nie in seiner Bestimmung als homo
oeconomicus auf, sondern führt eine Doppelexistenz. Das System der abstrakten
Arbeit stößt bei seinem imperialistischen Zugriff auf eine selbstgeheckte Binnenschranke.
Die Funktion als Wertproduzent beansprucht nicht bis zu den biologischen Grenzen
die gesamte Lebenszeit der Individuen. Der „Arbeitszeit“ steht die
„Freizeit“ gegenüber(18), und
diese wiederum geht nicht einfach in der blanken Tauschlogik auf. In der „Freizeit“
nimmt das Arbeitstier auch die Existenzweise des Käufers an, aber eben nicht
nur sie. Das Unbestimmte bzw. ausschließlich negativ Bestimmte am Begriff verrät
schon das Charakteristische dieser Sphäre. Die Arbeitszeit ist fest umrissen
und auf jederzeit spezifizierbare Ansprüche ausgerichtet. „Freizeit“
dagegen läßt sich lediglich im Kontrast dazu definieren. Sie umfaßt aber nicht
nur die unterschiedlichsten Kategorien von Nichtarbeitszeit. Vor allem verschwimmt
in ihr auch die Grenze zwischen der eigentlichen, dem Individuum disponiblen
Lebenszeit, und jenen Stunden, die es mit reproduktiven, unmittelbar unter dem
Diktat der gesellschaftlichen Form stehenden Funktionen zubringt. Es ist keineswegs
von vornherein ausgemacht, ob die Mitarbeit von Vater und Mutter im Elternbeirat
von Schule und Kindergarten als Opfer an Freizeit oder als einer ihrer Bestandteile
zu gelten hat. Die Zuordnung ist nicht einmal bei der Beschäftigung mit den
eigenen Sprößlingen so eineindeutig. Erst recht hängt es offensichtlich von
der jeweiligen persönlichen Verfassung der Beteiligten ab, ob der Warenhausbesuch
als Fortsetzung der Arbeit mit anderen Mitteln, oder der „Kaufhof“-Werbung
gemäß, als Einkehr in ein „Erlebnishaus“ verstanden wird. Wo in
der Freizeit das ersehnte „Eigentliche“ beginnt, bleibt allenthalben
im Nebel. Dieser Nebel macht sich nicht nur beim Versuch bemerkbar, die Nicht-Arbeitswelt
theoretisch-begrifflich zu fassen, sondern erst recht lebenspraktisch.
So energisch die Freizeitmenschen „dem Anderen“ nachstellen, sie
verfehlen es ein ums andere Mal. Auf der verzweifelten Suche nach dem aus den
abstrakten gesellschaftlichen Beziehungen herausabstraktifizierten Kern können
die Jäger nur auf das durch Kaufakte vermittelte Instrumentarium zurückgreifen.
Der Einsatz dieser Mittel vertreibt und zerstört aber gerade, was er fassen
soll. Das erkaufte Glück schmeckt schal. Das Flugticket bringt den seiner versachlichten
Beziehungen müden westeuropäischen Menschen in ein karibisches Fata-Morgana-Paradies,
in dem sich die Einheimischen noch „echt“, „menschlich“
und „unmittelbar“ verhalten. Doch schon wenige Jahre Tourismus zerstören
den schönen Schein. Traditionelle Gastfreundschaft verwandelt sich in Beutelschneiderei
und sprühende Lebensfreude spaltet sich in devotes Verhalten und kleinkriminelle
Energie. Aber selbst solange sich die überlieferte andere Lebensart resistent
zeigt, läßt sie sich nur von außen in dieser emphatischen Weise genießen. „Echt“,
„menschlich“ und „unmittelbar“ erscheint sie nur aus
der Perspektive des Deutschmark-gestützten Zaungastes. Diese Konstellation kennzeichnet
die Freizeit- und Erlebnisgesellschaft insgesamt. Das monetär vermittelte und
juristisch regulierte Erlebnis ist keines mehr, sondern eine mehr oder minder
raffiniert ausstaffierte Form von Langeweile.
Die Gewalt der Versachlichung schwappt ins imaginäre Gegenbild hinüber. Das
von der Warenform gesetzte Jenseits ist von der Herrschaft der toten Dinge umstellt
und verstellt. Der transzendente Bezugspunkt seines Sehnens bleibt dem modernen
bürgerlichen Menschen verwaschen und undeutlich. Aber gerade dieses schwer Greifbare
und Flüchtige macht es als das kenntlich, was es ist: die formlose und gerade
deshalb unverzichtbare Rückseite der Verwertungslogik. Die Dampfwalze der Wertvergesellschaftung
kann sich nicht in Gang setzen und weiterrollen, ohne ihre eigenen exterritorialen
Homelands zu schaffen. Im Dunkeln, abseits der Verwertung und doch für den Lauf
der Megamaschine unerläßlich, finden sich die idyllischen Abgründe privater
Höllen, die terra incognita des gesellschaftlichen Betriebs.
5.
Ein Widerspruch durchzieht die moderne Warensubjektivität in all ihren Abarten.
Der Konstituierung des Warensubjekts liegt die Chimäre eines Subjekts zugrunde,
das sich selber zum letzten Zweck hat. In seinen diversifizierten sozialkategorial
gerasterten Funktionen kann der einzelne dieser selbstbezogenen Subjektivität
jedoch nicht frönen und sie ausleben. Im Gegenteil, jedes persönliche Element
wird in diesem Bezugsfeld quasi ex definitione wegabstraktifiziert. Mit der
historischen Entfaltung warenförmiger Vergesellschaftung steigert sich dieses
ihr inhärente Spannungsverhältnis bis zur Unerträglichkeit. Im selben Augenblick,
da die bürgerliche Subjektivität sich von allen Schlacken gemeinschaftlicher
Existenzformen reinigt und zu sich kommt, wird sie denn auch schon prekär.
