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Guy Debord:
Die Gesellschaft des Spektakels
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Edition Nautilus
Hamburg, 1978
Vom Autor gebilligte Übersetzung aus dem französischen
von Jean-Jacques Raspaud
Gegenwort an falsche Freunde
Im 'Figaro Litteraire' vom 16. Dezember 1968 waren anläßlich
der Verleihung des 'Sainte Beuve Preises' an Frau Lucie Faure folgende Zeilen
zu lesen:
»Der Vorsitzende Fdgar Faure kam und beglückwünschte
seine Gemahlin artig & damit wurde bewiesen, daß Preisrichter
1968 immer noch zusammenkommen können, ohne daß randaliert wird &
Indessen hätte es zur Beanstandung und sogar zur Gewalt kommen können,
wenn die Preisrichter Guy Debord für sein Buch 'Die Gesellschaft des Spektakels'
preisgekrönt hätten, wie sie es eine Zeitlang wollten. Als wilder
Situationist konnte es Debord nicht akzeptieren, während einer Cocktailpartie
der Konsumgesellschaft von Bourgeois gefeiert zu werden. Davor hatte er seinen
Verleger, Edmond Buchet, wie folgt gewarnt: 'Wie Sie sich denken können,
bin ich radikal gegen alle Literaturpreise. Teilen Sie das also bitte den betreffenden
Personen mit, damit sie diesen Fehlgriff vermeiden. Ich muß sogar zugeben,
daß ich, sollte ein so bedauernswerter Fall eintreten, vermutlich nicht
imstande wäre, die jüngeren Situationisten von Tätlichkeiten
abzuhalten: sie würden bestimmt die Preisrichter angreifen, die eine solche,
von ihnen als eine Beleidigung empfundene Auszeichnung, verleihen.'«
Wie man sieht, Ist die Methode ganz klar und deren Ergebnisse
überzeugend.
»Rekuperiert wird nur derjenige, der es will .« (Situationistische
Internationale No. 12)
Vom gleichen Autor:
Gegen den Film, Filmskripte
Rapport über die Konstruktion von Situationen u.a., Flugschrift
No. 23
Editoren Clara Diabolis, Geier Lust, Attila Eisenherz.
Originaltitel "LA SOCIETE DU SPECTACLE", verlegt bei Edition Buchet-Chastel
Paris November 1967. Erste deutsche Ausgabe - neben Veröffentlichungen
in Portugal, Italien, Grolßbritannien, Dänemark und den USA -
erschien 1971 durch die ,Projektgruppe Gegengesellschaft' Düsseldorf. Diese
erste Publizität war in erster Linie die der speziellen deutschen Rückständigkeit,
in welcher sich gesellschaftlicher Tiefschlaf wie in keinem anderen Land als
gemütsvolle Unschuld präsentiert, und erst in zweiter Linie ein publizistischer
Nachholbedarf. Durch die der ersten Übersetzung eigenen Mängel sah
sich der Autor veranlaßt, das Erscheinen einer durch ihn autorisierten,
dem Original gerecht werdenden deutschsprachigen Übersetzung zu betreiben,
was hiermit geschehen ist. Die geschichtliche Praxis ist es, die dieses Werk
den Ton finden ließ und die daher auch das letzte Wort über dieses
Werk - das gänzlich ihr Werk selbst ist - haben wird.
Autorisierte Ausgabe Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg
Hassestr. 22-205 Hamburg 80
1. Auflage 1978 ISBN 3-921 523-36-2 Satz: Bärbel Skupch,
Würzburg
Stillschweigende Voraussetzungen
»Debord gibt es gern zu, daß er bei der 221. gefunden
hat, er habe genug gesagt; weiter, daß er niemals mehr sagen wollte, als
das, was genau in diesem Buch steht. Ihm ist es nur darauf angekommen, 'unermüdlich'
das zu beschreiben, was das Spektakel ist und wie es gestürzt werden
kann. Daß "diese Idee sich in allen anderen bespiegelt", gerade das halten
wir für das Kennzeichen eines dialektischen Buches. Ein solches
Buch braucht nicht 'voranzugehen', wie eine staatliche Doktorarbeit über
Macchiavelli der Befriedigung der Prüfungskommision und der Erlangung des
Doktortitels entgegenstrebt (und, wie Marx im Nachwort zur 2. deutschen Auflage
des 'Kapitals' über die Art sagt, die als 'Darstellungsweise' der dialektischen
Methode aufgefaßt werden kann, mag diese Spiegelung ,,aussehn, als habe
man es mit einer Konstruktion a priori zu tun"). 'Die Gesellschaft des Spektakels'
macht keinen Hehl aus ihrem vorgefaßten a priori und versucht nicht, ihren
Schluß aus einer Fragestellung akademischer Art herzuleiten; dagegen wurde
sie nur deshalb geschrieben, um das kohärente konkrete Anwendungsgebiet
einer These zu zeigen, die von einer Untersuchung herkommt, die die revolutionäre
Kritik über den modernen Kapitalismus machen konnte. Im wesentlichen ist
es also unserer Meinung nach ein Buch, dem es an nichts außer an einer
oder mehreren Revolutionen fehlt - die unmöglich lange auf sich warten
lassen können.«
»Wie man unsere Bücher nicht versteht« Situationistische
Internationale Nr. 12
1. Kapitel
DIE VOLLENDETE TRENNUNG
"Aber freilich& diese Zeit, welche das Bild der Sache,
die Kopie dem Original, die Vorstellung der Wirklichkeit, den Schein dem Wesen
vorzieht &; denn heilig ist ihr nur die Illusion, profan aber die Wahrheit.
Ja die Heiligkeit steigt in ihren Augen in demselben Maße, als die Wahrheit
ab- und die Illusion zunimmt, so daß der höchste Grad der Illusion
für sie auch der höchste Grad der Heiligkeit ist."
Feuerbach (Das Wesen des Christentums, Vorrede zur zweiten
Auflage.)
- Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen
die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure
Sammlung von Spektakeln. Alles was unmittelbar erlebt wurde, ist in
eine Vorstellung entwichen.
- Die Bilder, die sich von jedem Aspekt des Lebens abgetrennt
haben, verschmelzen in einen gemeinsamen Lauf, in dem die Einheit dieses Lebens
nicht wiederhergestellt werden kann. Die teilweise betrachtete Realität
entfaltet sich in ihrer eigenen allgemeinen Einheit als abgesonderte Pseudo-Welt,
Objekt der bloßen Kontemplation. Die Spezialisierung der Bilder der
Welt findet sich vollendet in der autonom gewordenen Bildwelt wieder, in der
sich das Verlogene selbst belogen hat. Das Spektakel überhaupt ist als
konkrete Verkehrung des Lebens, die eigenständige Bewegung des Unlebendigen.
- Das Spektakel stellt sich zugleich als die Gesellschaft
selbst, als Teil der Gesellschaft und als Vereinigungsinstrument dar.
Als Teil der Gesellschaft ist das Spektakel ausdrücklich der Bereich,
der jeden Blick und jedes Bewußtsein auf sich zieht. Aufgrund dieser
Tatsache, daß dieser Bereich abgetrennt ist, ist er der Ort des
getäuschten Blicks und des falschen Bewußtseins; und die Vereinigung,
die es bewirkt, ist nichts anderes als eine offizielle Sprache der verallgemeinerten
Trennung.
- Das Spektakel ist nicht ein Ganzes von Bildern, sondern
ein durch Bilder vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen
Personen.
- Das Spektakel kann nicht als Übertreibung einer Welt
des Schauens, als Produkt der Techniken der Massenverarbreitung von Bildern
begriffen werden. Es ist vielmehr eine tatsächlich gewordene, ins Materielle
übertragene Weltanschauung. Es ist eine Anschauung der Welt, die
sich vergegenständlicht hat.
- In seiner Totalität begriffen, ist das Spektakel zugleich
das Ergebnis und die Zielsetzung der bestehenden Produktionsweise. Es ist
kein Zusatz zur wirklichen Welt, kein aufgesetzter Zierat. Es ist das Herz
des Irrealismus der realen Gesellschaft. In allen seinen besonderen Formen:
Information oder Propaganda, Werbung oder unmittelbarer Konsum von Zerstreuungen
ist das Spektakel das gegenwärtige Modell des gesellschaftlich
herrschenden Lebens. Es ist die allgegenwärtige Behauptung der in der
Produktion und ihrem korollären Konsum bereits getroffenen Wahl.
Form und Inhalt des Spektakels sind identisch die vollständige Rechtfertigung
der Bedingungen und der Ziele des bestehenden Systems. Das Spektakel ist auch
die ständige Gegenwart dieser Rechtfertigung, als Beschlagnahme
des hauptsächlichen Teils der außerhalb der modernen Produktion
erlebten Zeit.
- Die Trennung selbst gehört zur Einheit der Welt, zur
globalen gesellschaftlichen Praxis, die sich in Realität und Bild aufgespalten
hat. Die gesellschaftliche Praxis, vor die sich das autonome Spektakel stellt,
ist auch die das Spektakel umfassende wirkliche Totalität. Aber die Aufspaltung
dieser Totalität verstümmelt sie so sehr, daß sie das Spektakel
als ihren Zweck erscheinen läßt. Die Sprache des Spektakels besteht
aus Zeichen der herrschenden Produktion, die zugleich der letzte Zweck
dieser Produktion sind.
- Das Spektakel und die wirkliche gesellschaftliche Tätigkeit
lassen sich nicht abstrakt einander entgegensetzen; diese Verdoppelung ist
selbst doppelt. Das Spektakel, das das Wirkliche verkehrt, wird wirklich erzeugt.
Zugleich wird die erlebte Wirklichkeit durch die Kontemplation des Spektakels
materiell überschwemmt und nimmt in sich selbst die spektakuläre
Ordnung wieder auf, indem sie ihr eine positive Zustimmung gibt. Die objektive
Realität ist auf beiden Seiten vorhanden. Jeder so festgesetzte Begriff
gründet sich nur auf seinen Übergang in die Gegenseite. Ins Spektakel
tritt die Wirklichkeit ein, und das Spektakel ist wirklich. Diese gegenseitige
Entfremdung ist das Wesen und die Stütze der bestehenden Gesellschaft.
- In der wirklich verkehrten Welt ist das Wahre ein
Moment des Falschen.
- Der Begriff des Spektakels vereinigt und erklärt eine
große Mannigfaltigkeit von erscheinenden Phänomenen. Ihre Verschiedenheiten
und Kontraste sind die Erscheinungen dieses gesellschaftlich veranstalteten
Scheins, der in seiner allgemeinen Wahrheit erkannt werden muß. Das
Spektakel ist, seinen eigenen Begriffen nach betrachtet, die Behauptung des
Scheins und die Behauptung jedes menschlichen, d.h. gesellschaftlichen
Lebens als eines bloßen Scheins. Aber die Kritik, die die Wahrheit des
Spektakels trifft, entdeckt es als die sichtbare Negation des Lebens;
als eine Negation des Lebens, die sichtbar geworden ist.
- Untrennbare Elemente müssen künstlich unterschieden
werden, um das Spektakel, seine Herausbildung und seine Funktionen sowie die
Kräfte, die zu seiner Auflösung hinstreben, zu beschreiben. Bei
der Analyse des Spektakels muß in einem gewissen Maß die
Sprache des Spektakulären geredet werden, insofern dabei der methodologische
Boden dieser Gesellschaft, die sich im Spektakel ausdrückt, betreten
wird. Aber das Spektakel ist nichts anderes als der Sinn der ganzen
Praxis einer ökonomischen Gesellschaftsformation, sein Zeitplan.
Es ist der geschichtliche Moment, in dem wir enthalten sind.
- Das Spektakel stellt sich als eine ungeheure, unbestreitbare
und unerreichbare Positivität dar. Es sagt nichts mehr als: "Was erscheint,
das ist gut; und was gut ist, das erscheint." Die durch das Spektakel prinzipiell
geforderte Haltung ist diese passive Hinnahme, die es schon durch seine Art,
unwiderlegbar zu erscheinen, durch sein Monopol des Scheins, faktisch erwirkt
hat.
- Der zutiefst tautologische Charakter des Spektakels geht
aus der bloßen Tatsache hervor, daß seine Mittel zugleich sein
Zweck sind. Es ist die Sonne, die über dem Reich der modernen Passivität
nie untergeht. Es deckt die ganze Oberfläche der Welt und badet sich
endlos in seinem eigenen Ruhm.
- Die Gesellschaft, die auf der modernen Industrie beruht,
ist nicht zufällig oder oberflächlich spektakulär, sie ist
zutiefst spektakularistisch. Im Spektakel, dem Bild der herrschenden
Wirtschaft, ist das Endziel nichts, die Entwicklung alles. Das Spektakel will
es zu nichts anderem bringen als zu sich selbst.
- Als unerläßlicher Schmuck der jetzt erzeugten
Waren, als allgemeine Darstellung der Rationalität des Systems und als
fortgeschrittener Wirtschaftsbereich, der unmittelbar eine wachsende Menge
von Objekt-Bildern gestaltet, ist das Spektakel die hauptsächliche
Produktion der heutigen Gesellschaft.
- Das Spektakel unterjocht sich die lebendigen Menschen, insofern
die Wirtschaft sie gänzlich unterjocht hat. Es ist nichts als die sich
für sich selbst entwickelnde Wirtschaft. Es ist der getreue Widerschein
der Produktion der Dinge und die ungetreue Vergegenständlichung der Produzenten.
- Die erste Phase der Herrschaft der Wirtschaft über
das gesellschaftliche Leben hatte in der Definition jeder menschlichen Realisierung
eine offensichtliche Degradierung des Seins zum Haben mit sich
gebracht. Die gegenwärtige Phase der völligen Beschlagnahme des
gesellschaftlichen Lebens durch die akkumulierten Ergebnisse der Wirtschaft
führt zu einer verallgemeinerten Verschiebung vom Haben zum Scheinen,
aus welchem jedes tatsächliche "Haben" sein unmittelbares Prestige und
seinen letzten Zweck beziehen muß. Zugleich ist jede individuelle Wirklichkeit
gesellschaftlich geworden, direkt von der gesellschaftlichen Macht abhängig
und von ihr geformt. Nur sofern sie nicht ist, darf sie erscheinen.
- Da, wo sich die wirkliche Welt in bloße Bilder verwandelt,
werden die bloßen Bilder zu wirklichen Wesen und zu den wirkenden Motivierungen
eines hypnotischen Verhaltens. Das Spektakel als Tendenz, durch verschiedene
spezialisierte Vermittlungen die nicht mehr unmittelbar greifbare Welt zur
Schau zu stellen, findet normalerweise im Sehen den bevorzugten menschlichen
Sinn, der zu anderen Zeiten der Tastsinn war; der abstrakteste und mystifizierbarste
Sinn entspricht der verallgemeinerten Abstraktion der heutigen Gesellschaft.
Das Spektakel läßt sich jedoch nicht mit dem bloßen Zusehen
identifizieren, wenn dieses auch mit dem Zuhören kombiniert wäre.
Das Spektakel ist das, was der Tätigkeit der Menschen, der Wiedererwägung
und der Berichtigung ihres Werkes entgeht. Es ist das Gegenteil des Dialogs.
Überall, wo es unabhängige Vorstellung gibt, baut sich das
Spektakel wieder auf.
- Das Spektakel hat die ganze Schwäche des abendländisch-philosophischen
Entwurfes geerbt, der in einem von den Kategorien des Sehens beherrschten
Begreifen der Tätigkeit bestand; so wie es sich auch auf die unaufhörliche
Entfaltung der genauen, technischen Rationalität, die aus diesem Gedanken
hervorgegangen ist, gründet. Es verwirklicht nicht die Philosophie, es
philosophiert die Wirklichkeit. Das konkrete Leben aller ist es, welches sich
zu einem spektakulären Universum degradiert hat.
- Als Gewalt des getrennten Gedankens und als Gedanke der
getrennten Gewalt, ist es der Philosophie nie durch eigene Kraft gelungen,
die Theologie aufzuheben. Das Spektakel ist der materielle Wiederaufbau der
religiösen Illusion. Die spektakuläre Technik hat die religiösen
Wolken nicht aufgelöst, in die die Menschen ihre von ihnen losgerissenen,
eigenen Kräfte gesetzt hatten: sie hat sie nur mit einer weltlichen Grundlage
verbunden. So ist es das irdischste Leben, welches undurchsichtig und erstickend
wird. Es verweist nicht mehr auf den Himmel, sondern beherbergt bei sich seine
absolute Verwerfung, sein trügerisches Paradies. Das Spektakel ist die
technische Verwirklichung der Verbannung der menschlichen Kräfte in ein
Jenseits; die vollendete Entzweiung im Innern des Menschen.
- Je nachdem wie die Notwendigkeit gesellschaftlich geträumt
wird, wird der Traum notwendig. Das Spektakel ist der schlechte Traum der
gefesselten, modernen Gesellschaft, der schließlich nur ihren Wunsch
zu schlafen ausdrückt. Das Spektakel ist der Wächter dieses Schlafes.
- Die Tatsache, daß die praktische Macht der modernen
Gesellschaft sich von selbst abgehoben und sich ein selbständiges Reich
im Spektakel fixiert hat, ist nur aus dieser anderen Tatsache, daß diese
mächtige Praxis immer noch selbstzerrissen und sichselbstwidersprechend
geblieben war, zu erklären.
- Die älteste gesellschaftliche Spezialisierung ist es,
die Spezialisierung der Gewalt, die an der Wurzel des Spektakels liegt. Das
Spektakel ist somit eine spezialisierte Tätigkeit, die für die Gesamtheit
der anderen Tätigkeiten spricht. Es ist die diplomatische Repräsentation
der hierarchischen Gesellschaft vor sich selbst, wo jedes andere Wort verbannt
ist. Hier ist das Modernste auch das Archaischste.
- Das Spektakel ist die ununterbrochene Rede, die die gegenwärtige
Ordnung über sich selbst hält, ihr lobender Monolog. Es ist das
Selbstportrait der Macht in der Epoche ihrer totalitären Verwaltung der
Existenzberechtigungen. Der fetischistische Schein reiner Objektivität
in den spektakulären Beziehungen verbirgt deren Charakter als Beziehung
zwischen Menschen und zwischen Klassen: eine zweite Natur scheint unsere Umwelt
mit ihren unvermeidlichen Gesetzen zu beherrschen. Aber das Spektakel ist
nicht dieses notwendige Produkt der als eine natürliche Entwicklung
betrachteten technischen Entwicklung. Die Gesellschaft des Spektakels ist
im Gegenteil die Form, die ihren eigenen technischen Inhalt wählt. Wenn
das Spektakel, - unter dem engeren Gesichtspunkt der "Massenkommunikationsmittel"
genommen, die seine erdrückendste Oberflächenerscheinung sind -,
als einfache Instrumentierung auf die Gesellschaft überzugreifen scheinen
kann, so ist diese Instrumentierung in Wirklichkeit nichts Neutrales, sondern
genau die Instrumentierung, die seiner ganzen Selbstbewegung entspricht. Wenn
die gesellschaftlichen Bedürfnisse der Epoche, in der sich solche Techniken
entwickeln, nur durch die Vermittlung dieser Techniken befriedigt werden können,
wenn die Verwaltung dieser Gesellschaft sowie jeder Kontakt zwischen den Menschen
nur mittels dieser Macht augenblicklicher Kommunikation stattfinden können,
ist dafür der Grund, daß diese "Kommunikation" wesentlich einseitig
ist; folglich läuft ihre Konzentrierung darauf hinaus, in den Händen
der Verwaltung des bestehenden Systems die Mittel anzuhäufen, die es
ihm erlauben, diese bestimmte Verwaltung fortzuführen. Die verallgemeinerte
Entzweiung des Spektakels ist untrennbar vom modernen Staat, -
d.h. von der allgemeinen Form der Entzweiung in der Gesellschaft -, dem
Produkt der Teilung der gesellschaftlichen Arbeit und dem Werkzeug der Klassenherrschaft.
- Die Trennung ist das Alpha und Omega des Spektakels.
Die Institutionalisierung der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit und die
Herausbildung der Klassen hatten eine erste heilige Kontemplation gebaut,
die mythische Ordnung, mit der sich jede Macht schon von Urbeginn an umhüllt.
Das Heilige hat die kosmische und ontologische Anordnung gerechtfertigt, die
den Interessen der Herren entsprach und es hat das erklärt und beschönigt,
was die Gesellschaft nicht tun konnte. Also war jede getrennte Macht
spektakulär, aber die Zustimmung aller zu einem solchen feststehenden
Bild bedeutete nur die gemeinsame Anerkennung einer imaginären Verlängerung
für die Armut der wirklichen gesellschaftlichen Tätigkeit, die noch
sehr viel als einheitliche Bedingung empfunden wurde. Im Gegenteil drückt
das moderne Spektakel das aus, was die Gesellschaft tun kann, aber
in dieser Äußerung stellt sich das Erlaubte absolut dem
Möglichen entgegen. Das Spektakel ist die Erhaltung der Bewußtlosigkeit
in der praktischen Veränderung der Existenzbedingungen. Das Spektakel
ist sein eigenes Produkt, es selbst ist es, das seine Regeln aufgestellt hat:
es ist ein Pseudo-Heiliges. Es zeigt was es ist: die getrennte Macht,
welche - bei dem Produktivitätswachstum durch die unaufhörliche
Verfeinerung der Teilung der Arbeit zur Zerstückelung der zugleich von
der unabhängigen Maschinenbewegung beherrschten Gesten - sich in
sich selbst entwickelt und für einen stets weiteren Markt arbeitet. Jedes
Gemeinwesen und jeder kritische Sinn haben sich während dieser ganzen
Bewegung aufgelöst, in der sich die Kräfte, die bei ihrer Trennung
wachsen konnten, noch nicht wiedergefunden haben.