Diese Prekarität schlägt sich unter anderem in einer für das moderne Lebensempfinden
charakteristischen Ambivalenz nieder. Eine merkwürdige Mischung aus Allmachtsanspruch
und einem tiefreichenden Ohnmachtsgefühl macht sich heute breit. Einerseits
weiß das moderne Warensubjekt sehr wohl, daß sich ihm sein eigenes soziales
Dasein nur über eine unermeßliche Vielzahl monetärer Verknüpfungen und rechtlicher
Regelungen vermittelt. Allenthalben muß sich der Einzelne auf die geld- und
rechtsförmige Regulationsweise einlassen, sie wird ihm zur zweiten Natur. Kein
Lebensbereich bleibt von ihrem Zugriff verschont. Im gleichen Atemzug setzt
die Übermacht der Mittelwelt aber auch einen exzessiven Subjektterror in Gang.
Aus allen altmodischen sozialen Gefügen herauspräpariert und statt dessen in
auseinanderstrebende sozialkategoriale Zuweisungen zerlegt, kann der einzelne
den Anspruch auf das lebensnotwendige Minimum persönlicher Kohärenz nur als
Subjektvorbehalt formulieren. Im Fadenkreuz diversifizierter Sozialfunktionen
bleibt dem Individuum(19) allein ein Weg,
um der vollkommenen Pulverisierung zu entgehen. Es muß sein Selbstbewußtsein
aus der Distanz zum umgebenden gesellschaftlichen Zusammenhang schöpfen, der
es zersplittert.
Für den vorbürgerliche Menschen war jahrtausendelang Konformität im eigenen
eng umrissenen Lebenskreis der selbstverständliche Maßstab seiner Existenz.
Er verstand sich als Angehöriger eines Lebenskreises, und sein Selbstbild war
von organisch gewachsener Identifikation geprägt. Er "war“ Bauer, Adliger,
Mönch usw., und selbst die unterständischen Proletarier des 19. und beginnenden
20. Jahrhunderts definierten sieh wesentlich über ihr Arbeitersein, das ein
ganzes Ensemble von sozialen Bezügen in sich schloß. Die negativ abgrenzende
Identitätsfindung der modernen Monade stellt diese Grundorientierung auf den
Kopf. Die modernen Individuen sind deswegen nicht weniger durchnormiert als
ihre Altvorderen, im Gegenteil. Es ist aber gerade der zum Massenphänomen gesteigerte
Autonomiewahn, der diese Normierung vermittelt.
Die Bezeichnung Wahn mag in diesem Zusammenhang hart klingen, sie entbehrt aber
nicht der Berechtigung. Das bürgerliche Denken behandelt Individuum und Gesellschaft
seit jeher ganz selbstverständlich als Antinomie. Diese Wahrnehmungsweise hat
mittlerweile aber die Höhen bloß philosophischer Reflexion verlassen, und durchdringt
auf breiter Front die Alltagsmentalität in all ihren Verästelungen bis tief
ins Unbewußte hinein. Nie war der Zwang, sich partout der eigenen Besonderheit
versichern zu müssen, derart verallgemeinert wie heute. Im Zeitalter der Psychowelle
muß sich noch jeder Müllkutscher als Schmalspurdandy beweisen, und selbst beim
Nahkampf im Sommerschlußverkauf gehören immer nur die anderen zur grauen Masse.
Zu Beginn des Jahrhunderts freute sich eine kleine Boheme ihrer schockierenden
Verachtung gesellschaftlicher Normen. Selbst noch in den 50er Jahren war für
die breite Masse die Meinung der Nachbarn und die öffentliche Moral eine ebenso
gewichtige wie feste Größe. In den letzten 30 Jahren ist Nonkonformität selber
sukzessive in den Rang einer gesellschaftlichen Norm aufgerückt.
Das Paradoxe an dieser Konstellation läßt sich mit Händen greifen. Beim zwanghaften
Versuch, aus den vielfältigen Angeboten der Warengesellschaft „Individualität“
zu zimmern, entstehen denn auch nur offensichtlich absurde Surrogatidentitäten.
Es fällt nicht schwer, den Persönlichkeitskult der Surf- und Yuppiegeneration
und ihrer Nachäffer aufs Korn zu nehmen und die permanent reflexhaft zelebrierte
Individualität als Produkt von der Stange zu entlarven. Der bloße Spott über
die Pathologie des Alltagsverstandes bleibt auf Dauer allerdings unbefriedigend.
Die Haltlosigkeit und Beliebigkeit der tautologischen Bauchnabelshow tut ihrer
Wirksamkeit nicht den geringsten Abbruch. Die Farce hat nicht nur tragische
Züge, sondern ihre Zwangslogik. Bei der Apotheose bestimmungsloser Subjektivität
handelt es sich um weit mehr als nur ein flüchtiges ideologisches Hirngespinst.
Ein integraler Bestandteil der Verhältnisse tritt uns in diesem bunt schillernden
Phänomen entgegen. Der Individualitätskult ist die andere Seite von Monetarisierung
und Verrechtlichung, und das Verrücktwerden der Selbstzweckindividuen gehört
zum Kollaps der gesellschaftlichen Zwangsform.
6.
Die Welt der versachlichten Beziehungen ist sinn- und zweckleer. Das moderne
Individuum lebt in einem Reich der Beliebigkeit. Niemand setzt ihm feste Normen.
Diese Unverbindlichkeit hebelt allerdings keineswegs die unerbittliche Härte
der Sachzwangrationalität aus. Im Gegenteil, sie korrespondiert mit ihr. Der
einzelne mag mit den sozialkategorialen Zuordnungen jonglieren, das ändert aber
weder etwas an deren funktionaler Starrheit noch an ihrem Vergewaltigungscharakter.
Wenn die Monade leichtfertigerweise ihre vier Wände verläßt und sich auf die
Straße begibt, hat sie zwar prinzipiell die Wahl, ob sie sich in einen Radfahrer,
Autofahrer, Fußgänger oder einen Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel verwandelt,
die Mutation zum Verkehrsteilnehmer, der sich selbstkontrolliert nur auf dränierten
Bahnen bewegt, steht jedoch nie zur freien Disposition. Nolens volens partizipiert
jeder an der Megamaschine Verkehr, und wer sich den an die jeweilige Teilnahmeform
gekoppelten Zwängen nicht fügt, riskiert Verstümmelung und Tod. Der Blutzoll,
den erst unzureichend verkehrsgerecht zugerichtete Kinder auf der Straße zu
entrichten haben, spricht eine überaus deutliche Sprache. Aber schon dem Flugzeugpassagier
verbietet es sich, nachträgliche Kurskorrekturen vorzunehmen oder vorzuschlagen,
will er nicht als Luftpirat Schlagzeilen machen. Wer mitten auf der Autobahn
urplötzlich das Interesse am projektierten Italienurlaub verliert und daraus
augenblicklich die Konsequenz zieht, wird alsbald im Verkehrsfunk unter der
Rubrik Geisterfahrer annonciert.