- Bei der verallgemeinerten Trennung des Arbeiters von seinem
Produkt geht jeder einheitliche Überblick über die ausgeführte
Tätigkeit, jede persönliche, direkte Mitteilung zwischen den Produzenten
verloren. Im Laufe des Fortschritts der Akkumulation der getrennten Produkte
und der Konzentration des Produktionsprozesses werden die Einheit und die
Mitteilung zum ausschließenden Attribut der Systemleitung. Das Gelingen
des wirtschaftlichen Systems der Trennung ist die Proletarisierung der
Welt.
- Am Pol der Entwicklung des Systems verschiebt sich durch
das Gelingen selbst der getrennten Produktion als Produktion des Getrennten
die Grunderfahrung, die in den Urgesellschaften mit einer hauptsächlichen
Arbeit verbunden war, zur Nichtarbeit und zur Untätigkeit. Doch diese
Untätigkeit ist keineswegs von der Produktionstätigkeit befreit:
sie hängt von ihr ab, sie ist unruhige und bewundernde Unterwerfung unter
die Erfordernisse und Ergebnisse der Produktion; sie ist selbst ein Produkt
von deren Rationalität. Außerhalb der Tätigkeit kann es keine
Freiheit geben, und im Rahmen des Spektakels wird jede Tätigkeit verneint,
genauso wie die wirkliche Tätigkeit vollständig für den Gesamtaufbau
dieses Ergebnisses aufgefangen worden ist. Daher ist die heutige "Befreiung
von der Arbeit", die Ausdehnung der Freizeit, keineswegs Befreiung in der
Arbeit oder Befreiung einer durch diese Arbeit geformten Welt. Nichts von
der in der Arbeit gestohlenen Tätigkeit kann sich in der Unterwerfung
unter ihr Ergebnis wiederfinden.
- Das auf die Vereinzelung gegründete Wirtschaftssystem
ist eine zirkuläre Produktion der Vereinzelung. Die Vereinzelung
begründet die Technik und der technische Prozeß vereinzelt rückwirkend.
Alle durch das spektakuläre System ausgewählten Güter,
vom Auto bis zum Fernsehen sind auch seine Waffen, um beständig die Vereinzelungsbedingungen
der "einsamen Massen" zu verstärken. Das Spektakel findet immer konkreter
seine eigenen Voraussetzungen wieder.
- Der Ursprung des Spektakels ist der Verlust der Einheit
der Welt, und die riesengroße Ausbreitung des modernen Spektakels drückt
die Vollständigkeit dieses Verlustes aus: die Abstraktion jeder besonderen
Arbeit und die allgemeine Abstraktion der Gesamtproduktion äußern
sich vollkommen im Spektakel, dessen konkrete Seinsweise gerade die
Abstraktion ist. Im Spektakel stellt sich ein Teil der Welt vor der
Welt dar, und ist über sie erhaben. Das Spektakel ist nur die
gemeinschaftliche Sprache dieser Trennung. Was die Zuschauer miteinander verbindet,
ist nur ein irreversibles Verhältnis zum Zentrum selbst, das ihre Vereinzelung
aufrechterhält. Das Spektakel vereinigt das Getrennte, aber nur als
Getrenntes.
- Die Entfremdung des Zuschauers zugunsten des angeschauten
Objekts (das das Ergebnis seiner eigenen bewußtlosen Tätigkeit
ist) drückt sich so aus: je mehr er zuschaut, um so weniger lebt er;
je mehr er sich in den herrschenden Bildern des Bedürfnisses wiederzuerkennen
akzeptiert, um so weniger versteht er seine eigene Existenz und seine eigene
Begierde. Die Äußerlichkeit des Spektakels im Verhältnis zum
tätigen Menschen erscheint darin, daß seine eigenen Gesten nicht
mehr ihm gehören, sondern einem anderen, der sie ihm vorführt. Der
Zuschauer fühlt sich daher nirgends zu Hause, denn das Spektakel ist
überall.
- Der Arbeiter produziert nicht sich selbst, sondern eine
unabhängige Macht. Der Erfolg dieser Produktion, ihr Überfluß,
kehrt zum Produzenten als Überfluß der Enteignung zurück.
Die ganze Zeit und der ganze Raum seiner Welt werden ihm bei der Akkumulation
seiner entfremdeten Produkte fremd. Das Spektakel ist die Landkarte
dieser neuen Welt, eine Landkarte, die genau ihr Territorium deckt. Eben die
Kräfte, die uns entgangen sind, zeigen sich uns in ihrer ganzen
Macht.
- Das Spektakel in der Gesellschaft entspricht einer konkreten
Herstellung der Entfremdung. Die wirtschaftliche Expansion ist hauptsächlich
die Expansion dieser bestimmten industriellen Produktion. Was mit der sich
für sich selbst bewegenden Wirtschaft anwächst, kann nur die Entfremdung
sein, die gerade in ihrem ursprünglichen Kern enthalten war.
- Der von seinem Produkt getrennte Mensch produziert immer
machtvoller alle Einzelheiten seiner Welt und findet dadurch immer mehr von
seiner Welt getrennt. Je mehr sein Leben jetzt sein Produkt ist, um so mehr
ist er von seinem Leben getrennt.
- Das Spektakel ist das Kapital, das einen solchen
Akkumulationsgrad erreicht, daß es zum Bild wird.
2. Kapitel
DIE WARE ALS SPEKTAKEL
"Denn nur als Universalkategorie des gesamten gesellschaftlichen
Seins ist die Ware in ihrer unverfälschten Wesensart begreifbar. Erst in
diesem Zusammenhang gewinnt die durch das Warenverhältnis entstandene Verdinglichung
eine entscheidende Bedeutung sowohl für die objektive Entwicklung der Gesellschaft
wie für das Verhalten der Menschen zu ihr; für das Unterworfenwerden
ihres Bewußtseins den Formen, in denen sich diese Verdinglichung ausdrückt &.
Diese Willenlosigkeit steigert sich noch dadurch, daß mit zunehmender
Rationalisierung und Mechanisierung des Arbeitsprozesses die Tätigkeit
des Arbeiters immer stärker ihren Tätigkeitscharakter verliert und
zu einer kontemplativen Haltung wird."
Lukacs (Geschichte und Klassenbewußtsein).
- An dieser wesentlichen Bewegung des Spektakels,
die darin besteht, alles in sich aufzunehmen, was in der menschlichen Tätigkeit
in flüssigem Zustand war, um es in geronnenem Zustand als Dinge
zu besitzen, die durch die negative Umformulierung des erlebten Wertes
zum ausschließlichen Wert geworden sind - erkennen wir unsere alte
Feindin wieder, die so leicht auf den ersten Blick ein selbstverständliches,
triviales Ding scheint, während sie doch im Gegenteil ein sehr vertracktes
Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit: die Ware.
- Das Prinzip des Warenfetischismus ist es, d.h. die Beherrschung
der Gesellschaft durch "sinnliche übersinnliche Dinge", das sich absolut
im Spektakel vollendet, wo die sinnliche Welt durch eine über ihr schwebende
Auswahl von Bildern ersetzt wird, welche sich zugleich als das Sinnliche schlechthin
hat anerkennen lassen.
- Die zugleich anwesende und abwesende Welt, die das Spektakel
zur Schau stellt, ist die jedes Erlebnis beherrschende Warenwelt. Und
die Warenwelt wird auf diese Weise gezeigt genau wie sie ist, denn
ihre Bewegung ist identisch mit der Entfernung der Menschen voneinander
und ihrem Gesamtprodukt gegenüber.
- Der auf allen Ebenen der spektakulären Sprache so offensichtliche
Qualitätsverlust der von ihr gepriesenen Gegenstände und der von
ihr geregelten Verhaltensweisen drückt nur die Grundmerkmale der wirklichen
Produktion aus, die die Wirklichkeit beseitigt: die Warenform ist durch und
durch die Mitsichselbstgleichheit, die Kategorie des Quantitativen. Das Quantitative
ist es, das sie entwickelt, und in ihm nur kann sie sich entwickeln.
- Diese Entwicklung, die das Qualitative ausschließt,
untersteht selbst als Entwicklung dem qualitativen Übergang: das Spektakel
bedeutet, daß sie die Schwelle ihres eigenen Überflusses überschritten
hat; dies ist lokal erst auf einigen Punkten wahr, dennoch trifft es bereits
im Weltmaßstabe zu, der der Urmaßstab ist, und ihre praktische
Bewegung hat diesen Maßstab bestätigt, indem sie die ganze Erde
als Weltmarkt umfaßt.
- Die Entwicklung der Produktivkräfte war die bewußtlose
wirkliche Geschichte, die die Existenzbedingungen der Menschengruppen
als Überlebensbedingungen und als deren Erweiterung aufgebaut und verändert
hat; die ökonomische Basis all ihrer Unternehmungen. Innerhalb einer
Naturalwirtschaft bestand der Bereich der Ware in der Schaffung eines Überschusses
an Überleben. Die Warenproduktion, die den Austausch verschiedenartiger
Produkte zwischen unabhängigen Produzenten voraussetzt, konnte lange
handwerkmäßig, in einer wirtschaftlichen Randfunktion beschränkt
bleiben, worin ihre quantitative Wahrheit noch verdeckt ist. Da jedoch, wo
sie die gesellschaftlichen Bedingungen des Großhandels und der Kapitalakkumulation
antraf, bemächtigte sie sich der gesamten Wirtschaft. Die ganze Wirtschaft
ist also zu dem geworden, als was sich die Ware bei dieser Eroberung erwiesen
hatte: zu einem Prozeß quantitativer Entwicklung. Diese unaufhörliche
Entfaltung der wirtschaftlichen Macht in der Form der Ware, die die menschliche
Arbeit zur Ware Arbeit, zur Lohnarbeit, umgebildet hat, führte
kumulativ zu einem Überfluß, in dem die Grundfrage des Überlebens
zweifelsohne gelöst wird, aber so daß sie immer wiederkehren muß;
sie wird jedesmal wieder auf einer höheren Stufe gestellt. Das Wirtschaftswachstum
befreit die Gesellschaften vom natürlichen Druck, der ihren unmittelbaren
Überlebenskampf erforderte, nun aber sind sie von ihrem Befreier nicht
befreit. Die Unabhängigkeit der Ware hat sich auf das Ganze der
von ihr beherrschten Wirtschaft ausgedehnt. Die Wirtschaft verwandelt die
Welt, aber nur in eine Welt der Wirtschaft. Die Pseudonatur, in der sich die
menschliche Arbeit entfremdet hat, erfordert, daß ihr Dienst endlos
fortgesetzt wird, und da dieser Dienst nur von sich selbst beurteilt und freigesprochen
wird, erlangt er in der Tat die Gesamtheit der gesellschaftlich zulässigen
Bemühungen und Vorhaben als seine Diener. Der Überfluß der
Waren, d.h. des Warenverhältnisses, kann nicht mehr als das vermehrte
Überleben sein.
- Die Ware hat ihre Herrschaft über die Wirtschaft zuerst
verdeckt ausgeübt, und diese Wirtschaft selbst blieb als materielle Grundlage
des gesellschaftlichen Lebens unbemerkt und unbegriffen, so wie das Bekannte
überhaupt darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt ist. In einer Gesellschaft,
in der die konkrete Ware selten oder in der Minderheit bleibt, stellt sich
die scheinbare Herrschaft des Geldes als der mit unumschränkter Vollmacht
versehene Gesandte dar, der im Namen einer unbekannten Macht spricht. Mit
dem Eintreten der industriellen Revolution, der manufakturmäßigen
Teilung der Arbeit und der massenhaften Produktion für den Weltmarkt
erscheint die Ware tatsächlich als eine Macht, die das gesellschaftliche
Leben wirklich in Beschlag nimmt. Zu dieser Zeit bildet sich die politische
Ökonomie als herrschende Wissenschaft und als Wissenschaft der Herrschaft
heraus.
- Das Spektakel ist der Moment, in welchem die Ware zur völligen
Beschlagnahme des gesellschaftlichen Lebens gelangt ist. Das Verhältnis
zur Ware ist nicht nur sichtbar; sondern man sieht nichts anderes mehr: die
Welt, die man sieht, ist seine Welt. Die moderne Wirtschaftsproduktion dehnt
ihre Diktatur extensiv aus. An den am wenigsten industrialisierten Orten ist
ihr Reich schon durch einige Star-Waren und als imperialistische Herrschaft
der an der Spitze der Produktivitätsentwicklung stehenden Zonen vorhanden.
In diesen fortgeschrittenen Zonen wird der gesellschaftliche Raum durch eine
ununterbrochene Übereinanderlagerung geologischer Warenschichten überschwemmt.
An diesem Punkt der "zweiten industriellen Revolution" wird neben der entfremdeten
Produktion der entfremdete Konsum zu einer zusätzlichen Pflicht für
die Massen. Die ganze verkaufte Arbeit einer Gesellschaft wird völlig
zur Gesamtware, deren Kreislauf sich fortsetzen muß. Dazu muß
diese Gesamtware dem fragmentarischen Individuum, das von den als ein Ganzes
wirkenden Produktivkräften absolut getrennt ist, fragmentarisch zurückkehren.
Hier muß sich gerade die spezialisierte Wissenschaft der Herrschaft
ihrerseits spezialisieren: sie zerbröckelt in Soziologie Psychotechnik,
Kybernetik, Semiologie usw., und wacht über die Selbstregulierung aller
Stufen des Prozesses.
- Während in der ursprünglichen Phase der kapitalistischen
Akkumulation "die Nationalökonomie den Proletarier nur als Arbeiter
betrachtet", der das zur Erhaltung seiner Arbeitskraft unentbehrliche
Minimum bekommen muß, ohne ihn jemals "in seiner arbeitslosen Zeit,
als Mensch" zu betrachten, kehrt sich diese Denkweise der herrschenden Klasse
um, sobald der in der Warenproduktion erreichte Überflußgrad vom
Arbeiter einen Überschuß von Kollaboration erfordert. Dieser Arbeiter,
von der vollständigen Verachtung plötzlich reingewaschen, die ihm
durch alle Organisations- und Überwachungsbedingungen der Produktion
deutlich gezeigt wird, findet sich jeden Tag außerhalb dieser Produktion,
in der Verkleidung des Konsumenten, mit überaus zuvorkommender Höflichkeit
scheinbar wie ein Erwachsener behandelt. Da nimmt der Humanismus der Ware
den Arbeiter "in seiner arbeitslosen Zeit und als Mensch" in die Hand
ganz einfach deswegen, weil die politische Ökonomie diese Sphären
beherrschen kann und muß. So hat "die konsequente Durchführung
der Verleugnung des Menschen" die Ganzheit der menschlichen Existenz in die
Hand genommen.
- Das Spektakel ist ein ständiger Opiumkrieg, um die
Identifizierung der Güter mit den Waren und auch die der Zufriedenheit
mit dem sich nach seinen eigenen Gesetzen vermehrenden Überleben aufzuzwingen.
Wenn aber das konsumierbare Überleben etwas ist, das sich ständig
vermehren muß, so deshalb, weil es die Entbehrung immer noch
enthält. Wenn es kein Jenseits des vermehrten Überlebens
gibt, keinen Punkt, an dem dieses Überleben sein Wachstum beenden könnte,
so deshalb, weil es selbst nicht jenseits der Entbehrung liegt, sondern die
reicher gewordene Entbehrung ist.
- Mit der Automation, die der fortgeschrittenste Bereich der
modernen Industrie und zugleich das Modell ist, in dem sich deren Praxis vollkommen
zusammenfaßt, muß die Warenwelt den folgenden Widerspruch überwinden:
die technische Instrumentierung, die objektiv die Arbeit abschafft, muß
gleichzeitig die Arbeit als Ware und als einzigen Geburtsort der Ware
erhalten. Damit die Automation oder jede andere weniger extreme Form der Produktivitätssteigerung
der Arbeit, die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit wirklich nicht verkürzt,
müssen neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Der Tertiärsektor,
die Dienstleistungen sind das ungeheure Ausdehnungsfeld für die Etappenlinien
der Distributions- und Lobpreisungsarmee der heutigen Waren; gerade in der
Künstlichkeit der Bedürfnisse nach solchen Waren findet diese Mobilisierung
von Ergänzungskräften glücklich die Notwendigkeit einer solchen
Organisation der Nachhut-Arbeit vor.
- Der Tauschwert konnte sich nur als Agent des Gebrauchswerts
bilden, aber sein durch seine eigenen Waffen errungener Sieg hat die Bedingungen
seiner autonomen Herrschaft geschaffen. Durch die Mobilisierung jedes menschlichen
Gebrauchs und die Ergreifung des Monopols von dessen Befriedigung ist der
Tauschwert endlich dazu gekommen, den Gebrauch zu steuern. Der Tauschprozeß
hat sich mit jedem möglichen Gebrauch identifiziert und hat ihn auf seine
Gnade und Ungnade unterjocht. Der Tauschwert ist der Kondottiere des Gebrauchswertes,
der endlich den Krieg für seine eigene Tasche führt.
- Jene Konstante der kapitalistischen Wirtschaft, die in dem
tendenziellen Fall des Gebrauchswerts besteht, entwickelt eine neue Form
der Entbehrung innerhalb des vermehrten Überlebens; dieses ist ebensowenig
von der alten Not befreit, da es die Mitwirkung der großen Mehrheit
der Menschen als Lohnarbeiter zur endlosen Fortsetzung seines Strebens fordert
und da jeder weiß, daß er sich entweder unterwerfen oder sterben
muß. Die Wirklichkeit dieser Erpressung, d.h. die Tatsache, daß
der Gebrauch in seiner ärmsten Form (Essen, Wohnen) nur noch besteht,
soweit er im Scheinreichtum des vermehrten Überlebens eingeschlossen
bleibt, ist die wirkliche Grundlage dafür, daß die Täuschung
überhaupt beim Konsum der modernen Waren hingenommen wird. Der wirkliche
Konsument wird zu einem Konsumenten von Illusionen; Die Ware ist diese wirkliche
Illusion und das Spektakel ihre allgemeine Äußerung.
- Der Gebrauchswert, der im Tauschwert implizit mit inbegriffen
war, muß jetzt in der verkehrten Realität des Spektakels explizit
verkündet werden, und zwar gerade weil seine Wirklichkeit durch die überentwickelte
Warenwirtschaft zersetzt wird und weil eine Pseudorechtfertigung zum falschen
Leben nötig wird.
- Das Spektakel ist die andere Seite des Geldes: das abstrakte
allgemeine Äquivalent aller Waren. Wenn aber das Geld als Vertretung
der zentralen Äquivalenz, d.h. als Vertretung der vielfältigen Güter --
deren Gebrauch unvergleichbar blieb -- die Gesellschaft beherrscht hat,
ist das Spektakel seine moderne, entwickelte Ergänzung, in der die Totalität
der Warenwelt als allgemeine Äquivalenz mit all dem, was die Gesamtheit
der Gesellschaft sein und tun kann, im ganzen erscheint: Das Spektakel ist
das Geld, das man nur anblickt, denn das Ganze des Gebrauchs hat sich
in ihm schon gegen das Ganze der abstrakten Vorstellung ausgetauscht. Das
Spektakel ist nicht nur der Diener des Pseudogebrauchs, es ist bereits
in sich selbst der Pseudogebrauch des Lebens.
- Beim wirtschaftlichen Überfluß wird das
konzentrierte Ergebnis der gesellschaftlichen Arbeit augenscheinlich und unterwirft
jede Realität dem Schein, der nun sein Produkt ist. Das Kapital ist nicht
mehr das unsichtbare Zentrum, das die Produktionsweise leitet: seine Akkumulation
breitet es in der Form von sinnlichen Gegenständen bis an die Peripherie
aus. Die ganze Ausdehnung der Gesellschaft ist sein Porträt.
- Der Sieg der autonomen Wirtschaft muß zugleich ihr
Untergang sein. Die Kräfte, die sie entfesselt hat, beseitigen die wirtschaftliche
Notwendigkeit, die die unwandelbare Grundlage der alten Gesellschaften
war. Wenn diese autonome Wirtschaft durch die Notwendigkeit der endlosen wirtschaftlichen
Entwicklung die wirtschaftliche Notwendigkeit ersetzt, kann sie nur die Befriedigung
der summarisch anerkannten ersten menschlichen Bedürfnisse durch eine
ununterbrochene Erzeugung von Pseudobedürfnissen ersetzen, die sich auf
das einzige Pseudobedürfnis der Aufrechterhaltung ihres Reichs zurückführen
lassen. Die autonome Wirtschaft aber hebt sich für immer vom tiefen Bedürfnis
im gleichen Maße ab, wie sie aus dem gesellschaftlichen Unbewußten
heraustritt, das von ihr abhing, ohne es zu wissen. "Alles, was bewußt
ist, nutzt sich ab. Was unbewußt ist, bleibt unveränderlich. Aber
wenn es einmal befreit ist, zerfällt es dann nicht seinerseits?" (Freud.)
- In dem Moment, in dem die Gesellschaft entdeckt, daß
sie von der Wirtschaft abhängt, hängt die Wirtschaft tatsächlich
von ihr ab. Diese unterirdische Macht, die bis zu ihrem souveränen Erscheinen
wuchs, hat auch ihre Macht verloren. Wo das wirtschaftliche Es war,
muß das Ich werden. Das Subjekt kann nur aus der Gesellschaft,
d.h. aus dem Kampf, der in ihr selbst ist, hervorgehen. Seine mögliche
Existenz hängt von den Ergebnissen des Klassenkampfs ab, der sich als
Produkt und Produzent der wissenschaftlichen Grundlegung der Geschichte offenbart.