Die beiden letzten Beispiele mögen, ein bißchen albern wirken., Das liegt in
erster Linie aber nur daran, daß wir gründlich verinnerlichte Zwänge gar nicht
mehr als Zwang wahrnehmen. Eine rigide Innensteuerung ist, nicht nur im Verkehr,
so selbstverständlich und allgegenwärtig geworden, daß das geforderte hohe Disziplinierungsniveau
nur mehr auffällt, wenn die gebeutelten Individuen es nicht aufbringen und demonstrativ
durchdrehen. Einige hundert Jahre „Prozeß der Zivilisation“ haben
ihre Wirkung getan und Eigenschaften wie Berechenbarkeit, Rationalität oder
auch das westlich-lineare Zeitempfinden eingeschliffen. Der moderne Mensch paßt
sich fraglos und selbstbestimmt Situationen an, in denen seine vormodernen Altvorderen
sofort gescheitert wären, und kann sich nur mehr schwer Rechenschaft über diese
Leistung abgeben.
Die beständige (Selbst)disziplinierung hat ihre Matrix in den Eigendressurakten,
die sich die Warensubjekte im Tausch und bei der Arbeit aufnötigen. Sie geht
aber über die enge ökonomische Sphäre und das öffentliche Leben insgesamt weit
hinaus. Der lange Arm gesellschaftlicher Regulation reicht tief in die Psychostruktur
hinein, und damit auch in die „Privatsphäre“. Das in den versachlichten
Außenbeziehungen eingeübte Sich-zum-Mittel-Machen läßt sich auch dort nicht
auf Knopfdruck ausschalten, wo der einzelne in den abgespaltenen.Bereich des
Nichtzweckhaften eintritt. Bis zu den Haarspitzen auf diese merkwürdige Existenzform
abgerichtet, setzt das Individuum sie in die Freizeit hinein fort. Es ist kein
Zufall, daß so manches Hobby, vom jogging bis zum Bodybuilding(20),
verdächtig an das rigide Arbeitsreglement gemahnt, und als
Verlängerung der Fabrikdiktatur auf anderem Terrain verstanden werden kann.
Wer beim Sonntagsausflug, beim Wandern oder auf der Urlaubsreise gewohnheitsmäßig
Kilometer abspult, folgt offensichtlich dem vertrauten abstrakten Leistungs-
und Quantifizierungsprinzip aller Arbeits-Lemminge. Wer über Freizeitstreß klagt,
wird dessen sogar - zumindest partiell - gewahr. Dieser Mechanismus kann sich
aber auch klandestin durchsetzen.
Dieser Sachverhalt darf uns über eins allerdings nicht hinwegtäuschen. Der Freizeitmensch
und homo privatus geht in derlei Verrichtungen keineswegs auf. Er ist nicht
nur die Konsummaschine, die angespannt und genußunempfindlich auffrißt und verschleißt,
was sie als zwanghaftes bele6tes Produktionsinstrument mitgeheckt hat. Die Monade
lebt nicht nur den Doppelwahnsinn von abstraktem "Leisten“ und nicht minder
abstraktem „Sich-Leisten“, auch das ins Formlose Verschwimmende,
von den gesellschaftlichen Beurteilungskriterien Abgekoppelte am Subjekt a priori
hat sein psychisches Substrat. Das ominöse, so oft beschworene Eigene verschwindet
nicht einfach in der simulativ weiterbetriebenen Selbstdressur. Hinter den diversen
Schalen von Außenidentitäten, die breite Teile des Freizeitverhaltens mitumfassen,
lauert noch immer etwas anderes, das nicht-offiziöse Innensubjekt. Diese der
öffentlichen Sphäre abgewandte Seite hat ihren eigenen, zu den Idealen des Außenegos
komplementären Tugendkatalog. Während sich das Außen-Ich allzeit durchsetzungsstark,
rational und weltläufig zu zeigen hat, muß das Innen-Ich sich in Einfühlsamkeit
und Sinnlichkeit einüben. In dieser Funktion nimmt die weltabgewandte Seite
des Subjekts einerseits die Stelle des heiligen Eigentlichen ein und figuriert
andererseits im Kontrast zum übergreifenden aggressiven Außen-Ich als das Schwache,
Schützenswerte, Bedürftige.
7.
Zu den Ingredienzen moderner Subjektivität gehört nicht nur die historisch
neuartige Fähigkeit zum Selfmanagement. Mit dem homo oeconomicus, dem jede Beziehung
zur gesellschaftlichen Wirklichkeit und zu sich selbst sofort zum instrumentellen
Verhältnis gerät, entsteht und verallgemeinert sich auch dessen Alter ego. Das
Reich der Versachlichung erzeugt als seine Rückseite einen aus der gesellschaftlichen
Wirklichkeit herausdestillierten Bereich der Intimität. In diesem Reservat tobt
sich die abstrakte Menschlichkeit aus.