- Das Bewußtsein der Begierde und die Begierde des Bewußtseins
sind identisch derjenige Entwurf, der in seiner negativen Form die Aufhebung
der Klassen will, d.h. die unmittelbare Herrschaft der Arbeiter über
alle Momente ihrer Tätigkeit. Sein Gegenteil ist die Gesellschaft
des Spektakels, in der die Ware sich selbst in einer von ihr geschaffenen
Welt anschaut.
3. Kapitel
EINHEIT UND TEILUNG IM SCHEIN
"An der Front der Philosophie durchzieht eine neue lebhafte
Polemik das Land über die Begriffe "eins teilt sich in zwei" und "zwei
vereinigen sich zu einem". Dieser Streit ist ein Kampf zwischen denjenigen,
die für, und denjenigen, die gegen die materialistische Dialektik sind,
ein Kampf zwischen zwei Weltanschauungen, der proletarischen und der bürgerlichen.
Diejenigen, die die Meinung verfechten, daß "sich eins in zwei teilt"
das grundlegende Gesetz der Dinge ist, stehen auf der Seite der materialistischen
Dialektik; diejenigen, die die Meinung verfechten, daß "sich zwei zu einem
vereinigen", sind Gegner der materialistischen Dialektik. Die beiden Seiten
haben eine klare Demarkationslinie zwischen einander gezogen, und ihre Argumente
sind diametral entgegengesetzt. Diese Polemik spiegelt auf der ideologischen
Ebene den zugespitzten und komplexen Klassenkampf wider, der sich in China und
in der Welt abspielt."
Die Rote Fahne - Peking, 21. September 1964
- Wie die moderne Gesellschaft ist das Spektakel
zugleich geeint und geteilt. Wie sie baut es seine Einheit auf die Zerrissenheit
auf. Aber wenn der Widerspruch im Spektakel auftaucht, wird ihm seinerseits
durch eine Umkehrung seines Sinnes widersprochen; so daß die aufgezeigte
Teilung einheitlich ist, während die aufgezeigte Einheit geteilt ist.
- Der Kampf von Gewalten, die zur Verwaltung desselben sozialökonomischen
Systems entstanden sind, entfaltet sich als der offizielle Widerspruch, der
in Wirklichkeit zur tatsächlichen Einheit gehört; das gilt ebenso
im Weltmaßstabe wie innerhalb jeder Nation.
- Die falschen, spektakulären Kämpfe zwischen den
rivalisierenden Formen der getrennten Gewalt sind zugleich real, indem sie
die ungleiche, konfliktorische Entwicklung des Systems äußern,
und auch die relativ widersprüchlichen Interessen der Klassen oder Klassenunterabteilungen,
die das System anerkennen und ihre eigene Teilnahme an seiner Gewalt definieren.
Wie die Entwicklung der fortgeschrittenen Wirtschaft im Zusammenstoß
bestimmter Prioritäten mit anderen besteht, so werden die durch eine
Staatsbürokratie ausgeübte totalitäre Verwaltung der Wirtschaft
und der Zustand der Länder, welche sich in die Sphäre der Kolonisation
oder Halbkolonisation gestellt fanden, durch beträchtliche Besonderheiten
in den Produktions- und Machtbedingungen definiert. Diese verschiedenen Gegensätze
können sich im Spektakel mit ganz unterschiedlichen Kriterien gemessen,
als absolut verschiedenartige Gesellschaftsformen geben. Aber ihrer Wirklichkeit
als besonderen Bereichen gemäß, liegt die Wahrheit ihrer Besonderheit
im allgemeinen System, das sie enthält: in der einzigen Bewegung, die
den ganzen Planeten zu ihrem Spielraum gemacht hat, d.h. im Kapitalismus.
- Die Gesellschaft, die das Spektakel unterhält, beherrscht
die unterentwickelten Gebiete nicht allein durch ihre wirtschaftliche Hegemonie.
Sie beherrscht sie auch als Gesellschaft des Spektakels. Dort, wo die
materielle Grundlage noch fehlt, hat die moderne Gesellschaft bereits spektakulär
auf die gesellschaftliche Oberfläche jedes Kontinents übergegriffen.
Sie definiert das Programm einer herrschenden Klasse und leitet deren Herausbildung.
Wie sie die zu begehrenden Pseudogüter zeigt, so bietet sie den lokalen
Revolutionären die falschen Vorbilder von Revolutionen dar. Das besondere
Spektakel der bürokratischen Gewalt, die einige industrielle Länder
unter ihrer Macht hält, gehört eben zum Gesamtspektakel, als seine
allgemeine Pseudo-Negation und seine Stütze. Wenn das Spektakel, in seinen
verschiedenen Lokalisierungen betrachtet, totalitäre Spezialisierungen
der gesellschaftlichen Sprache und Verwaltung an den Tag legt, so verschmelzen
diese auf der Ebene der Gesamtfunktion des Systems zu einer weltweiten
Teilung der Aufgaben im Spektakel.
- Die Teilung der Aufgaben im Spektakel, die die Allgemeinheit
der bestehenden Ordnung erhält, erhält hauptsächlich den beherrschenden
Pol ihrer Entwicklung. Die Wurzel des Spektakels liegt im Boden der zum Überfluß
gewordenen Wirtschaft, und von dort kommen die Früchte her, die schließlich
nach der Herrschaft über den spektakulären Markt trachten, und dies
trotz der polizeilich-ideologischen Schutzzollschranken irgendeines lokalen
Spektakels, das Autarkie beansprucht.
- Die Banalisierungsbewegung, die hinter den schillernden
Ablenkungen des Spektakels die moderne Gesellschaft weltweit beherrscht, beherrscht
sie auch auf jedem der Punkte, wo der entwickelte Warenkonsum die zur Auswahl
stehenden Rollen und Gegenstände scheinbar vervielfacht hat. Die Überreste
von Religion und Familie - die die Hauptform des Erbes der Klassengewalt
bleibt -, und folglich der von ihnen ausgeübten moralischen Repression,
können als ein und dasselbe mit der weitschweifigen Behauptung des Genusses
dieser Welt kombiniert werden; während diese Welt gerade nur als
Pseudogenuß produziert wird, der die Repression in sich bewahrt. Mit
der seligen Hinnahme des Bestehenden kann auch die rein spektakuläre
Empörung als ein und dasselbe verbunden werden: dies äußert
die einfache Tatsache, daß die Unzufriedenheit selbst zu einer Ware
geworden ist, sobald der wirtschaftliche Überfluß fähig wurde,
seine Produktion bis auf die Bearbeitung eines solchen Rohstoffes auszudehnen.
- Indem er das Bild einer möglichen Rolle in sich konzentriert,
konzentriert der Star - d.h. die spektakuläre Vorstellung des lebendigen
Menschen - diese Banalität. Der Stand eines Stars ist die Spezialisierung
des scheinbaren Erlebten, ist das Objekt der Identifizierung mit dem
untiefen, scheinbaren Leben, welches die Zerstückelung der wirklich erlebten
Produktionsspezialisierungen aufwiegen soll. Die Stars sind da, um verschiedenerlei
Typen von Lebensstilen und Gesellschaftsauffassungen darzustellen, denen es
global zu wirken freisteht. Sie verkörpern das unzulängliche
Resultat der gesellschaftlichen Arbeit, indem sie Nebenprodukte dieser
Arbeit mimen, die als deren Zweck magisch über sie erhoben werden: die
Macht und die Ferien, die Entscheidung und der Konsum, die am
Anfang und am Ende eines unbestrittenen Prozesses stehen. Dort personalisiert
sich die Regierungsgewalt zu einem Pseudostar, hier läßt sich der
Star des Konsums als Pseudogewalt über das Erleben durch Plebiszit akklamieren.
Aber diese Aktivitäten des Stars sind ebensowenig wirklich global wie
verschiedenartig.
- Der als Star in Szene gesetzte Agent des Spektakels ist
das Gegenteil, der Feind des Individuums, an sich selbst ebenso offensichtlich
wie bei den anderen. Indem er als Identifikationsmodell ins Spektakel übergeht,
hat er auf jede autonome Eigenschaft verzichtet, um sich selbst mit dem allgemeinen
Gesetz des Gehorsams gegenüber dem Lauf der Dinge zu identifizieren.
Wenn er auch nach außen hin die Darstellung verschiedener Persönlichkeitstypen
ist, zeigt der Konsumstar jeden dieser Typen, als ob er gleichmäßig
zur Gesamtheit des Konsums gelangen und dabei gleicherweise sein Glück
finden könne. Der Star der Entscheidung muß den vollständigen
Bestand all dessen besitzen, was an menschlichen Eigenschaften zugelassen
wird. So werden die offiziellen Gegensätzlichkeiten zwischen ihnen durch
die offizielle Ähnlichkeit vernichtet, die die Voraussetzung ihrer Vortrefflichkeit
in allem ist. Chruschtschow ist General geworden, um über die Schlacht
von Kursk zu entscheiden, doch nicht auf dem Felde, sondern am zwanzigsten
Jahrestag, als er der Machthaber des Staates war. Kennedy blieb ein Redner
noch als er selbst seine Leichenrede an seinem eigenen Grabe hielt, denn Theodore
Sorensen redigierte zu dieser Zeit noch für den Nachfolger die Reden
in jenem Stil, der so viel dazu beitrug, daß die bewundernswerten Leute,
in denen sich das System personifiziert, nicht das sind, was sie sind; sie
sind große Männer geworden, weil sie unter die Realität des
bescheidensten, individuellen Lebens herabgesunken sind, und jedermann weiß
das.
- Die falsche Auswahl im spektakulären Überfluß,
die in der Nebeneinanderreihung von konkurrierenden und solidarischen Spektakeln
sowie in der Nebeneinanderstellung von einanderausschließenden und ineinandergreifenden
Rollen (die hauptsächlich von Gegenständen getragen und ausgedrückt
werden) besteht, entwickelt sich zu einem Kampf zwischen gespenstischen Qualitäten,
die die Zustimmung zur quantitativen Trivialiät leidenschaftlich begeistern
sollen. So erstehen falsche, archaische Gegensätze, Regionalismen oder
Rassismen wieder, die die Vulgarität der hierarchischen Platzverteilung
innerhalb des Konsums zu einer phantastischen, ontologischen Überlegenheit
verklären sollen. So setzt sich die endlose Reihe der lächerlichen
Zusammenstöße wieder zusammen, die von den sportlichen Wettkämpfen
bis zu den Wahlen ein noch nicht einmal ludistisches Interesse mobilisieren.
Dort, wo sich der Konsum im Überfluß niedergelassen hat, nimmt
ein hauptsächlicher schauspielhafter Gegensatz zwischen der Jugend und
den Erwachsenen den Vordergrund des trügerischen Rollenspiels ein: denn
nirgends gibt es einen Erwachsenen, einen Herrn über sein Leben, und
die Jugend, die Änderung des Bestehenden, ist keineswegs das Eigentum
derjenigen, die jetzt jung sind, sondern sie gehört dem Wirtschaftssystem,
dem Dynamismus des Kapitalismus an. Dinge sind es, die herrschen und
jung sind, die einander verjagen und ersetzen.
- Hinter den spektakulären Gegensätzen verbirgt
sich die Einheit des Elends. Wenn verschiedene Formen derselben Entfremdung
einander unter den Masken der totalen Auswahl bekämpfen, so deswegen,
weil sie alle auf den verdrängten, wirklichen Widersprüchen aufgebaut
sind. Nach den Erfordernissen der besonderen Stufe des Elends, das es verleugnet
und aufrechterhält, existiert das Spektakel in einer konzentrierten
oder diffusen Form. In beiden Fällen ist es nur ein von Trostlosigkeit
und Grausen umgebenes Bild glücklicher Vereinigung im stillen Zentrum
des Unglücks.
- Das konzentrierte Spektakuläre gehört wesentlich
zum bürokratischen Kapitalismus, wenn es auch als Technik der Staatsgewalt
über rückständigere halbstaatliche Wirtschaften oder in bestimmten
Krisenzeiten des fortgeschrittenen Kapitalismus eingeführt werden kann.
Das bürokratische Eigentum ist tatsächlich selbst konzentriert in
dem Sinne, daß der einzelne Bürokrat lediglich vermittels der bürokratischen
Gemeinschaft, nur als deren Mitglied, mit dem Besitz der Gesamtwirtschaft
verbunden ist. Außerdem stellt sich auch die hier weniger entwickelte
Warenproduktion in einer konzentrierten Form dar: die von der Bürokratie
verwahrte Ware ist die ganze gesellschaftliche Arbeit, und was sie der Gesellschaft
wiederverkauft, ist deren Überleben im ganzen. Die Diktatur der bürokratischen
Wirtschaft kann den ausgebeuteten Massen keine nennenswerte Wahlfreiheit lassen,
denn sie hat alles selbst wählen müssen und jede andere äußere
Wahl, ob sie nun die Ernährung oder die Musik betrifft, ist deshalb bereits
die Wahl ihrer vollständigen Zerstörung. Sie muß von einer
ständigen Gewaltsamkeit begleitet werden. Das in ihrem Spektakel aufgedrängte
Bild des Guten versammelt in sich die Gesamtheit des offiziell Bestehenden
und konzentriert sich normalerweise auf einen einzigen Menschen, der der Garant
seines totalitären Zusammenhaltes ist. Jedermann muß sich entweder
magisch mit diesem absoluten Star identifizieren oder verschwinden. Denn dieser
Star ist der Herr seines Nichtkonsums und das heroische Bild einer annehmbaren
Deutung für jene absolute Ausbeutung, worin die vom Terror beschleunigte
ursprüngliche Akkumulation in Wirklichkeit besteht. Wenn jeder Chinese
Mao lernen und folglich Mao sein muß, so heißt das, daß
er nichts anderes zu sein hat. Wo das konzentrierte Spektakuläre
herrscht, da herrscht auch die Polizei.
- Das diffuse Spektakuläre begleitet den Warenüberfluß,
d.h. die ungestörte Entwicklung des modernen Kapitalismus. In diesem
Fall ist jede einzelne Ware im Namen der Größe der Gesamtproduktion
der Gegenstände gerechtfertigt, deren Spektakel ein apologetischer Katalog
ist. Unvereinbare Behauptungen drängen sich auf der Bühne des vereinigten
Spektakels der Überflußwirtschaft, ebenso wie verschiedene Star-Waren
gleichzeitig ihre widersprüchlichen Einrichtungspläne der Gesellschaft
vortragen, in der das Spektakel der Kraftwagen einen vollkommenen Verkehr
verlangt, der die Altstädte zerstört, während das Spektakel
der Stadt selbst Museen-Viertel braucht. Daher wird die bereits problematische
Zufriedenheit, die angeblich dem Konsum der Gesamtheit eignet, unmittelbar
verfälscht, indem der wirkliche Konsument direkt nur eine Aufeinanderfolge
von Bruchstücken dieses Warenglücks berühren kann, denen jedesmal
die der Gesamtheit zugeschriebene Qualität offensichtlich fehlt.
- Jede bestimmte Ware kämpft für sich selbst, kann
die anderen nicht anerkennen, will sich überall durchsetzen, als ob sie
die einzige wäre. Damit wird das Spektakel zum epischen Gesang dieses
Zusammenstoßes, den der Fall keines Ilion beenden könnte. Das Spektakel
besingt nicht die Männer und ihre Waffen, sondern die Waren und ihre
Leidenschaften. In diesem blinden Kampf vollbringt jede Ware, indem sie sich
von ihrer Leidenschaft hinreißen läßt, bewußtlos ein
Höheres: das weltlich-Werden der Ware, das ebenso das zur-Ware-Werden
der Welt ist. So kämpft sich, dank einer List der Warenvernunft,
das Besondere der Ware aneinander ab, während die Warenform auf
ihre absolute Verwirklichung zugeht.
- Die Befriedigung, die die Ware im Überfluß durch
den Gebrauch nicht mehr verschaffen kann, wird in der Anerkennung ihres Wertes
als Ware gesucht: dies ist der Gebrauch der Ware, der sich selbst genügt;
und dies ist für den Konsumenten der religiöse Erguß vor der
souveränen Freiheit der Ware. So breiten sich mit großer Geschwindigkeit
Begeisterungswellen für ein mit allen Informationsmitteln gestütztes
und angekurbeltes bestimmtes Produkt aus. Ein Kleidungsstil entsteht aus einem
Film, eine Zeitschrift lanciert Klubs, die ihrerseits verschiedenen Ausrüstungen
lancieren. Das "Gadget" spricht diese Tatsache aus, daß im gleichen
Augenblick, da die Masse der Waren dem Irrsinn zugleitet, das Irrsinnige selbst
zu einer besonderen Ware wird. An den Werbeschlüsselringen z.B., die
nicht mehr gekauft werden, sondern als Zugabe bei dem Verkauf von Prestigegegenständen
geschenkt werden oder die durch Austausch aus ihrer eigenen Sphäre herkommen,
läßt sich die Äußerung einer mystischen Selbsthingabe
an die Transzendenz der Ware erkennen. Wer die Schlüsselringe sammelt,
die nur zum Sammeln erzeugt wurden, häuft die Ablaßbriefe der
Ware, ein ruhmreiches Zeichen ihrer wirklichen Gegenwart unter ihren Getreuen.
Der verdinglichte Mensch trägt den Beweis seiner Intimität mit der
Ware zur Schau. Wie bei dem krampfhaften Taumeln oder den Wunderheilungen
der Schwärmer des alten religiösen Fetischismus, gelangt auch der
Warenfetischismus zu Momenten schwärmerischer Erregung. Der einzige Gebrauch,
der sich hier noch äußert, ist der grundlegende Brauch der Unterwerfung.
- Zweifellos läßt sich das im modernen Konsum aufgezwungene
Pseudobedürfnis keinem echten Bedürfnis oder Begehren entgegensetzen,
das nicht selbst durch die Gesellschaft und ihre Geschichte geformt wäre.
Aber die Ware im Überfluß existiert als der absolute Bruch einer
organischen Entwicklung der gesellschaftlichen Bedürfnisse. Ihre mechanische
Akkumulation macht ein unbeschränktes Künstliches frei, angesichts
dessen die lebendige Begierde entwaffnet ist. Die kumulative Macht eines unabhängigen
Künstlichen zieht überall die Verfälschung des gesellschaftlichen
Lebens nach sich.
- Im Bild der glücklichen Vereinheitlichung der Gesellschaft
durch den Konsum ist die reale Teilung nur bis zum nächsten Nichterfüllen
im Konsumierbaren aufgeschoben. Jedes besondere Produkt, das die Hoffnung
auf eine blitzschnelle Abkürzung darstellen soll, um endlich ins gelobte
Land des totalen Konsums zu gelangen, wird der Reihe nach zeremoniös
als die entscheidende Einzelheit hingestellt. Aber wie im Falle der augenblicklichen
Verbreitung der Moden von scheinbar aristokratischen Vornamen, die von fast
allen gleichaltrigen Individuen getragen werden, so konnte der Gegenstand,
von dem eine besondere Gewalt erwartet wird, nur dadurch der Andacht der Massen
angeboten werden, daß er in einer hinreichend großen Zahl von
Exemplaren vervielfältigt wurde, um massenhaft konsumiert zu werden.
Der Prestigecharakter kommt diesem beliebigen Produkt nur dadurch zu, daß
es als offenbares Mysterium der Produktionsfinalität für einen Moment
ins Zentrum des gesellschaftlichen Lebens gestellt wurde. Der Gegenstand,
der im Spektakel ein Prestige hatte, wird vulgär, sobald er bei diesem
Konsumenten und gleichzeitig bei allen anderen eintritt. Zu spät bringt
er seine wesentliche Armut ans Tageslicht, die er natürlich vom Elend
seiner Produktion her hat. Aber schon trägt ein anderer Gegenstand die
Rechtfertigung des Systems und die Forderung, anerkannt zu werden.
- Der Betrug der Befriedigung muß sich selbst denunzieren,
indem er sich erneuert, indem er die Veränderung der Produkte und der
allgemeinen Produktionsbedingungen verfolgt. Was mit der vollkommensten Unverschämtheit
seine eigene endgültige Vortrefflichkeit behauptet hat, ändert sich
dennoch im diffusen Spektakel, aber auch im konzentrierten Spektakel, und
das System allein muß fortdauern: Stalin wie die veraltete Ware werden
von ebendenen denunziert, die sie eingeführt haben. Jede neue Lüge
der Werbung ist auch das Eingeständnis ihrer vorigen Lüge.
Jeder Sturz einer Gestalt der totalitären Gewalt offenbart die illusorische
Gemeinschaft, die sie einstimmig guthieß und die nur ein Agglomerat
von illusionslosen Einsamkeiten war.
- Was das Spektakel als dauernd präsentiert, ist auf
die Veränderung gegründet und muß sich mit seiner Basis verändern.
Das Spektakel ist absolut dogmatisch und zugleich ist es ihm unmöglich,
zu irgendeinem festen Dogma zu kommen. Für das Spektakel hört nichts
auf; dies ist sein natürlicher und dennoch seiner Neigung entgegengesetztester
Zustand.
- Die durch das Spektakel ausposaunte irreale Einheit ist
die Maske der Klassenteilung, auf der die reale Einheit der kapitalistischen
Produktionsweise beruht. Was die Produzenten verpflichtet, an dem Erbauen
der Welt teilzunehmen, ist auch das, was sie davon ausschließt. Was
die von ihren lokalen und nationalen Schranken befreiten Menschen in Beziehung
zueinander bringt, ist auch das, was sie voneinander entfernt. Was zur Vertiefung
des Rationellen verpflichtet, ist auch das, was das Irrationelle der hierarchischen
Ausbeutung und der Repression nährt. Was die abstrakte Gewalt der Gesellschaft
erzeugt, erzeugt auch ihre konkrete Unfreiheit.
4. Kapitel
DAS PROLETARIAT ALS SUBJEKT UND ALS REPRÄSENTATION
"Gleiches Recht aller auf die Güter und die Genüsse
dieser Welt, die Zerstörung jeder Autorität und die Verneinung aller
moralischen Schranken: das ist, wenn man der Sache auf den Grund geht, der wesentliche
Zweck des Aufstandes vom 18. März und die Charta der gefürchteten
Assoziation, die ihm eine Armee verschaffte."
Parlamentarische Untersuchung über den Aufstand des 18.
März.
- Die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen
Zustand aufhebt, regiert die Gesellschaft seit dem Sieg der Bourgeoisie in
der Wirtschaft, sichtbar aber erst seit der politischen Übertragung dieses
Sieges. Die Entwicklung der Produktivkräfte hat die alten Produktionsverhältnisse
gesprengt, und jede statistische Ordnung zerfällt zu Staub. Alles, was
absolut war, wird geschichtlich.
- Indem sie in die Geschichte geworfen sind, indem sie an
der Arbeit und an den Kämpfen, aus denen diese Geschichte besteht, teilnehmen
müssen, sind die Menschen gezwungen, ihre gegenseitigen Beziehungen mit
nüchternen Augen anzusehen. Diese Geschichte hat kein anderes Objekt
als das, was sie an sich selbst verwirklicht, obwohl die letzte, bewußtlose,
metaphysische Anschauung von der geschichtlichen Epoche das produktive Fortschreiten,
durch das sich die Geschichte entfaltet hat, als eigentliches Objekt der Geschichte
betrachten kann. Das Subjekt der Geschichte kann nur das Lebende sein,
das sich selbst produziert und zum Herrn und Besitzer seiner Welt wird, -
die die Geschichte ist - und als Bewußtsein seines Spiels existiert.
- Als ein und dieselbe Strömung entwickeln sich die Klassenkämpfe
der langen revolutionären Epoche, die durch den Aufstieg der Bourgeoisie
eröffnet wurde, und das Denken der Geschichte, d.h. die Dialektik,
das Denken, das nicht mehr bei der Suche nach dem Sinn des Seienden stehen
bleibt, sondern sich zur Erkenntnis der Auflösung alles Bestehenden erhebt,
und in der Bewegung jede Trennung auflöst.
- Hegel hatte nicht mehr die Welt zu interpretieren,
sondern die Veränderung der Welt. Indem er die Veränderung nur
interpretierte, ist er nur die philosophische Vollendung der Philosophie.
Er will eine Welt begreifen, die sich selbst erzeugt. Dieses geschichtliche
Denken ist nur erst das Bewußtsein, das immer zu spät kommt und
die Rechtfertigung post festum ausspricht. Es hat die Trennung daher
nur im Gedanken aufgehoben. Das Paradox, das darin besteht, den Sinn
jeder Realität von ihrer geschichtlichen Vollendung abhängen zu
lassen und zugleich, sich selbst als die Vollendung der Geschichte hinstellend,
diesen Sinn zu enthüllen, ergibt sich aus der einfachen Tatsache, daß
der Denker der bürgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts
in seiner Philosophie nur die Versöhnung mit deren Ergebnis gesucht
hat." Sie drückt auch als Philosophie der bürgerlichen Revolution
nicht den ganzen Prozeß dieser Revolution aus, sondern nur seinen letzten
Abschluß. Sie ist insofern eine Philosophie nicht der Revolution, sondern
der Restauration." (Karl Korsch, Thesen über Hegel und die Revolution.)
Hegel hat zum letzten Mal die Arbeit des Philosophen geleistet, "die Verklärung
des Bestehenden"; aber schon für ihn konnte das Bestehende nur die Totalität
der geschichtlichen Bewegung sein. Da die äußere Stellung
des Gedankens in der Tat aufrechterhalten wurde, konnte sie nur durch ihre
Identifizierung mit einem vorausgehenden Vorhaben des Geistes, des absoluten
Helden verhüllt werden, der vollbracht hat, was er wollte, und wollte,
was er vollbracht hat, und dessen Erfüllung mit der Gegenwart zusammenfällt.
Daher kann die Philosophie, die im Denken der Geschichte stirbt, ihre Welt
nur noch dadurch verklären, daß sie sie verleugnet, denn um das
Wort zu ergreifen, muß sie bereits das Ende dieser totalen Geschichte,
auf die sie alles zurückgeführt hat, und den Schluß der Sitzung
des einzigen Gerichts voraussetzen, das das Urteil der Wahrheit fällen
kann.
- Wenn das Proletariat durch seine eigene Existenz in Taten
offenbart, daß sich dieses Denken der Geschichte nicht vergessen hat,
ist das Dementi des Schlusses zugleich auch die Bestätigung der
Methode.
- Das Denken der Geschichte kann nur dadurch gerettet werden,
daß es praktisches Denken wird, und die Praxis des Proletariats als
revolutionäre Klasse kann nicht weniger sein als das geschichtliche Bewußtsein,
das auf die Totalität seiner Welt wirkt. Alle theoretischen Strömungen
der revolutionären Arbeiterbewegung sind aus einer kritischen
Auseinandersetzung mit dem Hegelschen Denken hervorgegangen, bei Marx ebenso
wie bei Stirner und Bakunin.
- Die Untrennbarkeit der Hegelschen Methode von der Marxschen
Theorie ist selbst untrennbar von dem revolutionären Charakter dieser
Theorie, d.h. von ihrer Wahrheit. Hierin ist diese erste Beziehung allgemein
unbekannt geblieben oder mißverstanden oder sogar als die Schwäche
dessen angeprangert worden, was trügerisch zu einer marxistischen Lehre
wurde. In "Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgabe der Sozialdemokratie"
enthüllt Bernstein vollkommen diese Verbindung der dialektischen
Methode mit der geschichtlichen Parteinahme, wenn er die unwissenschaftlichen
Voraussagen des Manifests von 1847 über das nahe Bevorstehen der
proletarischen Revolution in Deutschland beklagt: "Diese geschichtliche Selbsttäuschung,
wie sie der erste beste politische Schwärmer kaum überbieten konnte,
würde bei einem Marx, der schon damals ernsthaft Ökonomie getrieben
hatte, unbegreiflich sein, wenn man in ihr nicht das Produkt eines Restes
Hegelscher Widerspruchsdialektik zu erblicken hätte, das Marx -
ebenso wie Engels - sein Lebtag nicht völlig losgeworden ist, das
aber damals in einer Zeit allgemeiner Gärung, ihm um so verhängnisvoller
werden sollte."
- Die Umkehrung, die Marx zwecks einer "Hinüberrettung"
des Denkens der bürgerlichen Revolution vornimmt, besteht nicht trivialerweise
darin, durch die materialistische Entwicklung der Produktivkräfte das
Fortschreiten des Hegelschen Geistes zu ersetzen der sich selbst in der Zeit
entgegen geht, dessen Vergegenständlichung mit seiner Entäußerung
identisch ist und dessen geschichtliche Wunden keine Narben zurücklassen.
Die wirklich gewordene Geschichte hat kein Ende mehr. Marx hat die getrennte
Stellung Hegels angesichts dessen, was geschieht, und die Kontemplation
jedes äußeren, höchsten Agenten zugrunde gerichtet. Die
Theorie hat nur noch zu erkennen, was sie tut. Im Gegenteil ist die Kontemplation
der Wirtschaftsbewegung im herrschenden Denken der gegenwärtigen Gesellschaft
das nicht umgekehrte Erbe des undialektischen Teils des Hegelschen
Versuchs eines kreisförmigen Systems; sie ist eine Billigung, die die
Dimension des Begriffs verloren hat und die kein Hegelianertum mehr braucht,
um sich zu rechtfertigen, denn die Bewegung, die es zu loben gilt, ist nur
mehr ein gedankenloser Bereich der Welt, dessen mechanische Entwicklung tatsächlich
das Ganze beherrscht. Das Marxsche Projekt ist das einer bewußten Geschichte.
Das Quantitative, das in der blinden Entwicklung der bloß wirtschaftlichen
Produktivkräfte entsteht, muß sich in eine qualitative geschichtliche
Aneignung verwandeln. Die Kritik der politischen Ökonomie ist
der erste Akt dieses Endes der Vorgeschichte. "Von allen Produktionsinstrumenten
ist die größte Produktivkraft die revolutionäre Klasse selbst."
- Was die Marxsche Theorie eng mit dem wissenschaftlichen
Denken verbindet, ist das rationelle Begreifen der Kräfte, die in der
Gesellschaft walten. Aber sie ist grundlegend ein Jenseits des wissenschaftlichen
Denkens, in dem dieses nur als aufgehobenes aufbewahrt wird: es geht um ein
Begreifen des Kampfes und keineswegs des Gesetzes. "Wir kennen
nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte" heißt
es in der deutschen Ideologie.
- Die bürgerliche Epoche, die die Geschichte wissenschaftlich
begründen will, übersieht die Tatsache, daß diese verfügbare
Wissenschaft vielmehr mit der Ökonomie geschichtlich begründet werden
sollte. Umgekehrt hängt die Geschichte radikal von dieser Kenntnis ab,
aber nur insofern, als diese Geschichte Wirtschaftsgeschichte bleibt. Wieweit
im übrigen der Anteil der Geschichte an der Wirtschaft selbst -
der Gesamtprozeß, der seine eigenen wissenschaftlichen Grundvoraussetzungen
verändert - von dem Gesichtspunkt der wissenschaftlichen Grundvoraussetzungen
verändert - von dem Gesichtspunkt der wissenschaftlichen Beobachtung
übersehen werden konnte, wird durch die Nichtigkeit der sozialistischen
Berechnungen gezeigt, die die exakte Periodizität der Krisen festgestellt
zu haben glaubten, und seitdem es der ständigen Intervention des Staates
gelungen ist, die Wirkung der Krisentendenzen zu kompensieren, sieht dieselbe
Art von Beweisführung in diesem Gleichgewicht eine endgültige wirtschaftliche
Harmonie. Das Projekt, die Wirtschaft zu überwinden, von der Geschichte
Besitz zu ergreifen, kann nicht selbst wissenschaftlich sein, auch
wenn es die Wissenschaft der Gesellschaft kennen (und zu sich zurückführen)
muß. In dieser letzten Bewegung, die die gegenwärtige Geschichte
durch eine wissenschaftliche Erkenntnis zu beherrschen glaubt, ist der revolutionäre
Standpunkt bürgerlich geblieben.
- Obwohl sie selbst in der Kritik der bestehenden gesellschaftlichen
Organisation geschichtlich begründet sind, können die utopischen
Strömungen des Sozialismus mit Recht als utopisch angesprochen werden,
in dem Maße wie sie die Geschichte ablehnen - d.h. den stattfindenden
wirklichen Kampf, ebenso wie die Bewegung der Zeit jenseits der unbeweglichen
Vollkommenheit ihres Bildes von einer glücklichen Gesellschaft -,
nicht jedoch, weil sie die Wissenschaft ablehnen. Die utopischen Denker sind
im Gegenteil ganz und gar vom wissenschaftlichen Denken beherrscht, wie es
sich in den vorigen Jahrhunderten durchgesetzt hatte. Sie suchen die Vollendung
dieses allgemeinen rationellen Systems: sie betrachten sich keineswegs als
entwaffnete Propheten, denn Sie glauben an die gesellschaftliche Macht der
wissenschaftlichen Beweisführung und sogar, im Fall des Saint-Simonismus
an die Machtergreifung durch die Wissenschaft. Wie fragt Sombart, "sollte
etwas, das durch Aufklärung, höchstens durch Beispiele in seiner
Vollkommenheit bewiesen werden soll, ertrotzt werden können im
Kampf?" Die wissenschaftliche Auffassung der Utopisten erstreckt sich jedoch
nicht auf die Erkenntnis, daß gesellschaftliche Gruppen in einer bestehenden
Situation Interessen haben und Kräfte, um sie aufrechtzuerhalten, sowie
Formen falschen Bewußtseins, die solchen Stellungen entsprechen. Sie
bleibt daher weit diesseits der geschichtlichen Realität der Wissenschaftsentwicklung
selbst, deren Richtung weitgehend von der aus solchen Faktoren hervorgegangenen
gesellschaftlichen Nachfrage bestimmt wurde, die nicht nur das auswählt,
was zugelassen, sondern auch das, was erforscht werden kann. Die utopischen
Sozialisten, die Gefangene der Darstellungsweise der wissenschaftlichen
Wahrheit geblieben sind, begreifen diese Wahrheit nach ihrem reinen abstrakten
Bild, wie es sich in einem sehr viel früheren Stadium der Gesellschaft
durchgesetzt haue. Die Utopisten wollen, wie Sorel bemerkte, die Gesetze der
Gesellschaft nach dem Modell der Astronomie entdecken und nachweisen.
Die von ihnen erstrebte Harmonie, die der Geschichte feindlich ist, ergibt
sich aus einem Versuch, die von der Geschichte am wenigsten abhängige
Wissenschaft auf die Gesellschaft anzuwenden. Diese Harmonie sucht ihre Anerkennung
mit der gleichen experimentellen Unschuld wie der Newtonismus, und das ständig
postulierte glückliche Menschenlos "spielt in ihrer Gesellschaftswissenschaft
eine Rolle, die derjenigen der Trägheit in der rationellen Mechanik analog
ist" (Materiaux pour une theorie du proletariat).
- Gerade die deterministisch-wissenschaftliche Seite im Marxschen
Denken war die Bresche, durch die der Prozeß der "ldeologisierung" noch
zu seinen Lebzeiten eindrang, und um so mehr in das der Arbeiterbewegung hinterlassene
theoretische Erbe. Die Ankunft des Subjekts der Geschichte wird noch auf später
verschoben, und die geschichtliche Wissenschaft par excellende, d.h. die Ökonomie,
strebt immer weitgehender darauf hin, die Notwendigkeit ihrer eigenen zukünftigen
Negation zu garantieren. Aber dadurch wird die revolutionäre Praxis,
die die einzige Wahrheit dieser Negation ist, aus dem Bereich der theoretischen
Anschauung verstoßen. Daher gilt es, geduldig die wirtschaftliche Entwicklung
zu studieren und noch das daraus erfolgende Leid mit einer Hegelschen Ruhe
zu dulden, was im Resultat "Friedhof der guten Absichten" bleibt. Man entdeckt,
daß jetzt, der Wissenschaft der Revolutionen zufolge, das Bewußtsein
immer zu früh kommt und belehrt werden muß. "Die Geschichte
hat uns und allen, die ähnlich dachten, unrecht gegeben. Sie hat klargemacht,
daß der Stand der ökonomischen Entwicklung auf dem Kontinent damals
noch bei weitem nicht reif war...", sagt Engels 1895. Sein ganzes Leben lang
hat Marx den einheitlichen Gesichtspunkt seiner Theorie aufrechterhalten,
aber die Darlegung seiner Theorie hat sich auf den Boden des herrschenden
Denkens begeben, indem sie sich in der Form von Kritiken besonderer Disziplinen,
hauptsächlich der Kritik der grundlegenden Wissenschaft der bürgerlichen
Gesellschaft, der politischen Ökonomie, präzisiert. Diese Verstümmelung,
die später als endgültig akzeptiert wurde, hat den "Marxismus" gebildet.
- Der Mangel in der Marxschen Theorie ist natürlich der
Mangel des revolutionären Kampfes des Proletariates seiner Epoche. Die
Arbeiterklasse im Deutschland von 1848 hat nicht die Revolution in Permanenz
dekretiert; die Kommune wurde in der Isolierung besiegt. Die revolutionäre
Theorie kann daher noch nicht ihre eigene vollständige Existenz erreichen.
Darauf angewiesen zu sein, diese Theorie in der Absonderung der Gelehrtenarbeit
im British Museum zu verteidigen und zu präzisieren, implizierte
einen Verlust in der Theorie selbst. Gerade die auf die Zukunft der Entwicklung
der Arbeiterklasse bezogenen wissenschaftlichen Rechtfertigungen und die mit
ihnen verbundene organisatorische Praxis sollten in einem weiter fortgeschrittenen
Stadium zu Hindernissen für das proletarische Bewußtsein werden.
- Die ganze theoretische Mangelhaftigkeit bei der wissenschaftlichen
Verteidigung der proletarischen Revolution kann, sowohl was den Inhalt als
was die Form der Darstellung angeht, auf eine Identifizierung des Proletariats
mit der Bourgeoisie unter dem Gesichtspunkt der revolutionären Machtergreifung
zurückgeführt werden.
- Die Tendenz, eine Beweisführung der wissenschaftlichen
Gesetzmäßigkeit der proletarischen Gewalt durch den Bezug auf wiederholte
Experimente der Vergangenheit zu begründen, verdunkelt schon vom
Manifest an das Marxsche Denken der Geschichte, indem sie ihn dazu
veranlaßt, ein lineares Bild der Entwicklung der Produktionsweisen
aufzustellen, die von Klassenkämpfen mitgerissen wird, welche angeblich
jedesmal "mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft &
oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen" enden. Aber
ebenso wie in der beobachtbaren Realität der Geschichte "die asiatische
Produktionsweise", wie Marx an anderer Stelle betonte, ihre Unbeweglichkeit
trotz aller Klassenauseinandersetzungen behalten hat, so wurden auch weder
die Barone von den Aufständen der Leibeigenen, noch die Freien von den
Sklavenrevolten des Altertums je besiegt. Im linearen Schema ist zunächst
die Tatsache aus dem Blickfeld entschwunden, daß die Bourgeoisie
die einzige revolutionäre Klasse ist, die jemals gesiegt hat und
daß sie zugleich die einzige Klasse ist, für die die Entwicklung
der Wirtschaft Grund und Folge ihrer Beschlagnahme der Gesellschaft war. Die
gleiche Vereinfachung hat Marx dazu verleitet, die wirtschaftliche Rolle des
Staates bei der Verwaltung einer Klassengesellschaft zu vernachlässigen.
Wenn die aufsteigende Bourgeoisie die Wirtschaft vom Staat zu befreien schien,
dann nur insoweit, als der alte Staat zugleich das Instrument einer Klassenunterdrückung
in einer statischen Wirtschaft war. Die Bourgeoisie hat ihre autonome
wirtschaftliche Macht in der mittelalterlichen Periode des Schwächerwerdens
des Staates, im Moment feudaler Zerstückelung gleichgewichtiger Gewalten
entwickelt. Aber der moderne Staat, der durch den Merkantilismus die Entwicklung
der Bourgeoisie zu unterstützen begann und der schließlich zur
Zeit des "laisse faire, laisser passer" zu ihrem Staat wurde, wird
sich später als Inhaber einer zentralen Macht in der kalkulierten Verwaltung
des wirtschaftlichen Prozesses zeigen. Marx konnte jedoch im Bonapartismus
diesen Entwurf der modernen staatlichen Bürokratie beschreiben, nämlich
die Fusion von Kapital und Staat, die Bildung einer "nationalen Macht des
Kapitals über die Arbeit, einer öffentlichen Gewalt zur Unterdrückung
der Arbeit", wo die Bourgeoisie auf jedes geschichtliche Leben verzichtet,
das nicht seine Reduzierung auf die wirtschaftliche Geschichte der Dinge ist
und gerne "neben den anderen Klassen zur gleichen politischen Nichtigkeit
verdammt" werden will. Hier sind bereits die sozialpolitischen Grundlagen
des modernen Spektakels gelegt, das negativ das Proletariat als einzigen
Bewerber um das geschichtliche Leben definiert.
- Die zwei einzigen Klassen, die tatsächlich der Marxschen
Theorie entsprechen, die zwei reinen Klassen, zu denen die gesamte Analyse
in Das Kapital hinführt, die Bourgeoisie und das Proletariat,
sind auch die beiden einzigen revolutionären Klassen der Geschichte,
aber unter verschiedenen Bedingungen: die bürgerliche Revolution hat
stattgefunden, die proletarische Revolution ist ein Projekt, das auf der Grundlage
der vorangegangenen Revolutionen entstand, jedoch von ihr qualitativ verschieden.
Wenn man die Originalität der geschichtlichen Rolle der Bourgeoisie
übersieht, verdeckt man die konkrete Originalität dieses proletarischen
Projekts, das nur etwas erreichen kann, insofern es seine eigenen Farben trägt
und die "gewaltige Größe seiner Aufgaben" kennt. Die Bourgeoisie
ist zur Macht gelangt, weil sie die Klasse der sich entwickelnden Wirtschaft
ist. Das Proletariat kann seinerseits die Macht sein, aber nur wenn es zur
Klasse des Bewußtseins wird. Das Reifen der Produktivkräfte
kann eine solche Macht nicht garantieren, und dies auch nicht auf dem Umweg
der gesteigerten Enteignung, die dieses Reifen begleitet. Die jakobinische
Eroberung des Staates kann nicht das Instrument des Proletariats sein. Keine
Ideologie kann ihm helfen, Teilzwecke in Gesamtzwecke zu verkleiden,
denn es kann keine Teilrealität aufbewahren, die ihm tatsächlich
gehörte.
- Wenn Marx in einer bestimmten Periode seiner Teilnahme am
Kampf des Proletariats zu viel von der wissenschaftlichen Vorhersage erwartet
hat, so viel, daß er die intellektuelle Basis der Illusionen des Ökonomismus
schuf, so wissen wir doch, daß er persönlich ihm nicht verfiel.