So unverzichtbar beide Pole für die Konstituierung bürgerlicher Subjektivität
sind, so schwer tut sich der einzelne damit, die diametral entgegengesetzten
Anforderungsprofile in Einklang zu bringen, die diese beiden nebeneinander existierenden
Selbstbilder ihm aufnötigen. Die daraus erwachsenden Kalamitäten sind nicht
bloß akzidentieller Natur. Sie gehen vielmehr bestimmend in die Subjektbildung
selber ein. Das selbstgenügsame autonome Subjekt bleibt nicht nur deshalb immer
Fiktion, weil es der äußeren Abhängigkeit vom gesellschaftlichen Zusammenhang
nie entrinnen kann. Die Monade unterliegt außerdem auch einer inneren Zerreißprobe,
und sie kann nur durch die Externalisierung wesentlicher Bestandteile ihres
Selbst in dieser Malaise überhaupt eine gewisse Stabilität erreichen. Das bürgerliche
Subjekt lebt seine schizophrene Grundsituation, gleichzeitig als Gefühlsmensch
empfinden zu Müssen und als kühl kalkulierender Rechner zu funktionieren, indem
es das, was nicht zusammenpassen will und doch zusammengehört, auf zwei Partialidentitäten
verteilt. Die Monade existiert nicht als einzelnes Atom, wie es ihrem Selbstbild
eigentlich zu entsprechen scheint, sie kommt vielmehr zu ihrem prekären Gleichgewicht,
indem sie sich zumindest virtuell - zu einem Bestandteil eines zweigeschlechtlichen
Paarmoleküls macht.
Das autarke Subjekt versteht sich selber als ein geschlechtsneutrales, allgemein
menschliches Wesen. Jede geschlechtliche Zuordnung mutet auf den ersten Blick
so befremdlich an wie der Versuch, das Geschlecht einer Billardkugel zu bestimmen.
Beim Nachfassen entpuppt sich das Selbstverständnis allerdings als ideologischer
Schein. Der Autonomiewahn und -zwang, die beständige gewohnheitsmäßige Selbstvergewaltigung
des Warensubjekts, kann nicht den ganzen Menschen in sich fassen. Er schneidet
wesentliche Daseinsaspekte ab. Die abgedrängte und zur Intimität verselbständigte
Seite fällt in das Schattenreich zugerechneter Weiblichkeit. Indem sich das
übergreifend nach außen gewandte und universalistisch orientierte Moment des
Warensubjekts von dieser feminin besetzten Gegenwelt abstößt und sich im selben
Atemzug klammheimlich auf sie stützt, macht es sich selber aber als männlich
attributiertes Wesen kenntlich. Was uns empirisch wohlvertraut ist, entspricht
durchaus auch der Logik der Sache. Der zum Konkurrenzsubjekt mutierte und dementsprechend
von seiner eigenen Emotionalität überforderte Privatmann „löst“
seinen inneren Widerspruch, indem er die sinnlich-emotionale Seite an die Frau
delegiert. Nur in seiner männlichen Partialidentität kann das auf Sachlichkeit
und Rationalität zugerichtete autonome Warensubjekt sich seiner wegeskamotierten
und gleichzeitig für sakrosankt erklärten anderen Seite bemächtigen, ohne Gefahr
zu laufen, selber auseinanderzufallen(21). Das
mit allen Panzer-Ich-Bestandteilen hochgerüstete männliche Subjekt findet in
der zugerechneten Weiblichkeit, wie sie in der dreifaltigen Gestalt von Hausfrau,
Mutter und Geliebter leibhaftig wird, seine abgedrängten Seiten wieder und konsumiert
sie allabendlich. Die Selbstbeherrschung des Mannes fällt hier mit der Unterwerfung
der Frau in eins. Er lebt seine menschlichen Anwandlungen und Sehnsüchte nicht
selber, er "läßt sie leben“, und „erfindet“ zu diesem Zwecke
das Weib, das sie ihm aufbereitet darbringt und/oder als Projektionsfläche für
Wünsche und Sehnsüchte figuriert. Die Frauen ihrerseits bleiben, indem sie faktisch
oder imaginär ihre Außenorientierung (zumindest potentiell) zu einem Gutteil
auf den Mann übertragen, Konkurrenzsubjekte mit identitärem Vorbehalt. Die Option
auf ein Leben aus zweiter Hand schirmt sie partiell vor den Zumutungen einer
versachlichten Erfolgsexistenz ab(22), und
sie gewinnen eine alternative Sinnperspektive als Hüterinnen gemeinsamer Innerlichkeit.
Diese Struktur wird auch unabhängig von der einzelnen Paarbeziehung wirksam.
Die Geschlechts(selbst)bilder stiften selbst da noch wesentlich das innere Bezugssystem
des Warensubjekts, wo der „Partner“ im Imaginären bleibt.
Die Herausbildungsgeschichte der wohlvertrauten bürgerlichen Geschlechterstereotypen
läßt sich einige Jahrhunderte zurückverfolgen, ihre volle Entfaltung quer durch
die Bevölkerungsschichten ist allerdings neueren Datums. Erstmals tritt in Dokumenten
aus dem 14. Jahrhundert die Frau als Wahrerin heimeliger Behaglichkeit auf.
Eine dünne städtische Patrizierschicht unternimmt zu dieser Zeit die ersten
noch unsicheren Schritte hin zur Intimität. Die guten Ratschläge, die ein 60jähriger
vermögender Pariser Bürger und Kaufmann im Jahr 1393 seiner l5jährigen Ehefrau
mit auf ihren weiteren Lebensweg gab, zeigen die generelle Marschrichtung an,
auch wenn der passiv-rheumatische Grundton dieser Direktiven nicht unbedingt
repräsentativ für das männliche Verhältnis zu Sinnlichkeit und Weiblichkeit
sein mag:
„Schönes Schwesterchen“, so hebt er zärtlich an, „wenn ihr nach mir einen anderen Mann habt, dann müßt ihr sehr auf seine Behaglichkeit achten. Denn wenn eine Frau ihren ersten Mann verloren hat, ist es gewöhnlich für sie schwer, einen zweiten nach ihrem Stande zu finden, und dann bleibt sie für lange Zeit allein und ungetröstet, und noch mehr, wenn sie den zweiten verliert. Deshalb pflegt Euren Ehemann sorgsam und bitte, haltet ihn in sauberer Wäsche, denn das ist Eure Aufgabe. Und weil die Sorge für die Geschäfte draußen Männersache ist, muß der Ehemann darauf achtgeben, er muß gehen und kommen und hierhin und dorthin reisen, bei Regen, Wind, Schnee und Hagel, einmal durchnäßt, dann wieder ausgedörrt, einmal in Schweiß gebadet, dann wieder frierend, schlecht verpflegt, schlecht untergebracht, schlecht gewärmt und schlecht gebettet. Und alles macht ihm nichts aus, denn ihn tröstet die Hoffnung auf die Fürsorge seiner Frau, wenn er zurückkommt, und auf die Gemütlichkeit, die Freuden und Vergnügungen, die sie ihm bereitet, oder in ihrer Anwesenheit bereiten läßt: die Schuhe beim warmen Feuer ausziehen, gutes Essen und Trinken vorgesetzt bekommen, schön bedient und versorgt werden, fein gebettet sein in weißen Bettüchern und weißen Schlafmützen, anständig zugedeckt sein mit guten Pelzen, verwöhnt durch andere Freuden und Unterhaltungen, Vertraulichkeiten, Liebesdienste und Heimlichkeiten, über die ich nicht rede. Und am nächsten Morgen neue Hemden und Kleider...“ (23)
Der Tenor der gutgemeinten Ratschlägen, insbesondere auch der Schlußsatz „Und
nehmt Euch in acht, daß es in Eurem Zimmer und Eurem Bett keine Flöhe gibt“(24),
mögen dem zeitgenössischen Ohr etwas befremdlich anmuten. Dennoch, dem
Grundmuster ist die Geschlechterbeziehung in der bürgerlichen Epoche treu geblieben.