In einem wohlbekannten Brief vom 7. Dezember 1867, der einen Artikel
begleitete, worin er selbst Das Kapital kritisiert und den Engels in
die Presse bringen sollte, als ob er von einem Gegner stammte, hat Marx klar
die Grenze seiner eigenen Wissenschaft dargelegt: "& Die subjektive
Tendenz des Verfassers dagegen - er war vielleicht durch seine Parteistellung
und Vergangenheit gebunden und verpflichtet dazu -, d.h. die Manier,
wie er sich und anderen das Endresultat der jetzigen Bewegung, des jetzigen
gesellschaftlichen Prozesses vorstellt, hat mit seiner wirklichen Entwicklung
gar nichts zu schaffen." Also dadurch, daß er selbst die "tendenziellen
Schlußfolgerungen" seiner objektiven Analyse denunziert und durch die
Ironie des "vielleicht" in Bezug auf die außerwissenschaftlichen Entscheidungen,
zu denen er verpflichtet gewesen sei, zeigt Marx gleichzeitig den methodologischen
Schlüssel für die Verschmelzung der beiden Aspekte.
- Im geschichtlichen Kampf selbst muß die Verschmelzung
des Erkennens mit dem Handeln verwirklicht werden, so daß jede dieser
Seiten die andere zur Garantie ihrer eigenen Wahrheit macht. Die Herausbildung
der proletarischen Klasse als Subjekt ist die Organisation der revolutionären
Kämpfe und die Organisation der Gesellschaft im revolutionären
Augenblick: hier müssen die praktischen Bedingungen des Bewußtseins
vorhanden sein, in denen sich die Theorie der Praxis bestätigt, indem
sie zu praktischer Theorie wird. Diese zentrale Frage der Organisation wurde
jedoch von der revolutionären Theorie in der Epoche am wenigsten in Betracht
gezogen, in der die Arbeiterbewegung entstand, d.h. als diese Theorie noch
den aus dem Denken der Geschichte stammenden einheitlichen Charakter
besaß (und sie hatte es sich gerade zur Aufgabe gemacht, ihn bis zu
einer einheitlichen geschichtlichen Praxis zu entwickeln). Diese Frage ist
im Gegenteil der Ort der Inkonsequenz dieser Theorie, die die Wiederbelebung
staatlicher und hierarchischer Anwendungsmethoden zuließ, die der bürgerlichen
Revolution entlehnt wurden. Die Organisationsformen der Arbeiterbewegung,
die auf der Grundlage dieses Verzichtes der Theorie entwickelt wurden, haben
ihrerseits dahin tendiert, die Erhaltung einer einheitlichen Theorie zu verhindern,
indem sie diese in spezialisierte und parzellierte Kenntnisse auflösten.
Diese ideologische Entfremdung der Theorie ist folglich außerstande,
die praktische Bewährung des von ihr verratenen einheitlichen geschichtlichen
Denkens wiederzuerkennen, wenn eine solche Bewährung im spontanen Kampf
der Arbeiter plötzlich hervortritt; sie kann lediglich dazu beitragen,
ihre Äußerung und ihre Erinnerung zu unterdrücken. Diese im
Kampf aufgetauchten geschichtlichen Formen sind jedoch gerade das praktische
Milieu, das der Theorie fehlte, um wahr zu sein. Sie sind eine Forderung der
Theorie; die jedoch nicht theoretisch formuliert worden war. Der Sowjet
war keine Entdeckung der Theorie. Und schon die höchste theoretische
Wahrheit der Internationalen Arbeiter Assoziation war ihr eigenes arbeitendes
Dasein.
- Die ersten Erfolge des Kampfes der Internationale brachten
sie dazu, sich von den konfusen Einflüssen der herrschenden Ideologie
zu befreien, die in ihr fortbestanden. Aber die Niederlage und die Unterdrückung,
die sie bald erfuhr, stellten einen Konflikt zwischen zwei Auffassungen der
proletarischen Revolution in den Vordergrund, die beide eine autoritäre
Dimension beinhalten, durch welche die bewußte Selbstbefreiung der
Klasse aufgegeben wird. Tatsächlich war der unversöhnlich gewordene
Streit zwischen Marxisten und Bakunisten zweifach, indem er zugleich die Macht
in der revolutionären Gesellschaft und die gegenwärtige Organisation
der Bewegung betraf, und beim Übergang von dem einen dieser Aspekte zu
dem anderen kehren sich die Positionen der Gegner um. Bakunin bekämpfte
die lllusion einer Abschaffung der Klassen durch den autoritären Gebrauch
der Staatsmacht, weil er die Neubildung einer herrschenden bürokratischen
Klasse und die Diktatur der Gelehrtesten oder derer, die dafür gehalten
werden, voraussah. Marx, der glaubte, daß ein untrennbares Reifen der
wirtschaftlichen Widersprüche und der demokratischen Erziehung der Arbeiter
die Rolle des proletarischen Staates auf eine einfache Phase der Legalisierung
neuer gesellschaftlicher Beziehungen, die sich objektiv durchsetzen, beschränken
würde, denunzierte bei Bakunin und seinen Anhängern den Autoritarismus
einer konspirativen Elite, die sich absichtlich über die Internationale
gestellt hatte, mit der extravaganten Absicht, der Gesellschaft die unverantwortliche
Diktatur der Revolutionärsten oder derer, die sich als solche werden
bezeichnet haben, aufzuzwingen. Bakunin sammelte tatsächlich seine Anhänger
in einer derartigen Perspektive: "Als unsichtbare Piloten müssen wir
den Volkssturm aus seiner Mitte heraus lenken, aber nicht durch eine offensichtliche
Gewalt, sondern durch die kollektive Diktatur aller Verbündeten.
Durch eine Diktatur ohne Schärpe, ohne Titel und ohne offizielles Recht,
die aber um so mächtiger ist, als sie nicht den äußeren Schein
der Gewalt besitzt". So haben sich zwei entgegengesetzte ldeologien der
Arbeiterrevolution bekämpft, die beide eine zum Teil wahre Kritik enthielten,
aber die Einheit des Denkens der Geschichte verloren und sich selbst als ideologische
Autorität errichteten. Mächtige Organisationen, wie die deutsche
Siozialdemokratie und die Iberische Anarchistische Förderation, haben
treu der einen oder der anderen dieser Ideologien gedient; und überall
unterschied sich das Ergebnis weit von dem, was gewollt war.
- Den Zweck der proletarischen Revolution als unmittelbar
gegenwärtig anzusehen, bildet zugleich die Größe und die
Schwäche des wirklichen anarchistischen Kampfes (denn in seinen individualistischen
Varianten bleiben die Ansprüche des Anarchismus lächerlich). Vom
geschichtlichen Denken der modernen Klassenkämpfe behält der kollektivistische
Anarchismus einzig die Schlußfolgerung, und seine absolute Forderung
nach dieser Schlußfolgerung äußert sich gleichfalls durch
seine entschlossene Verachtung der Methode. Seine Kritik des politischen
Kampfes ist daher abstrakt geblieben, während seine Wahl des wirtschaftlichen
Kampfes selbst nur gemäß der lllusion einer endgültigen Lösung
behauptet wird, welche mit einem Schlag am Tag des Generalstreiks oder des
Aufstandes auf diesem Boden erkämpft wird. Die Anarchisten haben ein
Ideal zu verwirklichen. Der Anarchismus ist die noch ideologische Negation
des Staates und der Klassen, d.h. der gesellschaftlichen Bedingungen selbst
der abgesonderten Ideologie. Er ist die Ideologie der reinen Freiheit,
die alles gleichmacht und jede Idee des geschichtlichen Übels beseitigt.
Dieser Gesichtspunkt der Fusion aller Teilforderungen hat dem Anarchismus
das Verdienst eingebracht, die Ablehnung aller bestehenden Verhältnisse
für die Gesamtheit des Lebens zu repräsentieren und nicht hinsichtlich
einer privilegierten kritischen Spezialisierung, aber da diese Fusion im Absoluten,
nach der individuellen Laune, vor ihrer tatsächlichen Verwirklichung,
betrachtet wird, hat sie den Anarchismus auch zu einer allzu leicht merklichen
Zusammenhangslosigkeit verdammt. Der Anarchismus hat nur in jedem Kampf seine
gleiche einfache totale Schlußfolgerung zu wiederholen und wieder aufs
Spiel zu setzen, denn diese erste Schlußfolgerung war von Anfang an
mit der vollständigen Vollendung der Bewegung gleichgesetzt worden. Bakunin
konnte daher im Jahre 1873, als er die Föderation des Jura verließ,
schreiben: "In den letzten neun Jahren wurden innerhalb der Internationale
mehr Ideen entwickelt als nötig sind, um die Welt zu retten, wenn Ideen
allein die Welt retten könnten, und ich glaube nicht, daß irgend
jemand imstande ist, noch eine neue zu erfinden. Die Zeit der Ideen ist vorbei,
die Zeit für Tatsachen und Taten ist gekommen." Ohne Zweifel behält
diese Auffassung vom geschichtlichen Denken des Proletariats diese Gewißheit,
daß die Ideen praktisch werden müssen, aber sie verläßt
den geschichtlichen Boden, wenn sie voraussetzt, daß die adäquaten
Formen für diesen Übergang zur Praxis schon gefunden sind und nicht
mehr verändert werden.
- Die Anarchisten, die sich ausdrücklich von der Gesamtheit
der Arbeiterbewegung durch ihre ideologische Überzeugung unterscheiden,
reproduzieren untereinander diese Trennung der Kompetenzen, indem sie einen
günstigen Boden für die informelle Herrschaft der Propagandisten
und Verteidiger ihrer eigenen Ideologie über jede anarchistische Organisation
schaffen, und diese Spezialisten sind im allgemeinen um so mittelmäßiger,
als ihre intellektuelle Tätigkeit hauptsächlich darauf ausgeht,
einige endgültige Wahrheiten zu wiederholen. Die ideologische Achtung
vor der Einstimmigkeit in der Entscheidung hat vielmehr die unkontrollierte
Autorität von Spezialisten der Freiheit in der Organisation selbst
begünstigt, und der revolutionäre Anarchismus erwartet vom befreiten
Volk die gleiche Art von Einstimmigkeit, welche mit den gleichen Mitteln erreicht
wird. Im übrigen hat die Weigerung, den Gegensatz zwischen den Bedingungen
einer im derzeitigen Kampf gruppierten Minderheit und denen der Gesellschaft
freier Individuen in Betracht zu ziehen, eine ständige Trennung der Anarchisten
im Moment der gemeinsamen Entscheidung genährt, wie das Beispiel einer
Unzahl anarchistischer Aufstände in Spanien zeigt, die örtlich begrenzt
waren und örtlich niedergeschlagen wurden.
- Die im echten Anarchismus mehr oder weniger ausdrücklich
unterhaltene Illusion ist das ständige nahe Bevorstehen einer Revolution,
die der Ideologie und der aus ihr abgeleiteten praktischen Organisationsform
durch ihre augenblickliche Vollendung Recht geben soll. Der Anarchismus hat
1936 wirklich eine soziale Revolution und den fortgeschrittensten Entwurf
einer proletarischen Gewalt geleitet, den es jemals gegeben hat. In diesem
Umstande ist noch zu bemerken, daß einerseits das Signal eines allgemeinen
Aufstandes durch das Pronunciamento der Armee aufgezwungen worden war. Indem
diese Revolution in den ersten Tagen nicht vollendet worden war, nämlich
aufgrund der Existenz einer Franquistischen Macht in der Hälfte des Landes,
die stark vom Ausland unterstützt wurde, während die restliche internationale
proletarische Bewegung bereits besiegt war, und aufgrund des Fortbestandes
bürgerlicher Kräfte oder anderer staatssozialistischer Arbeiterparteien
im Lager der Republik, zeigte sich andererseits die organisierte Anarchistenbewegung
unfähig, die halben Siege der Revolution auszudehnen oder selbst zu verteidigen.
Ihre anerkannten Chefs wurden Minister und Geiseln des bürgerlichen Staates,
der die Revolution zerschlug, um den Bürgerkrieg zu verlieren.
- Der "orthodoxe Marxismus" der II. Internationale ist
die wissenschaftliche Ideologie der sozialistischen Revolution, die ihre ganze
Wahrheit mit dem objektiven Prozeß in der Wirtschaft und mit dem Fortschritt
einer Anerkennung dieser Notwendigkeit in der von der Organisation erzogenen
Arbeiterklasse identisch setzt. Diese Ideologie findet das Vertrauen in die
pädagogische Beweisführung wieder, das den utopischen Sozialismus
charakterisiert hatte, ergänzt es aber durch eine kontemplative Bezugnahme
auf den Lauf der Geschichte: eine derartige Haltung hat jedoch ebenso die
Hegelsche Dimension einer totalen Geschichte wie auch das unbewegliche Bild
der Totalität verloren, das in der utopischen Kritik (am stärksten
bei Fourier) vorhanden war. Aus einer solchen wissenschaftlichen Haltung,
der natürlich nichts anderes übrig blieb, als zumindest symmetrische
sittliche Alternativen wiederzubeleben, stammen die Albernheiten Hilferdings,
wenn er präzisiert, daß die Anerkennung der Notwendigkeit des Sozialismus
keine "Anweisung zu praktischem Verhalten ist. Denn etwas anderes ist es,
eine Notwendigkeit zu erkennen, etwas anderes, sich in den Dienst dieser Notwendigkeit
zu stellen" (Das Finanzkapital). Diejenigen, die verkannt haben, daß
für Marx und das revolutionäre Proletariat das einheitliche geschichtliche
Denken von einer anzunehmenden praktischen Haltung nicht zu unterscheiden
war, mußten normalerweise Opfer der Praxis werden, die sie gleichzeitig
angenommen hatten.
- Die Ideologie der sozialdemokratischen Organisation stellte
sie unter die Gewalt der Lehrer, die die Arbeiterklasse erzogen, und
die angenommene Organisationsform war die adäquate Form dieser passiven
Schulung. Die Teilnahme der Sozialisten der II. Internationale an den
politischen und wirtschaftlichen Kämpfen war ohne Zweifel konkret, aber
zutiefst unkritisch. Sie wurde im Namen der revolutionären
Illusion, gemäß einer offenbar reformistischen Praxis
geführt. So sollte die revolutionäre Ideologie gerade durch den
Erfolg derer zerschlagen werden, die ihre Träger waren. Die Absonderung
der Abgeordneten und der Journalisten in der Bewegung verleitete diejenigen,
die ohnehin schon unter den bürgerlichen Intellektuellen abgeworben worden
waren, zur bürgerlichen Lebensweise. Die Gewerkschaftsbürokratie
machte gerade diejenigen, die aus den Kämpfen der Industriearbeiter heraus
abgeworben und aus ihnen herausgezogen worden waren, zu Maklern der als Ware
zu ihrem gerechten Preis zu verkaufenden Arbeitskraft. Damit ihrer aller Tätigkeit
etwas Revolutionäres behalten hätte, wäre es erforderlich gewesen,
daß der Kapitalismus in diesem Moment außerstande gewesen wäre,
diesen Reformismus, den er politisch in ihrer legalistischen Agitation tolerierte,
wirtschaftlich zu tragen. Eine solche Unverträglichkeit wurde
von ihrer Wissenschaft gesichert und von der Geschichte jederzeit widerlegt.
- Dieser Widerspruch, dessen Realität Bernstein ehrlich
aufzeigen wollte, weil er der Sozialdemokrat war, der von der politischen
Ideologie am weitesten entfernt war und sich am offensten der Methodologie
der bürgerlichen Wissenschaft angeschlossen hatte, - diese Realität
wurde auch von der reformistischen Bewegung der englischen Arbeiter aufgezeigt,
indem sie auf eine revolutionäre Ideologie verzichtete -, sollte
dennoch erst durch die geschichtliche Entwicklung selbst unwiderlegbar bewiesen
werden. Bernstein hatte, obwohl er im übrigen voll von Illusionen war,
bestritten, daß eine Krise der kapitalistischen Produktion auf wunderbare
Weise die Sozialisten zur Tat zwingen würde, die nur durch eine legitime
Salbung die Erbschaft der Revolution antreten wollten. Der Augenblick tiefgreifender
gesellschaftlicher Umwälzung, der mit dem ersten Weltkrieg eintrat, bewies
zweimal, wenn er auch an Bewußtseinsbildung fruchtbar war, daß
die sozialdemokratische Hierarchie die deutschen Arbeiter nicht revolutionär
erzogen hatte, sie in keiner Weise zu Theoretikern gemacht hatte: zuerst,
als sich die große Mehrheit der Partei dem imperialistischen Krieg anschloß
und dann, als sie in der Niederlage die spartakistischen Revolutionäre
zermalmte. Der Exarbeiter Ebert glaubte noch an die Sünde, denn er gab
zu, die Revolution "wie die Sünde" zu hassen. Und dieser gleiche Arbeiterführer
erwies sich später als guter Vorläufer der sozialistischen Repräsentation,
die sich wenig später dem Proletariat in Rußland und anderswo als
absoluter Feind entgegenstellen sollte, als er das genaue Programm dieser
neuen Entfremdung formulierte: "Sozialismus heißt viel arbeiten."
- Lenin war als marxistischer Denker nur der konsequente und
treue Kautskyaner, der die revolutionäre Ideologie dieses
"orthodoxen Marxismus" unter den russischen Bedingungen anwandte, die die
reformistische Praxis nicht zuließen, welche im Gegenteil von der II. Internationale
durchgeführt wurde. Die äußere Führung des Proletariats,
die vermittels einer den zu "Berufsrevolutionären" gewordenen Intellektuellen
unterstellten, disziplinierten, geheimen Partei handelt, besteht hier in einem
Beruf, der mit keinem Führungsberuf der kapitalistischen Gesellschaft
paktieren will (übrigens war das politische Regime des Zarismus außerstande,
eine solche Öffnung zu bieten, deren Basis in einem fortgeschrittenen
Stadium der Macht der Bourgeoisie besteht). Sie wird also zum Beruf der
absoluten Führung der Gesellschaft.
- Der autoritäre ideologische Radikalismus der Bolschewisten
hat sich mit dem Krieg und dem Zusammenbruch der internationalen Sozialdemokratie
angesichts des Krieges weltweit entfaltet. Das blutige Ende der demokratischen
Illusionen der Arbeiterbewegung hatte aus der ganzen Welt ein Rußland
gemacht, und der Bolschewismus, der den ersten revolutionären Bruch,
den diese Krisenepoche mit sich gebracht hatte, beherrschte, bot dem Proletariat
aller Länder sein hierarchisches und ideologisches Modell an, um mit
der herrschenden Klasse "russisch zu sprechen". Lenin hat dem Marxismus der
II. Internationale nicht vorgeworfen, eine revolutionäre ldeologie
zu sein, sondern keine mehr zu sein.
- Derselbe geschichtliche Moment, in dem der Bolschewismus
in Rußland für sich selbst siegte, und die Sozialdemokratie
siegreich für die alte Welt kämpfte, bezeichnet die vollendete
Entstehung einer Ordnung der Dinge, welche im Mittelpunkt der Herrschaft des
modernen Spektakels steht: die Arbeiterrepräsentation hat sich
radikal der Klasse entgegensetzt.
- "In allen früheren Revolutionen", schrieb Rosa Luxemburg
in der Roten Fahne vom 21. Dezember 1918, "traten die Kämpfer mit
offenem Visier in die Schranken: Klasse gegen Klasse, Programm gegen Programm &
In der heutigen Revolution treten die Schutzgruppen der alten Ordnung nicht
unter eigenen Schildern und Wappen der herrschenden Klassen, sondern unter
der Fahne einer "sozialdemokratischen Partei" in die Schranken &
Würde die Kardinalfrage der Revolution offen und ehrlich: Kapitalismus
oder Sozialismus lauten, ein Zweifeln, ein Schwanken wäre in der großen
Masse des Proletariats heute unmöglich". So entdeckte die radikale Strömung
des deutschen Proletariats wenige Tage vor ihrer Zerstörung das Geheimnis
der neuen Bedingungen, die der gesamte vorherige Prozeß (zu dem die
Arbeiterrepräsentation erheblich beigetragen hatte) geschaffen hatte:
die spektakuläre Organisation der Verteidigung der bestehenden Ordnung,
das gesellschaftliche Reich des Scheins, wo keine "Kardinalfrage" mehr "offen
und ehrlich" gestellt werden kann. Die revolutionäre Repräsentation
des Proletariats war in diesem Stadium zugleich der Hauptfaktor und das zentrale
Ergebnis der allgemeinen Verfälschung der Gesellschaft geworden.
- Die Organisation des Proletariats nach dem bolschewistischen
Modell, die aus der russischen Rückständigkeit und dem Verzicht
der Arbeiterbewegung der fortgeschrittenen Länder auf den revolutionären
Kampf entstanden war, traf auch in der russischen Rückständigkeit
alle Bedingungen, durch welche diese Organisationsform zur konterrevolutionären
Verkehrung geführt wurde, die sie bewußtlos in ihrem Urkeim enthielt;
und der wiederholte Verzicht der Masse der europäischen Arbeiterbewegung
auf das Hic Rhodus, hic salta der Periode 1918 -1920, dieser Verzicht,
der die gewaltsame Zerstörung ihrer radikalen Minderheit einschloß,
begünstigte die vollständige Entwicklung des Prozesses und so konnte
sich dessen verlogenes Ergebnis vor der Welt als die einzige proletarische
Lösung behaupten. Die Ergreifung des staatlichen Monopols der Repräsentation
und der Verteidigung der Macht der Arbeiter, die die bolschewistische Partei
rechtfertigte, ließ sie zu dem werden, was sie war: die Partei
der Eigentümer des Proletariats, die die vorherigen Formen des
Eigentums im wesentlichen beseitigte.
- Alle die Bedingungen der Liquidierung des Zarismus, die
in der stets unbefriedigenden theoretischen Debatte der verschiedenen Tendenzen
der russischen Sozialdemokratie seit zwanzig Jahren in Betracht gezogen wurden -
Schwäche der Bourgeoisie, Gewicht der Bauernmehrheit, entscheidende Rolle
eines konzentrierten und schlagkräftigen, aber im Lande höchst minoritären
Proletariats - zeigten endlich ihre Lösung in der Praxis durch eine
Gegebenheit, die in den Hypothesen nicht vorhanden war: die revolutionäre
Bürokratie, die das Proletariat führte, gab, indem sie den Staat
ergriff, der Gesellschaft eine neue Klassenherrschaft. Die rein bürgerliche
Revolution war unmöglich, die "demokratische Diktatur der Arbeiter und
Bauern" war sinnlos, die proletarische Macht der Sowjets konnte sich nicht
gleichzeitig gegen die Klasse der besitzenden Bauern, gegen die nationale
und internationale weiße Reaktion und gegen ihre eigene Repräsentation
behaupten, welche als Arbeiterpartei der absoluten Herren des Staates, der
Wirtschaft, der Rede und bald auch des Denkens entäußert und entfremdet
war. Die Theorie der permanenten Revolution von Trotzki und Parvus, der sich
Lenin tatsächlich im April 1917 anschloß, war die einzige, die
für die im Verhältnis zur gesellschaftlichen Entwicklung der Bourgeoisie
zurückgebliebenen Länder wahr wurde, aber dies erst nach der Einführung
dieses unbekannten Faktors: der Klassengewalt der Bürokratie. Die Konzentration
der Diktatur in den Händen der obersten Repräsentation der Ideologie
wurde in den zahlreichen Auseinandersetzungen innerhalb der bolschewistischen
Führung am konsequentesten von Lenin verteidigt. Lenin hatte gegenüber
seinen Gegnern jedesmal insofern Recht, als er die Lösung unterstützte,
die die vorangegangenen Entscheidungen der minoritären absoluten Macht
implizierten: die den Bauern staatlich verweigerte Demokratie mußte
auch den Arbeitern verweigert werden, was darauf hinauslief, sie auch den
kommunistischen Gewerkschaftsführern und in der ganzen Partei und schließlich
bis hoch in die Spitze der hierarchischen Partei zu verweigern. Auf dem X. Kongreß,
im Moment, in dem der Sowjet von Kronstadt mit Waffen niedergeschlagen und
unter Verleumdungen begraben worden war, kam Lenin in der Auseinandersetzung
mit den linksradikalen Bürokraten, die in der "Arbeiteropposition" organisiert
waren, zu dem Schluß, dessen Logik Stalin bis hin zu einer vollkommenen
Teilung der Welt fortführte: "Hier oder dort mit einem Gewehr, aber nicht
mit der Opposition & Wir haben genug von der Opposition."
- Die Bürokratie, die als einzige Eigentümerin eines
Staatskapitalismus übriggeblieben war, sicherte nach Kronstadt,
zur Zeit der "neuen Wirtschaftspolitik", zuerst ihre Macht im Inneren durch
eine zeitweilige Allianz mit der Bauernschaft, so wie sie sie nach außen
verteidigte, indem sie die in den bürokratischen Parteien der III. Internationale
eingereihten Arbeiter als Hilfskraft der russischen Diplomatie benutzte, um
jede revolutionäre Bewegung zu sabotieren und bürgerliche Regierungen
zu unterstützen, von denen sie einen Beistand in der Weltpolitik erwartete
(die Macht der Kuomintang im China 1925-1927, die Volksfront in Spanien und
Frankreich usw.). Aber die bürokratische Gesellschaft mußte ihre
eigene Vollendung mit Hilfe des Terrors über die Bauernschaft fortführen,
um die brutalste ursprünglichste kapitalistische Akkumulation der Geschichte
durchzuführen. Diese Industrialisierung der stalinistischen Epoche enthüllt
die letzte Realität der Bürokratie: Sie ist die Fortsetzung
der Macht, der Wirtschaft, die Rettung des Wesentlichen der Warengesellschaft
durch die Aufrechterhaltung der Arbeit als Ware. Sie ist der Beweis der unabhängigen
Wirtschaft, die die Gesellschaft so weit beherrscht, daß sie für
ihre eigenen Ziele die Klassenherrschaft wiederherstellt, die sie notwendig
braucht, was mit anderen Worten heißt, daß die Bourgeoisie eine
autonome Macht geschaffen hat, die, solange diese Autonomie besteht, so weit
gehen kann, daß sie ohne Bourgeoisie auskommt. Die totalitäre Bürokratie
ist nicht "die letzte Klasse, die Eigentümer der Geschichte" wäre,
wie Bruno Rizzi meinte, sondern lediglich eine herrschende Ersatzklasse
für die Warenwirtschaft. Das geschwächte kapitalistische Privateigentum
wird durch ein vereinfachtes, nicht so verschiedenartiges, als kollektives
Eigentum der bürokratischen Klasse konzentriertes Nebenprodukt
ersetzt. Diese unterentwickelte Form einer herrschenden Klasse ist auch der
Ausdruck der wirtschaftlichen Unterentwicklung und kennt nur die Perspektive,
diesen Entwicklungsrückstand in bestimmten Gegenden der Welt einzuholen.
Die nach dem bürgerlichen Modell der Absonderung organisierte Arbeiterpartei
hat für diese Ergänzungsaufgabe der herrschenden Klasse den hierarchisch-staatlichen
Rahmen geschaffen. Anton Ciliga notierte in einem Gefängnis Stalins,
daß "die technischen Organisationsprobleme sich als gesellschaftliche
Probleme erwiesen" (Lenin und die Revolution).
- Die revolutionäre Ideologie, d.h. die Kohärenz
des Getrennten - dessen größte voluntaristische Anstrengung
der Leninismus bildet -, die die Verwaltung einer Realität innehat,
die sie abweist, wird mit dem Stalinismus wieder zu ihrer Wahrheit
in der Inkohärenz gelangen. In diesem Augenblick ist die Ideologie
keine Waffe mehr, sondern ein Ziel. Die Lüge, die nicht mehr widerlegt
wird, wird zum Wahnsinn. In der totalitären ideologischen Proklamation
ist die Realität ebenso wie der Zweck aufgelöst: alles, was sie
sagt, ist alles, was ist. Sie ist ein lokaler Primitivismus des Spektakels,
dessen Rolle jedoch in der Entwicklung des Weltspektakels wesentlich ist.
Die Ideologie, die sich hier materialisiert, hat nicht die Welt wirtschaftlich
verändert, wie der zum Stadium des Überflusses gelangte Kapitalismus:
sie hat lediglich die Wahrnehmung polizeilich verändert.
- Die machthabende totalitär-ideologische Klasse ist
die Macht einer verkehrten Welt: je stärker sie ist, um so mehr behauptet
sie, daß sie nicht existiert, und ihre Stärke dient ihr zunächst
dazu, ihre Nichtexistenz zu behaupten. Nur in diesem Punkt ist sie bescheiden,
denn ihre offizielle Nichtexistenz muß auch mit dem nec plus ultra
der geschichtlichen Entwicklung zusammenfallen, das man gleichzeitig angeblich
ihrer unfehlbaren Führung verdanken soll. Die überall zur Schau
gestellte Bürokratie muß für das Bewußtsein die unsichtbare
Klasse sein, so daß das ganze gesellschaftliche Leben verrückt
wird. Die gesellschaftliche Organisation der absoluten Lüge folgt aus
diesem grundlegenden Widerspruch.
- Der Stalinismus war die Schreckensherrschaft innerhalb der
bürokratischen Klasse selbst. Der Terrorismus, der die Macht dieser Klasse
begründet, muß auch diese Klasse treffen, denn sie hat als besitzende
Klasse keine juristische Garantie, keine anerkannte Existenz, die sie auf
jedes ihrer Mitglieder ausdehnen könnte. Ihr wirkliches Eigentum ist
versteckt, und sie ist nur mit Hilfe des falschen Bewußtseins zur Eigentümerin
geworden. Das falsche Bewußtsein behauptet seine absolute Macht nur
durch den absoluten Terror, in dem jede wahre Begründung endlich verloren
geht. Die Mitglieder der machthabenden bürokratischen Klasse haben nur
insofern kollektiv das Besitzungsrecht über die Gesellschaft, als sie
bei einer grundlegenden Lüge mitwirken: Sie müssen die Rolle des
eine sozialistische Gesellschaft führenden Proletariats spielen; sie
müssen die dem Text der ideologischen Untreue treuen Schauspieler sein.
Aber die wirkliche Mitwirkung bei diesem Verlogensein muß selbst als
eine wahrhaftige Mitwirkung anerkannt werden. Kein Bürokrat kann individuell
sein Recht auf die Macht behaupten, denn sich als einen sozialistischen Proletarier
zu erweisen, würde heißen, sich als das Gegenteil eines Bürokraten
zu zeigen; und sich als einen Bürokraten zu erweisen, ist ihm unmöglich,
denn die offizielle Wahrheit der Bürokratie ist ihr Nichtsein. So befindet
sich jeder Bürokrat in der absoluten Abhängigkeit einer zentralen
Garantie der Ideologie, die eine kollektive Mitwirkung aller der Bürokraten
an ihrer "sozialistischen Macht" anerkennt, welche sie nicht vernichtet.
Wenn die Bürokraten insgesamt über alles entscheiden, kann der Zusammenhalt
ihrer eigenen Klasse nur durch die Konzentration ihrer terroristischen Macht
in einer einzigen Person gesichert werden. In dieser Person liegt die einzige
praktische Wahrheit der machthabenden Lüge: die unbestreitbare Festsetzung
ihrer stets berichtigten Grenze. In letzter Instanz bestimmt Stalin, wer schließlich
besitzender Bürokrat ist; d.h. wer als "machthabender Proletarier" oder
als "vom Mikado und Wallstreet gekaufter Verräter" bezeichnet werden
muß. Die bürokratischen Atome finden nur in der Person Stalins
das gemeinsame Wesen ihres Rechts. Stalin ist dieser Herr der Welt, der sich
auf diese Weise die absolute Person ist, für deren Bewußtsein kein
höherer Geist existiert. "Der Herr der Welt hat das wirkliche Bewußtsein
dessen, was er ist, der allgemeinen Macht der Wirklichkeit, in der zerstörenden
Gewalt, die er gegen das ihm gegenüber stehende Selbst seiner Untertanen
ausübt". Während er die Macht ist, die den Boden der Herrschaft
bestimmt, ist er ebenso "das zerstörende Wühlen in diesem Boden".
- Wenn sich die durch den Besitz der absoluten Macht absolut
gewordene Theologie von einer parzellierten Kenntnis zu einer totalitären
Lüge verwandelt hat, ist das Denken der Geschichte so vollkommen vernichtet
worden, daß die Geschichte selbst auf der Ebene der empirischen Kenntnis
nicht mehr existieren kann. Die totalitäre bürokratische Gesellschaft
lebt in einer immerwährenden Gegenwart, in welcher für sie alles,
was geschehen ist, nur als für ihre Polizei zugänglicher Raum existiert.
Der schon von Napoleon formulierte Vorsatz, "die Energie der Erinnerungen
monarchisch zu leiten", hat in einer ständigen Manipulation der Vergangenheit
nicht nur in ihren Bedeutungen, sondern auch in ihren Tatsachen seine volle
Konkretisierung gefunden. Aber der Preis dieser Befreiung von jeder geschichtlichen
Realität ist der Verlust des für die geschichtliche Gesellschaft
des Kapitalismus unentbehrlichen, rationellen Bezuges. Es ist bekannt, wieviel
die wissenschaftliche Anwendung der zum Wahnsinn gewordenen Ideologie die
russische Wirtschaft gekostet hat und sei es auch nur durch den Betrug Lyssenkos.
Dieser Widerspruch der eine industrialisierte Gesellschaft verwaltenden totalitären
Bürokratie, die zwischen ihrem Bedarf an Rationellem und ihrer Ablehnung
des Rationellen gefangen ist, bildet auch einen der Hauptmängel dieser
Bürokratie gegenüber der normalen kapitalistischen Entwicklung.
So wie die Bürokratie die Landwirtschaftsfrage schlechter lösen
kann, als es die kapitalistische Entwicklung vermag, so steht sie ihr schließlich
ebenfalls in der Industrieproduktion nach, welche autoritär auf der Basis
des Irrealismus und der verallgemeinerten Lüge geplant wird.
- Die revolutionäre Arbeiterbewegung zwischen den beiden
Kriegen wurde durch das vereinte Wirken der stalinistischen Bürokratie
und des faschistischen Totalitarismus, der seine Organisationsform der in
Rußland probierten totalitären Partei entlehnt hatte, vernichtet.
Der Faschismus war eine extremistische Verteidigung der von der Krise und
der proletarischen Subversion bedrohten bürgerlichen Wirtschaft, d.h.
er war der Belagerungszustand in der kapitalistischen Gesellschaft,
durch den sich diese Gesellschaft rettet und sich eine erste Notrationalisierung
gibt, indem sie den Staat in ihre Verwaltung massiv eingreifen läßt.
Aber eine solche Rationalisierung ist selbst mit der ungeheuren Irrationalität
ihres Mittels belastet. Wenn auch der Faschismus die Verteidigung der Hauptpunkte
der konservativ gewordenen bürgerlichen Ideologie (die Familie, das Eigentum,
die Sittenordnung, die Nation) übernimmt, indem er das Kleinbürgertum
mit den Arbeitslosen vereinigt, die aufgrund der Krise verwirrt oder durch
die Ohnmacht der sozialistischen Revolution enttäuscht sind, so ist er
selbst keineswegs durch und durch ideologisch. Er gibt sich als das, was er
ist: eine gewaltsame Auferstehung des Mythos, der die Teilnahme an
einer Gemeinschaft verlangt, die durch archaische Pseudowerte definiert wird:
die Rasse, das Blut, den Führer. Der Faschismus ist der technisch
ausgerüstete Archaismus. Sein verfaulter Ersatz des Mythos
wird im spektakulären Zusammenhang der modernsten Mittel des Dressierens
und der Täuschung wieder aufgenommen. So ist er einer der Faktoren bei
der Herausbildung des modernen Spektakelwesens, so wie ihn sein Anteil an
der Zerstörung der alten Arbeiterbewegung zu einer der Gründermächte
der gegenwärtigen Gesellschaft macht; aber da der Faschismus auch die
kostspieligste Form der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung
ist, mußte er normalerweise, als er durch rationellere und stärkere
Formen dieser Ordnung beseitigt wurde, vom Vordergrund der Bühne abtreten,
auf der die kapitalistischen Staaten die großen Rollen spielen.
- Als es der russischen Bürokratie endlich gelungen war,
sich der Reste des bürgerlichen Eigentums zu entledigen, die ihre Herrschaft
über die Wirtschaft behinderten, diese für ihren eigenen Gebrauch
zu entwickeln und im Ausland unter den Großmächten anerkannt zu
werden, will sie in Ruhe ihre eigene Welt genießen, und deren Teil von
Willkür abschaffen, der auf sie selbst wirkte: sie denunziert den Stalinismus
ihres Ursprungs. Aber eine derartige Denunziation bleibt stalinistisch, willkürlich,
unerklärt und ständig berichtigt, denn die ideologische Lüge
ihres Ursprungs kann niemals offenbart werden. So kann sich die Bürokratie
weder kulturell noch politisch liberalisieren, denn ihr Bestehen als Klasse
hängt von ihrem ideologischen Monopol ab, das in seiner ganzen Schwere
ihren einzigen Eigentumstitel bildet. Die Ideologie hat zwar die Leidenschaft
ihrer positiven Behauptung verloren, aber was davon als gleichgültige
Trivialität übrigbleibt, hat noch die repressive Funktion, die geringste
Konkurrenz zu verbieten, und die Ganzheit des Denkens gefangenzuhalten. Die
Bürokratie ist daher mit einer Ideologie verknüpft, an die niemand
mehr glaubt. Was terroristisch war, ist lächerlich geworden, aber diese
Lächerlichkeit selbst kann sich nur dadurch aufrechterhalten, daß
sie im Hintergrund den Terrorismus aufbewahrt, von dem sie sich freimachen
möchte. So bekennt sich die Bürokratie gerade in dem Moment, in
dem sie auf dem Boden des Kapitalismus ihre Überlegenheit beweisen will,
als arme Verwandte des Kapitalismus. So wie ihre tatsächliche
Geschichte ihrem Recht widerspricht, und ihre auf plumpe Weise aufrechterhaltene
Unwissenheit ihren wissenschaftlichen Ansprüchen zuwiderläuft, so
wird ihr Plan, in der Produktion eines Warenüberflusses mit der Bourgeoisie
zu rivalisieren, dadurch behindert, daß ein derartiger Überfluß
in sich seine implizierte Ideologie trägt und normalerweise von
einer unendlich ausgedehnten Freiheit falscher spektakulärer Wahlmöglichkeiten
begleitet wird, von einer Pseudofreiheit, die mit der bürokratischen
Ideologie unvereinbar bleibt.
- In diesem Moment der Entwicklung bricht der ideologische
Eigentumstitel der Bürokratie bereits im Weltmaßstabe zusammen.
Die Macht, die sich national als grundlegend internationalistisches Modell
etabliert hatte, muß zugeben, daß sie nicht mehr behaupten kann,
ihre lügenhafte Kohäsion jenseits jeder nationalen Grenze aufrechtzuerhalten.
Die ungleiche Wirtschaftsentwicklung, die Bürokratien mit konkurrierenden
Interessen erfahren, denen es gelungen ist, ihren "Sozialismus" außerhalb
eines einzigen Landes zu besitzen, hat zur öffentlichen und vollständigen
Auseinandersetzung zwischen der russischen und der chinesischen Lüge
geführt. Von diesem Punkt an muß jede Bürokratie, die an der
Macht ist, oder jede totalitäre Partei, die sich um die von der stalinistischen
Periode in einigen nationalen Arbeiterklassen hinterlassene Macht bewirbt,
ihren eigenen Weg gehen. Der weltweite Zerfall der Allianz der bürokratischen
Mystifizierung, der zu den Äußerungen der inneren Negation hinzutritt,
die sich vor der Welt mit dem Arbeiteraufstand in Ostberlin, der den Bürokraten
ihre Forderung nach einer "Metallarbeiterregierung" entgegensetzte, zu behaupten
begannen, und die sogar einmal bis zur Macht der Arbeiterräte in Ungarn
führten, erwies sich in letzter Analyse als der ungünstigste Faktor
für die heutige Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft. Die Bourgeoisie
ist auf dem Wege, den Gegner zu verlieren, der sie objektiv stützte,
indem er jede Negation der bestehenden Ordnung illusorisch vereinte. Eine
solche Teilung der spektakulären Arbeit sieht ihrem Ende entgegen, wenn
sich die pseudorevolutionäre Rolle ihrerseits teilt. Das spektakuläre
Element der Auflösung der Arbeiterbewegung wird selbst aufgelöst.
- Die leninistische Illusion hat heute nur noch in den verschiedenen
trotzkistischen Richtungen eine Basis, in denen die Identifizierung des proletarischen
Projektes mit einer hierarchischen Organisation der Ideologie unerschütterlich
die Erfahrungen all ihrer Ergebnisse überlebt. Die Distanz, die den Trotzkismus
von der revolutionären Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft trennt,
erlaubt ihm auch seine respektvolle Distanz gegenüber Positionen, die
bereits falsch waren, als sie sich in einem wirklichen Kampf abnutzten. Trotzki
blieb bis 1927 mit der hohen Bürokratie von Grund aus solidarisch und
versuchte gleichzeitig, sich ihrer zu bemächtigen, um sie zur Wiederaufnahme
einer wirklichen bolschewistischen Aktion im Ausland zu bewegen (es ist bekannt,
daß er damals sogar verleumderisch seinen Kampfgefährten Max Eastman
verleugnete, um mitzuhelfen, das berühmte "Testament Lenins" zu verheimlichen,
das dieser bekannt gemacht hatte). Trotzki wurde durch seine grundlegende
Perspektive verurteilt, denn im Moment, in dem die Bürokratie sich selbst
in ihrem Ergebnis als konterrevolutionäre Klasse im Inland erkennt, muß
sie sich auch dazu entscheiden, im Ausland im Namen der Revolution tatsächlich
konterrevolutionär zu sein, so wie im Inland. Der spätere
Kampf Trotzkis für eine IV. Internationale enthält die gleiche
Inkonsequenz. Er hat sich sein ganzes Leben lang geweigert, in der Bürokratie
die Macht einer getrennten Klasse anzuerkennen, weil er während der zweiten
russischen Revolution ein bedingungsloser Anhänger der bolschewistischen
Organisationsform geworden war. Als Lukacs 1923 in dieser Form die endlich
gefundene Vermittlung zwischen Theorie und Praxis zeigte, bei der die Proletarier
nicht mehr "Zuschauer" der Ereignisse sind, die in ihrer Organisation
geschehen, sondern sie bewußt gewählt und erlebt haben, beschrieb
er als tatsächliche Verdienste der bolschewistischen Partei all das,
was die bolschewistische Partei nicht war. Lukacs war noch, neben seiner
tiefen theoretischen Arbeit, ein Ideologe, der im Namen einer Macht sprach,
die auf die vulgärste Weise außerhalb der proletarischen Bewegung
stand, und der glaubte und glauben ließ, daß er sich selbst, mit
seiner ganzen Persönlichkeit, in dieser Macht befand, als ob er sich
in seiner eigenen Macht befände. Während in der Folge offen
zu Tage trat, auf welche Weise diese Macht ihre Knechte verleugnet und beseitigt,
zeigte Lukacs, der sich ständig selbst verleugnete, mit karikaturaler
Deutlichkeit, womit genau er sich identifiziert hatte: mit dem Gegenteil
seiner selbst und all dessen, was er in Geschichte und Klassenbewußtsein
verteidigt hatte. Lukacs bewahrheitet am besten die Grundregel, an der
alle Intellektuellen dieses Jahrhunderts zu beurteilen sind: an dem, was sie
achten, läßt sich ganz genau ihre eigene verachtenswerte
Realität ermessen. Lenin hatte diese Art von Illusionen über
seine Tätigkeit nicht gefördert, denn er gab zu, daß "eine
politische Partei nicht ihre Mitglieder überprüfen kann, um festzustellen,
ob Widersprüche zwischen deren Philosophie und dem Programm der Partei
bestehen". Die wirkliche Partei, deren Traumporträt Lukacs zur Unzeit
dargestellt hatte, war nur für die Ausführung einer präzisen
Teilaufgabe kohärent: d.h. für die Ergreifung der Macht im Staat.