Die beiden Seiten der Waren-Subjektivität, das auf instrumentelles Handeln ausgerichtete
Außen-Ich und das aus diesem Bezugsfeld herausabstraktifizierte Innen-Ich, sind
seit jeher geschlechtsspezifisch besetzt. Außen- und Innen-Ich verkehren miteinander
als "Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“. Dieser Scharnierfunktion
entsprechend kommt der Paarbeziehung im prekären Gefühlshaushalt des modernen
Massenindividuums · ein enormes Gewicht zu. Ein Pendant dazu läßt sich in der
Geschichte kaum finden. Nie waren „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“
so allgegenwärtig wie heute. So oft sich auch das an die holde Zweisamkeit gekoppelte
Glücksversprechen als schal erweist, so wenig kann die moderne Monade sich von
ihm emanzipieren. Das durchschnittliche Individuum hangelt sich entweder in
„serieller Monogamie“ (Beck/Beck-Gernsheim) von Zusammenbruch zu
Zusammenbruch, von einem (selbst)mörderischen Idyll ins Nächste, oder es resigniert
paarweise. Selbst wenn die Distanz zum Paarunwesen ideologisch aufgeladen wird
und sich zur lebensphilosophischen Pose verfestigt, bleibt eine negative, deswegen
jedoch nicht weniger starke Fixierung spürbar. Es läßt sich schwerlich übersehen,
daß es sich bei der Selbstzelebrierung „bewußten Singletums“ nur
um die mühsame Kaschierung und ärmliche Ästhetisierung einer psycho-sozialen
Postkatastrophenlandschaft handelt.
Auch in vorbürgerlichen Gesellschaften hat das Merkmal „Geschlecht“
für das gesellschaftliche Gefüge eine strukturierende Bedeutung. Erst die bürgerliche
Gesellschaft arbeitet allerdings die Geschlechterstereotypen in ihrer Reinheit
heraus und stellt „den Mann“ „der Frau“ gegenüber(25).
Diese Zuspitzung der Geschlechterpolarität überlagert sich
mit einem scheinbar gegenläufigen Trend. Die unmittelbare universale Diktatur
der Form läßt bei ihrem Vormarsch den weiblichen Teil der Menschheit nicht aus.
Die Welt der abstrakten Arbeit und ihrer Emanationen verwandelt auch die Frauen
sukzessive in autonome Arbeits- und Geldsubjekte. Damit werden sie zwangsläufig
Momenten des männlichen Außen-Ichs teilhaftig. Unsere Eltern- und Großelterngeneration
wuchs noch weitgehend fraglos, wenn auch oft nicht ohne Schmerzen(26)
in die herrschenden Rollenzuweisungen hinein. Im Ideal von
Kleinfamilie und Paarbeziehung fanden die Außen- und Innerlichkeitsseite bürgerlicher
Subjektivität zu einer einigermaßen stabilen und selbstverständlich erscheinenden
Koexistenz zusammen. Die Frauen, die gelernt haben, als selbständige Arbeits-
und Konsummonaden aufzutreten, lassen sich hingegen nicht mehr problemlos subsumieren.
Das gilt selbst dann, wenn sie es selber wünschen und ein entsprechendes Weiblichkeitsideal
vertreten. Sobald die Berufung zur "natürlichen“ Bewahrerin männlich-weiblicher
Innerlichkeit selber zu einem "Karriereprojekt“ unter anderen möglichen
"Lebensentwürfen“ wird, und daher extra gewollt werden muß, ist die kleinfamiliale
Balance schon aus den Angeln gehoben.
Diese Entwicklung scheint auf den ersten Blick dazu angetan, die Geschlechterstereotypen
außer Kraft zu setzen. Bei näherem Zusehen zeigt es sich aber, daß von einer
Neutralisierung der Geschlechterbilder in keiner Weise die Rede sein kann. „Weiblichkeit“
und „Männlichkeit“ büßen weder ihre eindeutige Bestimmung noch ihre
gesellschaftliche Bedeutung ein, sie beginnen sich lediglich vom empirischen
Geschlecht der Individuen abzulösen. Sie werden damit als das sichtbar, was
sie schon immer gewesen sind, gesellschaftliche Strukturmerkmale im biologischen
Gewande. Die säuberliche Zuteilung „weiblicher Eigenschaften“ an
die Frau und „maskuliner“ an den Mann verliert ihre Eineindeutigkeit.
Der „neue Mann“ darf gelegentlich ebenfalls einmal in Tränen ausbrechen,
oder sich mit Kindern beschäftïgen, der Frau steht es frei, sich vielleicht
ab und an zu einer zynischen Bemerkung hinreißen zu lassen, und in „Coolness“
und „Unabhängigkeit“ machen. Der Kodex selber ist damit jedoch keineswegs
verschwunden. Das prekär gewordene Unterfangen, die Außen- und Innenseite bürgerlicher
Subjektivität rniteinander zu verbinden, bedient sich nach wie vor der Chiffrensprache
von maskulin und feminin. Eine andere Lingua franca steht dazu gar nicht zur
Verfügung. Wenn in den modernsten gesellschaftlichen Segmenten „Männlichkeit“
und „Weiblichkeit“ voll Inbrunst inszeniert werden, dann hat dieses
Spiel einen eindeutig zwanghaften Charakter. Die Identitätssuche richtet sich
in diesem bipolaren Spannungsfeld aus.
Die Geschlechterproblematik löst sich im Rahmen der Wertvergesellschaftung also
keineswegs zugunsten einer geschlechtslosen Universalindividualität in Wohlgefallen
auf. Dennoch ist die Tragweite der Veränderungen, die sich in den letzten Jahrzehnten
vollzogen haben, enorm. Die beständige Restauration und Neuaustarierung geschlechtlicher
Zuweisungen in jeder einzelnen Paarbeziehung macht die alte selbstverständliche
stille Voraussetzung des „autonomen Warensubjekts“ zur dauernden,
von regelmäßigen persönlichen Katastrophen unterbrochenen Sisyphusarbeit. Diese
Erschütterung und Verunsicherung tangiert das bürgerliche Subjekt nicht nur
peripher, sie trifft es in seinem Kern. Mit den Umbrüchen und der Dekonstruktion
der Geschlechterordnung wird die bürgerliche Subjektform selber brüchig. Die
geringe Halbwertszeit moderner Beziehungen, und die alltäglichen Beziehungs-Scharmützel
sind Indikatoren irreversibler Zersetzungsprozesse, die regelmäßig und massenhaft
auch die Außen-Ich-Fassaden zum Einsturz bringen. Das autonome männliche Warensubjekt,
das sich genötigt sieht, künftig auch noch das abgespaltene „Weibliche“
aus sich heraus zu rekonstituieren, muß an dieser Hybris scheitern.
(1) „Arbeit“ und „Produktion“ sind keineswegs Synonyme. Aus dem Umstand, daß der Stoff umformende, produktive Bezug des Menschen auf die ihn umgebende Natur unaufhebbar ist, folgt daher auch nicht die Unaufhebbarkeit der Kategorie „Arbeit“. Die Abstraktion „Arbeit“ ist in ihrer Reinheit ein spezifisch bürgerliches Phänomen. Sie ist mit der Herausbildung der Warenproduktion entstanden und wird mit ihr auch wieder verschwinden. Vgl. dazu die Aufsätze „Die verlorene Ehre der Arbeit“ („Krisis“ 10) und „Sexus und Arbeit“ („Krisis“ 12).
(2) Gerade ökonomistisch orientierte marxistische Theoretiker dachten immer ganz selbstverständlich in einander äußerlichen Faktoren. Nichts war ihnen so fremd wie der höchstens in hegelmarxistischen Ansätzen hochgehaltene Drang zur Totalität. Für den Ökonomisten war die Ökonomie nie das Ganze, sondern nur der gewichtigste Teil in einem durch und durch mechanischen System. Wer versucht, in der marxistischen Theoriegeschichte auch nur eines einzigen blanken Ökonomisten habhaft zu werden, wird sich denn auch ungefähr genauso schwer tun wie die Physiker einst bei ihren Versuchen, Süd- und Nordpol von Magneten voneinander zu trennen. Wer sich die Mühe macht, Theoretiker wie Kautsky oder Hilferding, die als Inbegriff ökonomistischen Denkens gehandelt werden, tatsächlich zu lesen, der wird feststellen müssen, daß in ihren 5chriften ihre ökonomistische Argumentation regelmäßig alsbald in puren Politizismus und Soziologismus umschlägt. Neben den „ehernen ökonomischen Gesetzmäßigkeiten“ steht allemal das unbedingte Klassensubjekt. Nur wer selber bis über beide Ohren in der Politik- und Willensillusion befangen ist, kann diese Kopplung übersehen. Den eilfertigen Ökonomismuskritikern muß sie entgehen, weil sie - nur am anderen Pol - demselben Denkuniversum verpflichtet sind, dem auch die von ihnen so billig abgefertigte ökonomistische Sicht angehört.
(3) „Grundrisse“, S. 8.
(4) A.a.O., S. 17.
(5) A.a.O., S. 20.
(6) Allein deshalb konnte es überhaupt zu der grotesken Verkehrung der Marxschen Formkritik in die marxistische Apologetik der Form kommen.
(7) Auf dieser Ebene bewegt sich die Marxsche Darstellung im „Kapital“ denn auch hauptsächlich. Er schreitet vom Wert zu dessen Erscheinungsformen Tauschwert, Gebrauchswert und Geld voran, er zeichnet die Metamorphose des Werts zum Kapital nach, usw.
(8) Nicht nur logisch, auch historisch macht es hier Sinn von Ausscheiden zu sprechen. Das „Oikos“, das „ganze Haus“ der griechischen Antike von dem sich unser moderner Begriff Ökonomie herleitet und seine Nachfolger bis ins 19. Jahrhundert, beherbergten in friedlicher Koexistenz produktive und konsumtive Funktionen. Erst die Warengesellschaft sprengt und polarisiert dieses Verhältnis.
(9) Das gilt vermittelt auch dort, wo sich. weitere Akte „produktiver Konsumtion“ zwischen das vorhandene Produkt und den endgültigen Konsum schieben. Auch der Wert von Produktionsmitteln muß zu guter Letzt in einem bloßen Genußgegenstand wiedererscheinen, ansonsten ist der wertproduktive Kreislauf unterbrochen, und es findet a posteriori Entwertung statt.
(10) "Der Gebrauchswert verwirklicht sich nur im Gebrauch oder der Konsumtion“ (MEW 23 S.50); „...in der Konsumtion tritt das Produkt aus der gesellschaftlichen Bewegung heraus, wird direkt Gegenstand und Diener des einzelnen Bedürfnisses und befriedigt es im Genuß.“ (Karl Marx, Grundrisse zur Kritik der politischen Ökonomie, S.10).