- Weil die neoleninistische Illusion des heutigen Trotzkismus
von der Realität der modernen kapitalistischen Gesellschaft, der bürgerlichen
wie der bürokratischen, alle Augenblicke widerlegt wird, findet sie natürlich
in den formal unabhängigen "unterentwickelten" Ländern einen bevorzugten
Geltungsbereich, in denen die Illusionen irgendeiner Variante des bürokratischen
Staatssozialismus als einfache Ideologie der Herrschaftsentwicklung von
den lokalen herrschenden Klassen bewußt manipuliert wird. Die zwitterhafte
Zusammensetzung dieser Klassen hängt mehr oder weniger deutlich einer
Abstufung auf dem Spektrum Bourgeoisie-Bürokratie an. Ihr Spiel im internationalen
Maßstab zwischen diesen beiden Polen der bestehenden kapitalistischen
Gewalt und - ebenso ihre ideologischen Kompromisse - insbesondere
mit dem Islam - die die zwitterhafte Realität ihrer gesellschaftlichen
Basis ausdrücken, nehmen vollends diesem letzten Nebenprodukt des ideologischen
Sozialismus jeden Ernst außer dem polizeilichen. Eine Bürokratie
konnte sich aus den Stammtruppen des nationalen Kampfes und des Agraraufstandes
der Bauern herausbilden: dann ist sie bestrebt, wie in China, das stalinistische
Industrialisierungsmodell in einer Gesellschaft anzuwenden, die weniger entwickelt
ist als das Rußland von 1917. Eine Bürokratie, die dazu fähig
ist, die Nation zu industrialisieren, kann sich aus dem Kleinbürgertum
bilden, als Kader der Armee die Macht ergreifen, wie das Beispiel Ägyptens
zeigt. An einigen Punkten, wie im Algerien am Ende seines Krieges um die Unabhängigkeit,
sucht die Bürokratie, die sich während des Kampfes als parastaatliche
Führung gebildet hat, den Gleichgewichtspunkt eines Kompromisses, um
mit einer schwachen nationalen Bourgeoisie zu fusionieren. Schließlich
bildet sich in den ehemaligen Kolonien des schwarzen Afrikas, die offen mit
der westlichen, d.h. amerikanischen und europäischen Bourgeoisie verknüpft
bleiben, eine Bourgeoisie - zumeist aus der Macht der traditionellen
Stammeshäuptlinge - durch den Besitz des Staates: in diesen
Ländern, in denen der ausländische Imperialismus der wahre Herr
der Wirtschaft bleibt, wird ein Stadium erreicht, in dem die Compradores
als Vergütung für ihren Verkauf der Eingeborenenprodukte den
Eingeborenenstaat als Eigentum bekommen haben, welcher zwar gegenüber
den lokalen Massen, nicht aber gegenüber dem Imperialismus unabhängig
ist. In diesem Fall handelt es sich um eine künstliche Bourgeoisie, die
nicht fähig ist zu akkumulieren, sondern die bloß verschwendet
und zwar den ihr zukommenden Teil des Mehrwerts aus der lokalen Arbeit
ebenso wie die ausländischen Subsidien der Staaten oder der Monopole,
die sie schützen. Die Offensichtlichkeit der Unfähigkeit dieser
bürgerlichen Klassen, die normale wirtschaftliche Funktion der Bourgeoisie
zu erfüllen, führt dazu, daß sich gegenüber jeder dieser
Klassen eine Subversion nach dem mehr oder weniger den örtlichen Besonderheiten
angepaßten bürokratischen Modell bildet, die die Erbschaft der
Bourgeoisie übernehmen will. Aber der Erfolg selbst einer Bürokratie
bei ihrem Hauptprojekt der Industrialisierung enthielt notwendig die Perspektive
ihres geschichtlichen Scheiterns: wenn sie das Kapital akkumuliert, akkumuliert
sie auch das Proletariat, und erzeugt ihre eigene Widerlegung in einem Land,
in dem es noch nicht vorhanden war.
- In dieser komplexen und furchtbaren Entwicklung, die die
Epoche der Klassenkämpfe zu neuen Bedingungen geführt hat, hat das
Proletariat der industriellen Länder völlig die Behauptung seiner
selbständigen Perspektive und schließlich seine Illusionen,
doch nicht sein Sein verloren. Es ist nicht aufgehoben. Seine Existenz in
der gesteigerten Entfremdung des modernen Kapitalismus dauert unerbittlich
fort: dieses Proletariat besteht aus der ungeheuren Mehrzahl der Arbeiter,
die jede Macht über die Bestimmung ihres Lebens verloren haben und sich,
sobald sie das wissen, wieder als Proletariat definieren, als das in
dieser Gesellschaft wirkende Negative. Dieses Proletariat wird objektiv durch
den Prozeß des Verschwindens der Bauernschaft und durch die Ausweitung
der Logik in der Fabrikarbeit, die sich auf einen großen Teil der "Dienstleistungen"
und der intellektuellen Berufe erstreckt, verstärkt. Subjektiv ist
dieses Proletariat noch von seinem praktischen Klassenbewußtsein entfernt,
nicht nur bei den Angestellten, sondern auch bei den Arbeitern, die erst die
Machtlosigkeit und die Mystifizierung der alten Politik entdeckt haben. Wenn
das Proletariat jedoch entdeckt, daß seine geäußerte eigene
Kraft zur fortwährenden Verstärkung der kapitalistischen Gesellschaft
beiträgt, nicht mehr nur in der Form seiner Arbeit, sondern auch in der
Form der Gewerkschaften, der Parteien oder der staatlichen Macht, die es zu
seiner Emanzipierung gebildet hatte, entdeckt es auch durch die konkrete geschichtliche
Erfahrung, daß es die Klasse ist, die jeder erstarrten Äußerung
und jeder Spezialisierung der Macht vollständig Feind ist. Es trägt
die Revolution, die nichts außerhalb ihrer lassen kann, die Forderung
nach der fortwährenden Herrschaft der Gegenwart über die Vergangenheit
und die totale Kritik der Trennung; dazu muß es die adäquate Form
in der Aktion finden. Keine quantitative Verbesserung seines Elends, keine
Illusion hierarchischer Integration ist ein dauerhaftes Heilmittel für
seine Unzufriedenheit, denn das Proletariat kann sich nicht wahrhaftig in
einem besonderen Unrecht anerkennen, das an ihm verübt worden wäre
und folglich ebensowenig in der Wiedergutmachung eines besonderen Unrechts
oder vieler dieser Unrechte, sondern nur in dem Unrecht schlechthin,
an den Rand des Lebens gedrängt zu sein.
- Aus den neuen unbegriffenen und von der spektakulären
Anordnung verfälschten Zeichen der Negation, die sich in den wirtschaftlich
fortgeschrittensten Ländern mehren, läßt sich bereits diese
Schlußfolgerung ziehen, daß eine neue Epoche begonnen hat. Nach
dem ersten Versuch der Arbeitersubversion ist es jetzt der kapitalistische
Überfluß, der gescheitert ist. Wenn die antigewerkschaftlichen
Kämpfe der westlichen Arbeiter zunächst von den Gewerkschaften unterdrückt
werden und wenn die aufständischen Strömungen der Jugend einen ersten
formlosen Protest erheben, in dem jedoch die Verweigerung der alten spezialisierten
Politik, der Kunst und des Alltagslebens unmittelbar eingeschlossen ist, sind
das schon die beiden Gesichter eines neuen spontanen Kampfes, der unter verbrecherischer
Erscheinungsform beginnt. Es sind die ersten Vorzeichen des zweiten proletarischen
Ansturms gegen die Klassengesellschaft. Wenn die verlorenen Posten dieser
noch bewegungslosen Armee wieder auf diesem andersgewordenen und gleichgebliebenen
Gelände stehen, folgen sie einem neuen "General Ludd", der sie diesmal
zur Zerstörung der Maschinen des erlaubten Konsums losläßt.
- "Die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische
Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte", hat in diesem Jahrhundert in
den revolutionären Arbeiterräten eine deutliche Gestalt angenommen,
die in sich alle Funktionen der Entscheidung und der Ausführung konzentrieren
und sich vermittels von Vertretern föderieren, die gegenüber der
Basis verantwortlich und jederzeit abrufbar sind. Ihre tatsächliche Existenz
ist bisher erst ein kurzer Versuch gewesen, der zugleich von den verschiedenen
Kräften zur Verteidigung der Klassengesellschaft, zu denen häufig
auch ihr eigenes falsches Bewußtsein zu zählen ist, bekämpft
und besiegt wurde. Pannekoek betonte gerade die Tatsache, daß die Wahl
einer Macht der Arbeiterräte eher "Probleme stellt" als eine Lösung
bringt. Aber diese Macht ist gerade der Ort, wo die Probleme der Revolution
des Proletariats ihre wahre Lösung finden können. Sie ist der Ort,
wo die objektiven Bedingungen des geschichtlichen Bewußtseins vereinigt
sind; die Verwirklichung der aktiven, direkten Mitteilung, wo die Spezialisierung,
die Hierarchie und die Trennung aufhören, wo die bestehenden Bedingungen
in "Bedingungen der Einheit" verwandelt worden sind. Hier kann das proletarische
Subjekt aus seinem Kampf gegen die Kontemplation hervortreten: sein Bewußtsein
ist der praktischen Organisation gleich, die es sich gegeben hat, denn dieses
Bewußtsein selbst ist untrennbar von dem kohärenten Eingriff in
die Geschichte.
- In der Macht der Räte, die jede andere Macht international
ersetzen muß, ist die proletarische Bewegung ihr eigenes Produkt und
dieses Produkt ist der Produzent selbst. Sie ist sich selbst ihr eigener Zweck.
Nur hier wird die spektakuläre Verneinung des Lebens ihrerseits verneint.
- Das Auftauchen der Räte war die höchste Realität
der proletarischen Bewegung im ersten Viertel dieses Jahrhunderts, eine Realität,
die unbemerkt blieb oder entstellt wurde, weil sie mit dem Rest einer Bewegung
verschwand, die durch die Gesamtheit der damaligen geschichtlichen Erfahrung
verleugnet und beseitigt wurde. In dem neuen Moment der proletarischen Kritik
kehrt dieses Ergebnis als der einzige unbesiegte Punkt der besiegten Bewegung
wieder. Das geschichtliche Bewußtsein, das weiß, daß es
in ihm seinen einzigen Existenzraum hat, kann es jetzt wiedererkennen, aber
nicht mehr an der Peripherie dessen, was zurückströmt, sondern im
Zentrum dessen, was steigt.
- Eine vor der Macht der Räte bestehende revolutionäre
Organisation - die im Kampf ihre eigene Form wird finden müssen -
weiß bereits aus all diesen geschichtlichen Gründen, daß
sie die Klasse nicht repräsentiert. Sie muß sich selbst
nur als eine radikale Trennung von der Welt der Trennung erkennen.
- Die revolutionäre Organisation ist der kohärente
Ausdruck der Theorie der Praxis, die in nicht-einseitige Kommunikation mit
den praktischen Kämpfen tritt und zur praktischen Theorie wird. Ihre
eigene Praxis ist die Verallgemeinerung der Kommunikation und der Kohärenz
in diesen Kämpfen. In dem revolutionären Augenblick der Auflösung
der gesellschaftlichen Trennung muß diese Organisation ihre eigene Auflösung
als getrennte Organisation anerkennen.
- Die revolutionäre Organisation kann nur die einheitliche
Kritik der Gesellschaft sein, d.h. eine Kritik, die an keinem Punkt der Welt
mit irgendeiner Form von getrennter Macht paktiert, und eine Kritik, die global
gegen alle Aspekte des entfremdeten gesellschaftlichen Lebens ausgesprochen
wird. In dem Kampf der revolutionären Organisation gegen die Klassengesellschaft
sind die Waffen nichts anderes als das Wesen der Kämpfer selbst:
die revolutionäre Organisation kann in sich nicht die Bedingungen der
Entzweiung und der Hierarchie wieder erzeugen, die die Bedingungen der herrschenden
Gesellschaft sind. Sie muß fortwährend gegen ihre Entstellung im
herrschenden Spektakel kämpfen. Die einzige Grenze der Teilnahme an der
totalen Demokratie der revolutionären Organisation ist die Anerkennung
und die tatsächliche Selbstaneignung der Kohärenz ihrer Kritik durch
alle ihre Mitglieder, einer Kohärenz, die sich in der eigentlichen kritischen
Theorie und in deren Beziehung zur praktischen Tätigkeit bewähren
muß.
- Da die auf allen Ebenen immer weitergetriebene Verwirklichung
der kapitalistischen Entfremdung es den Arbeitern immer schwieriger macht,
ihr eigenes Elend zu erkennen und zu benennen und sie dadurch vor die Alternative
stellt, entweder ihr ganzes Elend oder nichts abzulehnen, hat die revolutionäre
Organisation lernen müssen, daß sie die Entfremdung nicht
mehr in entfremdeten Formen bekämpfen kann.
- Die proletarische Revolution hängt ganz und gar von
dieser Notwendigkeit ab, daß die Massen zum ersten Mal die Theorie als
Verständnis der menschlichen Praxis anerkennen und erleben müssen.
Sie fordert, daß die Arbeiter zu Dialektikern werden, und daß
sie der Praxis ihr Denken aufprägen; sie verlangt daher von den Männern
ohne Eigenschaften sehr viel mehr als die bürgerliche Revolution
von den qualifizierten Männern verlangte die sie zu ihrer Durchführung
beauftragte: denn das von einem Teil der bürgerlichen Klassen erzeugte,
parzellierte und ideologische Bewußtsein hatte jenen zentralen Teil
des gesellschaftlichen Lebens, die Wirtschaft, zur Grundlage, in der diese
Klasse bereits an der Macht war. Die eigene Entwicklung der Klassengesellschaft
zur spektakulären Organisation des Nicht-Lebens führt folglich das
revolutionäre Projekt dazu, sichtbar zu dem zu werden, was es
schon wesentlich war.
- Die revolutionäre Theorie ist jetzt jeder revolutionären
Ideologie Feind und sie weiß, daß sie es ist.
5. Kapitel
ZEIT UND GESCHICHTE
"Oh, edle Herrn, des Lebens Zeit ist kurz:
Wir treten Kön'ge nieder, wenn wir leben."
Shakespeare (Henry IV)
- Der Mensch, "das negative Wesen, welches nur
ist, insofern es Sein aufhebt", ist mit der Zeit identisch. Die Aneignung
seiner eigenen Natur durch den Menschen ist ebenfalls seine Ergreifung der
Entfaltung des Universums. "Die Geschichte selbst ist ein wichtiger Teil der
Naturgeschichte, des Werdens der Natur zum Menschen." (Marx). Umgekehrt
hat diese "Naturgeschichte" eine tatsächliche Existenz nur durch den
Prozeß einer menschlichen Geschichte, des einzigen Teils, der dieses
geschichtliche Ganze wiederfindet, wie das moderne Teleskop, das in der
Zeit durch seine Reichweite die fliehenden Nebelflecken an der Peripherie
des Weltalls einholt. Die Geschichte hat immer existiert, aber nicht immer
in ihrer geschichtlichen Form. Die Zeitigung des Menschen, wie sie durch die
Vermittlung einer Gesellschaft stattfindet, entspricht einer Vermenschlichung
der Zeit. In dem geschichtlichen Bewußtsein äußert sich die
bewußtlose Bewegung der Zeit und wird wahr.
- Die eigentlich geschichtliche Bewegung beginnt, wenn auch
noch verborgen, in der langsamen und unmerklichen Bildung "der wirklichen
Natur des Menschen", dieser "in der menschlichen Geschichte - dem Entstehungsakt
der menschlichen Gesellschaft - werdenden Natur", aber die Gesellschaft,
die sich dann einer Technik und einer Sprache bemeistert hat, ist sich, wenn
sie auch bereits das Produkt ihrer eigenen Geschichte ist, nur einer immerwährenden
Gegenwart bewußt. In dieser Gesellschaft wird jede Kenntnis, die auf
das Gedächtnis der Ältesten beschränkt ist, stets von Lebenden
getragen. Weder der Tod noch die Zeugung werden als ein Gesetz der Zeit
begriffen. Die Zeit steht still, wie ein geschlossener Raum. Wenn eine komplexere
Gesellschaft dazu kommt, sich der Zeit bewußt zu werden, besteht ihre
Arbeit vielmehr darin, diese Zeit zu leugnen, denn sie sieht in der Zeit nicht
das, was vergeht, sondern das, was wiederkommt. Die statische Gesellschaft
organisiert die Zeit nach ihrer unmittelbaren Erfahrung der Natur, im Modell
der zyklischen Zeit.
- Die zyklische Zeit ist bereits in der Erfahrung der Nomadenvölker
vorherrschend, denn vor ihnen finden sich in jedem Moment ihrer Wanderung
die gleichen Bedingungen wieder: Hegel bemerkt, daß "das Herumschweifen
der Nomaden nur formell ist, weil es in einförmige Kreise beschränkt
ist". Die Gesellschaft, die sich örtlich festsetzt und dabei durch die
Einrichtung individualisierter Orte dem Raum einen Inhalt gibt, findet sich
dadurch selbst im Inneren dieser Ortsbestimmung eingeschlossen. Die zeitliche
Rückkehr zu Orten, die sich gleichen, ist jetzt die reine Wiederkehr
der Zeit an einem gleichen Ort, die Wiederholung einer Reihe von Gesten. Der
Übergang vom Nomadentum der Hirten zur seßhaften Landwirtschaft
ist das Ende der inhaltslos-trägen Freiheit, der Beginn der mühevollen
Arbeit. Die von dem Rhythmus der Jahreszeiten beherrschte agrarische Produktionsweise
überhaupt ist die Basis der völlig ausgebildeten Wiederkehr des
Gleichen. Der Mythos ist die einheitliche Konstruktion des Denkens, das die
gesamte kosmische Ordnung um die Ordnung herum garantiert, welche diese Gesellschaft
tatsächlich bereits innerhalb ihrer Grenzen verwirklicht hat.
- Die gesellschaftliche Aneignung der Zeit, die Erzeugung
des Menschen durch die menschliche Arbeit, entwickeln sich in einer in Klassen
geteilten Gesellschaft. Die Macht, die sich über der Knappheit der Gesellschaft
der zyklischen Arbeit gebildet hat, die Klasse, die diese gesellschaftliche
Arbeit organisiert und sich deren begrenzten Mehrwert aneignet, eignet sich
ebenso den zeitlichen Mehrwert ihrer Organisation der gesellschaftlichen
Zeit an: sie besitzt für sich allein die irreversible Zeit des Lebendigen.
Der einzige Reichtum, den es konzentriert in dem Bereich der Macht geben kann,
um materiell für festlichen Aufwand ausgegeben zu werden, wird dabei
auch als Vergeudung einer geschichtlichen Zeit der Oberfläche der
Gesellschaft ausgegeben. Die Eigentümer des geschichtlichen Mehrwerts
besitzen die Kenntnis und den Genuß der erlebten Ereignisse. Diese Zeit,
die von der kollektiven Organisation der Zeit getrennt ist, welche mit der
wiederholten Produktion der Grundlage des gesellschaftlichen Lebens vorherrscht,
fließt oberhalb ihrer eigenen statischen Gemeinschaft. Es ist die Zeit
des Abenteuers und des Krieges, in der die Herren der zyklischen Gesellschaft
ihre persönliche Geschichte durchlaufen; es ist ebenso die Zeit, die
in dem Zusammenstoß zwischen fremden Gemeinschaften erscheint, die Störung
der unveränderlichen Ordnung der Gesellschaft. Die Geschichte ereignet
sich folglich wie ein fremder Faktor vor den Menschen, wie etwas, das sie
nicht gewollt haben und gegen das sie sich abgeschirmt glaubten. Aber auf
diesem Umweg kehrt auch die negative Unruhe des Menschlichen zurück,
die am Ursprung selbst der ganzen Entwicklung stand, welche eingeschlafen
war.
- Die zyklische Zeit ist in sich selbst die Zeit ohne Konflikt.
Aber in dieser Kindheit der Zeit ist der Konflikt angelegt: die Geschichte
kämpft zunächst, um die Geschichte in der praktischen Tätigkeit
der Herren zu sein. Oberflächlich schafft diese Geschichte Irreversibles;
ihre Bewegung bildet die Zeit selbst, die sie ausschöpft, im Inneren
der unerschöpflichen Zeit der zyklischen Gesellschaft.