(11) Das Scharnier zwischen privatem Genuß und der Welt der abstrakten Arbeit bildet die Kategorie des Gebrauchswerts. Sie ist die Kategorie, die auf das Sinnlich-stoffliche an der Ware verweist, allerdings als abstrakte Stofflichkeit. Der Tauschwert faßt die Ware als abstraktes Wertding, der Konsum nimmt die Ware nicht mehr als Ware, sondern zehrt sie als besonderen Genußgegenstand auf. Der Gebrauchswert steht dazwischen und verschafft der abstrakten Nützlichkeit der Ware, ihrer Nützlichkeit überhaupt, Geltung.
(12) „Die Personen existieren hier nur füreinander als Repräsentanten von Ware und daher als Warenbesitzer.“ (MEW 23).
(13) Einer Naturressource kommt natürlich keinerlei Subjektstatus zu. Im Feudalismus sind alle einzelnen nur bezogen auf den Allmächtigen etwas ähnliches wie Subjekte, wobei dem Subjektbegriff bemerkenswerterweise zunächst genau die umgekehrte Konnotation anhaftete, die ihm in seiner modernen Ausprägung zukommt. Subjekte waren die Christenmenschen unterschiedslos, soweit sie dem Willen des Herren unterworfen waren! (Der Terminus Subjekt leitet sich denn auch bezeichnenderweise vom lateinischen Wort subicere her, das soviel wie sich unterwerfen, unterordnen meint. Das Subjekt ist also wörtlich verstanden das Unterworfene, nicht das Erkennende oder gar das Unterwerfende.)
(14) MEW 23.
(15) Mit der Dazwischenkunft von Geld und Kapital kompliziert sich der skizzierte Zusammenhang, an der Grundlogik ändert sich aber nichts. Auch der Kapitalist D und der Arbeiter C affirmieren sich in ganz ähnlicher Weise wie der Kartoffelbesitzer A und der Stuhlbesitzer B als freie Warensubjekte, sobald sie in Beziehung zueinander treten: C will sich reproduzieren. Dieser Wunsch ist zunächst einmal sein reines Privatvergnügen. Er muß zwar nicht die obskure Form eines Stuhls oder von Kartoffeln, dafür die abstrakte Gestalt von Geld annehmen, um gesellschaftliche Relevanz zu erlangen. Zugang zu den Reproduktionsmitteln kann sich C nämlich dummerweise nur über diesen allgemeinen Mittler verschaffen. Zu Geld kann C: aber lediglich kommen wenn er erst einmal selber als Verkäufer auftritt und die einzige Ware feilbietet, die er besitzt, seine Arbeitskraft. D ist es vollkommen gleichgültig, ob C verhungert und auf der Straße liegt oder nicht. D steht nur für den Drang seines Kapitals, sich zu verwerten. Sehr zum Bedauern von D sind dazu aber Arbeitskräfte vonnöten, und so sieht er sich veranlaßt, auf C‘s freundliches Angebot zurückzukommen. C ist es nach wie vor im Grunde scheißegal, was mit dem Kapital von D geschieht er kennt D gar nicht und will ihn gar nicht näher kennenlernen. Dennoch begrüßt er ihn freudig als Käufer, schließt mit ihm seinen Kontrakt und akzeptiert damit stillschweigend dessen Verwertungsbedürfnis. Er tut das nicht aus Liebe und Sympathie für D, sondern um anschließend sein sauer verdientes Quantum Gesellschaftsding in Konsumgüter umzusetzen. Darum was und wie er konsumiert, darf D sich nicht kümmern. C verdingt sich als Arbeiter, damit diese Bestimmung an ihm erlösche, und er jenseits der „Arbeit“, im vorgesellschaftlichen Raum, nach seiner façon selig werde. Wenn wir die gleiche Beziehung aus der Perspektive von D betrachten, so dürfen wir natürlich die „produktive Konsumtion“ der Ware Arbeitskraft nicht mit unmittelbaren konsumtiven Akten verwechseln. Die "produktive Konsumtion“ fällt in die Sphäre der Mittel und ist dementsprechend "öffentlicher“ (u.a. heißt das auch rechtlicher) Regulation zugänglich. Als Konsument von Arbeitskraft ist der Kapitalist nicht einfach genießender Mensch, sondern die Inkarnation von Kapital. Aber auch er ist nicht nur selbstlose Akkumulationsmaschine, das Geldmachen macht nur bezogen auf irgendwelche von ihm selber imaginierten Zwecke Sinn. Die Verwertung ist gesellschaftlicher Selbstzweck; für ihren menschlicher Träger jedoch kann sie nur als Mittel erscheinen. Auch er bedarf von vornherein eines menschlichen allzumenschlichen Bezugspunkts, wie nebulös der auch immer ausfallen mag, um in der Welt der Mittel überhaupt funktionieren zu können.
(16) Dem modernen Individuum mutet es vollkommen „natürlich“ an, daß es im Rahmen seiner zahlungsfähigen Nachfrage und der geltenden Gesetze frei und ohne Rücksicht auf die Meinung einer wie auch immer gearteten Öffentlichkeit über sein Bruchstück des gesellschaftlichen Reichtums verfügen kann. Es würde ihn befremden, auf das Dafürhalten der Öffentlichkeit Rücksicht nehmen zu müssen. Historisch handelt es sich bei dieser vermeintlichen Selbstverständlichkeit allerdings um ein Novum. In allen vorbürgerlichen Formationen, in denen das Geld noch nicht die Funktion des universellen Mittlers innehatte, wäre eine solche asoziale Haltung undenkbar gewesen. Produktion und Verbrauch waren in diesen Gesellschaften gleichermaßen eingebunden in fixierte soziale Lebensformen. Auch wo der Einzelmensch sich konsumtiv reproduzierte, tat er das nie individuell, sondern von vornherein immer schon als Bestandteil eines sozialen Geflechtes, das ihm auch bei dieser Lebensäußerung seinen eng umrissenen Status zuwies. Im Mittelalter war die Kleidung etwa weder nur vitales Grundbedürfnis noch, so wie heute, Ausdruck für die originelle Person, sie war vor allem anderen eine Frage „der sozialen Geltung“ (Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt, Berlin 1979, S.199) und „bezeichnete den Platz des Menschen in seiner Gruppe“ (a.a.0., S. 203). Wer sich nicht standesgemäß kleidete, verstieß damit gegen die gottgewollte Ordnung der Dinge. Die Nahrungsaufnahme unterlag nicht nur religiösen Normierungen. Noch in den Bauernwirtschaften des 19. Jahrhunderts „spiegelte die Tischordnung immer“ eindeutig ebenso „die Arbeitsordnung wieder“ (Reinhard Sieder, Sozialgeschichte der Familie, Frankfurt, 1987, S.57). Auch festlichen Gelegenheiten drückte die Übermacht der Gemeinschaft in vorbürgerlichen Formationen lange ihren Stempel auf. Mittelalterliche Feste werden nicht im geschlossenen Kreis ausgerichtet, sie schlossen immer die Masse der Fremden und Armen als Mittrinker, Mitesser und Geschenkeempfänger mit ein. Durch Freigebigkeit beweist sich der Festherr als Mann von Stand, und verbreitet Ruhm und Ansehen. „Mancher Fürst mag gedacht haben, ... daß er durch diese Festlichkeit zu unendlichen Aufwendungen gezwungen gewesen sei; aber niemand von ihnen durfte sich anmerken lassen, daß ihn sein Gebaren ruinierte.“ (Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter, S.89). Denn nur öffentlich dargestellter und geteilter Reichtum zieht soziale Geltung nach sich, und der ist der eigentliche gesellschaftliche Maßstab. Der mittelalterliche Reichtum figurierte nicht als selbstgenügsamer Selbstzweck. Er war von der sozialen Vorrangstellung seines Trägers nicht ablösbar und machte daher nur Sinn, wenn er auch außerhalb des stillen Kämmerchens präsentiert wurde. Dieser von vornherein auf die Gemeinschaft zugeschnittene Charakter von Konsum erklärt die für diese Gesellschaftsformation so typische Neigung zu Prunk und demonstrativer Verschwendung. Sie bildet aber auch den Hintergrund dafür, daß die Reichen den Inhalt ihrer Schatullen bereitwillig für spirituelle Zwecke zur Verfügung stellten. Diese Form von Gloria in excelsis Deo, die sich in der Errichtung von Kapellen und großzügiger Armenfürsorge äußerte, war dem moderneren verbiestert-sparsamen Protestantismus fremd.
(17) Was unter der Ägide des Werts unbenennbar ist, hat die feministische Debatte zu thematisieren versucht und mit Hausarbeit, bzw. Reproduktionsarbeit bezeichnet. Wie wenig dieser an der wertoffiziellen Seite bürgerlicher Gesellschaftlichkeit geformte Begriff die tatsächlichen Verhältnisse erfassen kann, habe ich an anderer Stelle („Sexus und Arbeit“, in „Krisis“ 12) dargestellt.
(18) Erst der historische Sieg der Arbeitsgesellschaft setzt die „Freizeit“ frei. In der vorbürgerlichen Gesellschaft gibt es zwar in den Oberschichten so etwas wie Muße, aber keine Freizeit, bestimmungslose Zeit. Erst wo die Arbeitswelt sich zu einer fest umrissenen, von allen Beimischungen gereinigten Sondersphäre verselbständigt, gewinnen die übrigen Lebensäußerungen der Menschen im Kontrast dazu eine negative Identität.
(19) Genauso wie das griechische Wort Atom, so bedeutet auch Individuum vom Wortsinn her „daß Unteilbare“ (lat. dividere = teilen). Die moderne Kernphysik hat nachgewiesen, daß die vermeintlich unteilbaren Grundeinheiten der Materie sehr wohl zu zerlegen sind. Die moderne bürgerliche Gesellschaft ist dabei, das von ihr geschaffene Unteilbare, das Individuum, in kleinere Bestandteile auseinanderzudividieren.
(20) Diese beiden relativ modernen Sportarten haben mit dem Fabrikregime vor allem eins gemein, einen Zug zur Entqualifizierung. Laufen kann (fast) jeder, und die monotonen Übungen an den Kraftmaschinen machen den Akteur zu seinem eigenen mitzählenden REFA-Mann. Er vereint in seiner Person Taylor und dessen erstes Versuchskaninchen, einen dummen, aber kräftig gebauten deutschen Einwanderer namens Schmidt.
(21) Die verbreitete Neigung zu symbiotischen Beziehungsformen hat hiec sicher eine ihrer Wuczeln. Der einzige Zugang zu zentralen Momenten der eigenen person geht über die Figur des partners. Sie kiinnen sich unabhängig von ihm gar nicht realisieren. In dieser Konstellation schnurrt eine reale I'erson schnell zu einem Archetypus zusammen.
(22) In unserem Zusammenhang geht es natürlich nicht nur um die objektiven, statistisch faßbaren Paarstrukturen, wir bewegen uns vor allem auf der Ebene der Imagologie. Auch wenn die Frau schließlich doch darauf angewiesen ist, in der Berufswelt zu bestehen und zu funktionieren, so hat dieser Bereich deswegen noch lange nicht die gleiche identitätsstiftende Bedeutung wie für die Männerwelt. Sie mag real so lange und so schwer arbeiten wie ihre männlichen Kollegen, ihr Selbstwertgefühl steht und fällt nicht zwangsläufig allein mit der „Anerkennung“, die ihr in dieser Sphäre zuteil wird. Sie hat eine alternative Identitätsbestimmung in petto, auf die die berufsfixierten Männer schwerlich zurückgreifen können.
(23) zitiert nach Arno Borst, Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt/Berlin 1979, S. 66 f.
(24) A.a.O. S. 66.
(25) Im Mittelalter kommen „Mann“ und „Frau“ nicht in dieser Abstraktheit vor, sie und er sind immer schon Bauer und Bäuerin, Adliger und Adlige, Nonne und Mönch usw. Sie können nicht als solche, sondern nur zusammen mit diesen jeweiligen sozialen Bestimmungen gedacht werden. Die Frau sans phrase entsteht mit der romantischen Liebe.
(26) Die Unzufriedenheit und das stille
Leid in der Beziehung war natürlich seit jeher eine weibliche Domäne.