- Die "kalten Gesellschaften" sind diejenigen, die ihren Teil
Geschichte aufs äußerste verlangsamt haben; die ihren Gegensatz
zu der natürlichen und menschlichen Umgebung und ihre inneren Gegensätze
in ständigem Gleichgewicht gehalten haben. Wenn die extreme Verschiedenartigkeit
der zu diesem Zweck errichteten Institutionen von der Plastizität der
Selbstschöpfung der menschlichen Natur zeugt, so erscheint dieses Zeugnis
selbstverständlich nur dem außerhalb stehenden Beobachter, dem
aus der geschichtlichen Zeit zurückgekehrten Ethnologen. In jeder
dieser Gesellschaften hat eine endgültige Strukturierung die Veränderung
ausgeschlossen. Der absolute Konformismus der bestehenden gesellschaftlichen
Bräuche, mit denen sich alle die menschlichen Möglichkeiten für
immer identifiziert finden, kennt als äußere Grenze nur die Furcht,
in das formlose Tierwesen zurückzufallen. Hier müssen die Menschen
gleichbleiben, um im Menschlichen zu bleiben.
- An der Schwelle einer Periode, die bis zum Erscheinen der
Industrie keine tiefgehenden Erschütterungen mehr erfahren wird, bezeichnet
die Geburt der politischen Macht, die in Beziehung zu den letzten großen
Revolutionen der Technik - wie dem Eisenguß - zu stehen scheint,
den Moment, der die Blutsverwandtschaft aufzulösen beginnt. Von nun an
tritt die Aufeinanderfolge der Generationen aus der Sphäre des rein natürlichen
Zyklischen heraus, um zu gerichtetem Ereignis, zu Aufeinanderfolge von Mächten
zu werden. Die irreversible Zeit ist die Zeit desjenigen, der herrscht; und
die Dynastien sind deren erstes Maß. Die Schrift ist ihre Waffe. In
der Schrift erreicht die Sprache ihre volle unabhängige Wirklichkeit
als Vermittlung zwischen bewußten Wesen. Aber diese Unabhängigkeit
ist mit der allgemeinen Unabhängigkeit der getrennten Macht, als der
die Gesellschaft bildenden Vermittlung, identisch. Mit der Schrift erscheint
ein Bewußtsein, das nicht mehr in der unmittelbaren Beziehung zwischen
den Lebenden getragen und übertragen wird: ein unpersönliches
Gedächtnis, das der Verwaltung der Gesellschaft. "Die Schriftstücke
sind die Gedanken des Staates; die Archive sein Gedächtnis." (Novalis.)
- Die Chronik ist der Ausdruck der irreversiblen Zeit der
Macht und auch das Instrument, das das voluntaristische Fortschreiten dieser
Zeit, von ihrem früheren Verlauf ab, aufrechterhält; denn diese
Orientierung der Zeit muß mit der Kraft jeder einzelnen Macht zusammenbrechen;
und sie fällt wieder der gleichgültigen Vergessenheit der den Bauernmassen
allein bekannten zyklischen Zeit anheim, welche sich in dem Zusammenbruch
der Reiche und ihrer Chronologien niemals verändern. Die Besitzer
der Geschichte haben in die Zeit einen Sinn gesetzt: eine Richtung,
die auch eine Bedeutung ist. Aber diese Geschichte entfaltet sich und vergeht
gesondert: sie läßt die Tiefe der Gesellschaft unbewegt, denn sie
ist gerade das, was von der gemeinsamen Realität getrennt bleibt. In
dieser Hinsicht läßt sich die Geschichte der Reiche des Orients
für uns auf die Geschichte der Religionen zurückführen: diese
wieder verfallenen Chronologien haben nur die scheinbar autonome Geschichte
der Illusionen, die sie umhüllten, hinterlassen. Die Herren, die unter
dem Schutz des Mythos das Privateigentum an der Geschichte im Besitz
halten, besitzen es zunächst in der Art der Illusion: in China und Ägypten
hatten sie lange Zeit das Monopol der Unsterblichkeit der Seele, wie ihre
ersten anerkannten Dynastien die imaginäre Anordnung der Vergangenheit
sind. Aber dieser illusorische Besitz der Herren ist auch der ganze zu jener
Zeit mögliche Besitz einer gemeinsamen Geschichte und ihrer eigenen Geschichte.
Die Erweiterung ihrer tatsächlichen Macht geht mit einer allgemeinen
Verbreiterung des illusorischen mythischen Besitzes einher. All dies ergibt
sich aus der einfachen Tatsache, daß die Herren in genau dem Maße,
wie sie es übernahmen, mythisch die Permanenz der zyklischen Zeit zu
garantieren - wie zum Beispiel in den jahreszeitlichen Riten der chinesischen
Kaiser -, sich selbst von derselben relativ befreit haben.
- Wenn die unerklärte dürre Chronologie der vergötterten
Macht, die zu ihren Dienern spricht, und die nur als irdische Ausführung
der Gebote des Mythos verstanden werden will, überwunden werden kann
und zur bewußten Geschichte wird, muß die wirkliche Teilnahme
an der Geschichte von umfassenden Gruppen erlebt worden sein. Aus dieser praktischen
Mitteilung zwischen denjenigen, die sich als die Besitzer einer einzelnen
Gegenwart anerkannt haben, die den qualitativen Reichtum der Ereignisse
als ihre Tätigkeit und als den Ort, worin sie standen - ihre Epoche -,
erfuhren, entsteht die allgemeine Sprache der geschichtlichen Mitteilung.
Diejenigen, für die die irreversible Zeit existiert hat, entdecken in
ihr zugleich die Denkwürdigkeit und das Drohen der Vergessenheit:
"Herodot aus Halikarnaß legt hier die Ergebnisse seiner Untersuchung
vor, damit die Zeit nicht die Werke der Menschen auslöscht&"
- Das Nachdenken über die Geschichte ist nicht zu trennen
von dem Nachdenken über die Macht. Griechenland war dieser Moment,
in dem die Macht und deren Veränderung diskutiert und begriffen wurden,
die Demokratie der Herren der Gesellschaft. Hier bestand das Gegenteil
der Bedingungen, die der despotische Staat kannte, in dem die Macht im unzugänglichen
Dunkel seines konzentriertesten Punktes stets nur mit sich selbst abrechnete:
durch die Palastrevolution, die bei Erfolg wie bei Mißerfolg
gleichermaßen außer Diskussion stehen. Jedoch existierte die aufgeteilte
Macht der griechischen Gemeinschaften nur in der Verausgabung eines gesellschaftlichen
Lebens, dessen Produktion getrennt und statisch in der Sklavenklasse verblieb.
Nur diejenigen, die nicht arbeiten, leben. Bei der Teilung der griechischen
Gemeinschaften, und bei dem Kampf um die Ausbeutung der fremden Städte,
wurde das Prinzip der Trennung, das jede von ihnen im Inneren begründete,
nach außen getragen. Griechenland, das die Weltgeschichte erträumt
hatte, gelang es nicht, sich angesichts der Invasion zu vereinen; es gelang
ihm nicht einmal, die Kalender seiner unabhängigen Städte zu vereinigen.
In Griechenland ist die geschichtliche Zeit bewußt geworden, aber noch
nicht selbstbewußt.
- Nach dem Verschwinden der örtlich günstigen Bedingungen,
die die griechischen Gemeinschaften gefunden hatten, wurde der Rückschritt
des westlichen geschichtlichen Denkens nicht von einer Wiederherstellung der
ehemaligen mythischen Organisationen begleitet. In dem Aufeinanderstoßen
der Mittelmeervölker, in der Bildung und im Zusammenbruch des römischen
Staats, tauchten halbgeschichtliche Religionen auf, die zu grundlegenden
Faktoren des neuen Bewußtseins der Zeit und zur neuen Rüstung der
getrennten Macht wurden.
- Die monotheistischen Religionen waren ein Kompromiß
zwischen dem Mythos und der Geschichte, zwischen der zyklischen Zeit, die
noch die Produktion beherrschte und der irreversiblen Zeit, in der die Völker
aufeinanderstoßen und sich wieder zusammensetzen. Die aus dem Judentum
hervorgegangenen Religionen sind die abstrakte universelle Anerkennung der
irreversiblen Zeit, die nun zwar demokratisiert ist und allen offensteht,
aber nur im Illusorischen. Die Zeit ist ganz und gar auf ein einziges letztes
Ereignis hin orientiert: "Das Reich Gottes ist nah." Diese Religionen sind
auf dem Boden der Geschichte entstanden und haben sich auf ihm festgesetzt.
Aber noch dort bleiben sie in radikalem Gegensatz zur Geschichte. Die halbgeschichtliche
Religion führt in die Zeit einen qualitativen Ausgangspunkt ein, die
Geburt Christi, die Flucht Mohammeds, aber ihre irreversible Zeit - die
eine tatsächliche Akkumulation einleitet, die im Islam die Gestalt einer
Eroberung und im Christentum der Reformation die Gestalt einer Vermehrung
des Kapitals wird annehmen können - ist im religiösen Denken
in Wirklichkeit wie eine Zählung gegen den Strich umgekehrt: das
Warten in der abnehmenden Zeit auf den Zugang zur wahren anderen Welt, das
Erwarten des Jüngsten Gerichts. Die Ewigkeit ist aus der zyklischen Zeit
herausgetreten. Sie ist ihr Jenseits. Sie ist das Element, das die Irreversibilität
der Zeit herabsetzt, das die Geschichte in der Geschichte selbst abschafft,
indem sie sich als ein reines punktuelles Element, in das die zyklische Zeit
zurückgekehrt und verschwunden ist, auf die andere Seite der irreversiblen
Zeit stellt. Bossuet sagt noch: "Und mittels der Zeit, die vergeht, gehen
wir in die Ewigkeit ein, die nicht vergeht."
- Das Mittelalter, diese unvollendete mythische Welt, deren
Vollkommenheit außerhalb ihrer selbst lag, ist der Moment, in dem die
zyklische Zeit, die noch den Hauptteil der Produktion regelt, von der Geschichte
wirklich untergraben wird. Eine gewisse irreversible Zeitlichkeit wird allen
als Individuen zuerkannt, in der Aufeinanderfolge der Lebensalter, in dem
Leben, das als eine Reise angesehen wird, als Durchgang ohne Rückkehr
durch eine Welt, deren Sinn anderswo liegt: der Pilger ist der Mensch, der
aus dieser zyklischen Zeit heraustritt, um tatsächlich dieser Reisende
zu sein, der jeder Mensch als Zeichen ist. Das persönliche geschichtliche
Leben findet seine Vollendung stets in der Sphäre der Macht, in der Teilnahme
an den von der Macht geführten Kämpfen und an den Kämpfen im
Streit um die Macht; aber die irreversible Zeit der Macht wird ins Unendliche
geteilt bei der allgemeinen Vereinigung der gerichteten Zeit der christlichen
Zeitrechnung, in einer Welt des bewaffneten Vertrauens, in der sich
das Spiel der Herren um die Treue und das Bestreiten der schuldigen Treue
dreht. Diese feudale Gesellschaft, die aus dem Zusammentreffen der "kriegerischen
Organisation des Heerwesens während der Eroberung selbst" und der "in
den eroberten Ländern vorgefundenen Produktivkräfte" (Die deutsche
Ideologie) entstand - und zur Organisation dieser Produktivkräfte
muß man ihre religiöse Sprache zählen -, hat die Herrschaft
über die Gesellschaft zwischen der Kirche und der staatlichen Macht geteilt,
die ihrerseits in den komplexen Beziehungen von Lehnsherrlichkeit und Vasallenschaft
der Grundlehen und der städtischen Gemeinden unterteilt war. In dieser
Verschiedenartigkeit des möglichen geschichtlichen Lebens enthüllte
sich die irreversible Zeit, durch welche bewußtlos die Tiefe der Gesellschaft
mitgerissen wurde, die von der Bourgeoisie in der Warenproduktion, in der
Gründung und Ausdehnung der Städte, in der kommerziellen Entdeckung
der Erde - dem praktischen Experimentieren, das jede mythische Organisation
des Kosmos für immer zerstört - erlebte Zeit, allmählich
als die unbekannte Arbeit der Epoche, als die große offizielle geschichtliche
Unternehmung dieser Welt mit den Kreuzzügen gescheitert war.
- Im Herbst des Mittelalters wird die irreversible Zeit, die
auf die Gesellschaft übergreift, von dem an der alten Ordnung haftenden
Bewußtsein in der Form einer Zwangsvorstellung vom Tod empfunden. Darin
liegt die Melancholie der Auflösung einer Welt, der letzten, in der sich
die Sicherheit des Mythos noch der Geschichte das Gleichgewicht hielt; und
für diese Melancholie bewegt sich alles Irdische nur in Richtung auf
seinen Verfall. Die großen Aufstände der Bauern Europas sind auch
ihr Versuch einer Antwort auf die Geschichte, die sie gewaltsam aus
dem patriarchalischen Schlaf riß, den die feudale Vormundschaft gewährleistet
hatte. Es ist die millenaristische Utopie der irdischen Verwirklichung
des Paradieses, in der in den Vordergrund tritt, was am Anfang der halbgeschichtlichen
Religion stand, als die christlichen Gemeinden, wie der jüdische Messianismus,
von dem sie herkamen, jene Antworten auf die Unruhen und das Unglück
der Epoche, die unmittelbar bevorstehende Verwirklichung des Reichs Gottes
erwarteten und in der antiken Gesellschaft einen Faktor der Unruhe und der
Subversion beitrugen. Als das Christentum schließlich die Macht im Kaiserreich
mitbesaß, widerlegte es zu rechter Zeit als bloßen Aberglauben
all das, was von dieser Hoffnung übriggeblieben war: dies ist die Bedeutung
der Augustinischen Behauptung, dem Archetyp aller satisfecit der modernen
Ideologie, wonach die eingesessene Kirche bereits seit langem dieses Reich
war, von dem man gesprochen hatte. Der soziale Aufstand des millenaristischen
Bauerntums definiert sich natürlich zunächst als ein Wille zur Zerstörung
der Kirche. Aber der Millenarismus entfaltet sich in der geschichtlichen Welt
und nicht auf dem Boden des Mythos. Die modernen rovolutionären Hoffnungen
sind nicht, wie Norman Cohn in "Das Ringen um das Tausendjährige Reich"
zu beweisen glaubt, irrationale Folgen der religiösen Leidenschaft des
Millenarismus. Es ist ganz im Gegenteil der Millenarismus, ein revolutionärer
Klassenkampf, der zum letzten Mal die Sprache der Religion gebraucht, der
bereits eine moderne revolutionäre Tendenz ist, welcher noch das Bewußtsein
fehlt, nur geschichtlich zu sein. Die Millenaristen mußten
verlieren, weil sie die Revolution nicht als ihr eigenes Tun anerkennen konnten.
Die Tatsache, daß sie um zu handeln ein äußeres Zeichen der
Entscheidung Gottes abwarten, ist die Übersetzung ins Denken einer Praxis,
in der die aufständischen Bauern Anführern folgen, die nicht aus
ihren eigenen Reihen stammen. Die Bauernklasse konnte kein richtiges Bewußtsein
darüber erreichen, wie die Gesellschaft funktionierte und wie ihr eigener
Kampf zu führen war: weil der Bauernklasse diese Bedingungen der Einheit
in ihrer Handlung und in ihrem Bewußtsein fehlten, ist es zu erklären,
daß sie ihr Projekt in den Bildern des Gartens von Eden ausdrückte
und ihre Kriege eben diesen Bildern gemäß führte.
- Der neue Besitz am geschichtlichen Leben, die Renaissance,
die im Altertum ihre Vergangenheit und ihr Recht findet, trägt in sich
den freudigen Bruch mit der Ewigkeit. Ihre irreversible Zeit ist die Zeit
der unendlichen Akkumulation der Kenntnisse und das geschichtliche Bewußtsein,
das aus der Erfahrung der demokratischen Gemeinschaften und der Kräfte,
die sie zerstören, entstanden ist, fängt mit Machiavelli wieder
an, über die entheiligte Macht nachzudenken, das Unaussprechliche über
den Staat auszusprechen. In dem überschäumenden Leben der italienischen
Städte, in der Kunst der Feste, erfährt sich das Leben als Genießen
des Vergehens der Zeit. Aber dieses Genießen des Vergehens mußte
auch selbst vergänglich sein. Das Lied von Lorenzo de' Medici, das Burckhardt
als "eine wehmütige Ahnung der kurzen Herrlichkeit der Renaissance selbst"
betrachtet, ist das Eigenlob, das sich dieses zerbrechliche Fest der Geschichte
hielt: "Wie schön die Jugend ist - die so bald vergeht."
- Die ständige Bewegung der Monopolisierung des geschichtlichen
Lebens durch den Staat der absoluten Monarchie, der Übergangsform zur
vollständigen Herrschaft der Bürgerklasse, läßt in seiner
Wahrheit erscheinen, was die neue irreversible Zeit der Bourgeoisie ist. Die
Bourgeoisie ist mit der zum ersten Mal vom Zyklischen befreiten Zeit der
Arbeit verknüpft. Die Arbeit ist mit der Bourgeoisie zur Arbeit
geworden, die die geschichtlichen Bedingungen verändert. Die
Bourgeoisie ist die erste herrschende Klasse, für die die Arbeit ein
Wert ist. Und die Bourgeoisie, die jedes Privileg abschafft und nur den Wert
anerkennt, der aus der Ausbeutung der Arbeit entspringt, hat gerade mit der
Arbeit ihren eigenen Wert als herrschende Klasse identisch gesetzt und macht
den Fortschritt der Arbeit zu ihrem eigenen Fortschritt. Die Klasse, die die
Waren und das Kapital akkumuliert, verändert ständig die Natur,
indem sie die Arbeit selbst verändert, indem sie deren Produktivität
entfesselt. Jedes gesellschaftliche Leben hat sich bereits in der ornamentalen
Armut des Hofes konzentriert, dem Schmuck der kalten staatlichen Verwaltung,
die im "Königsberuf" gipfelt; und jede besondere geschichtliche Freiheit
mußte ihrem Verlust zustimmen. Die Freiheit des irreversiblen zeitlichen
Spiels der Feudalherren hat sich in ihren letzten verlorenen Schlachten mit
den Kriegen der Fronde oder der Erhebung der Schotten für Karl-Eduard
verbraucht. Die Welt hat sich von Grund auf verändert.
- Der Sieg der Bourgeoisie ist der Sieg der zutiefst geschichtlichen
Zeit, weil sie die Zeit der wirtschaftlichen Produktion ist, die die Gesellschaft
fortwährend und von Grund auf verändert. Solange die agrarische
Produktion die Hauptarbeit bleibt, nährt die zyklische Zeit, die auf
dem Grund der Gesellschaft gegenwärtig bleibt, die verbündeten Kräfte
der Tradition, die die Bewegung hemmen. Aber die irreversible Zeit
der bürgerlichen Wirtschaft rottet diese Überreste auf der ganzen
weiten Welt aus. Die Geschichte, die bis dahin als die alleinige Bewegung
der Individuen der herrschenden Klasse erschien und folglich als Geschichte
von Ereignissen geschrieben wurde, wird jetzt als die allgemeine Bewegung
begriffen, und in dieser strengen Bewegung werden die Individuen aufgeopfert.
Die Geschichte, die ihre Grundlage in der politischen Wirtschaft entdeckt,
kennt jetzt die Existenz dessen, was ihr Unbewußtes war, das aber trotzdem
noch das Unbewußte bleibt, das sie nicht ans Licht ziehen kann. Nur
diese blinde Vorgeschichte, ein neues Fatum, das kein Mensch beherrscht, wurde
durch die Warenwirtschaft demokratisiert.
- Die Geschichte, die in der ganzen Tiefe der Gesellschaft
gegenwärtig ist, tendiert dahin, sich an der Oberfläche zu verlieren.
Der Triumph der irreversiblen Zeit ist auch ihre Verwandlung in die Zeit
der Dinge, weil die Waffe zu ihrem Sieg gerade die Serienproduktion von
Gegenständen nach den Gesetzen der Ware war. Das Hauptprodukt, das die
Wirtschaft von einem seltenen Luxusartikel in ein gefährliches Konsumgut
verwandelte, ist daher die Geschichte, aber lediglich als Geschichte
der abstrakten Bewegung der Dinge, die jeden qualitativen Gebrauch des Lebens
beherrscht. Während die frühere zyklische Zeit einen wachsenden
Teil von Individuen und Gruppen erlebter geschichtlicher Zeit in sich trug,
tendiert die Herrschaft der irreversiblen Zeit der Produktion dahin, diese
erlebte Zeit gesellschaftlich abzuschaffen.
- So machte die Bourgeoisie die Gesellschaft mit einer irreversiblen
geschichtlichen Zeit bekannt und zwang sie ihr auf, verweigert ihr aber deren
Gebrauch. "Somit hat es eine Geschichte gegeben, aber es gibt keine
mehr", weil die Klasse der Besitzer der Wirtschaft, die nicht mit der Wirtschaftsgeschichte
brechen kann, auch jede andere irreversible Verwendung der Zeit als eine
unmittelbare Bedrohung verdrängen muß. Die herrschende Klasse,
die aus Spezialisten des Besitzes der Dinge besteht, die dadurch selbst
ein Besitz der Dinge sind, muß ihr Schicksal mit der Aufrechterhaltung
dieser verdinglichten Geschichte verknüpfen, mit der Permanenz einer
neuen Unbeweglichkeit in der Geschichte. Zum ersten Mal ist der Arbeiter,
der an der Basis der Gesellschaft steht, der Geschichte nicht materiell
fremd, denn irreversibel bewegt sich jetzt die Basis der Gesellschaft.
In der Forderung, die geschichtliche Zeit, die es macht, zu erleben,
findet das Proletariat das einfache, unvergeßliche Zentrum seines revolutionären
Projektes; und jeder der bis heute zerschlagenen Versuche, dieses Projekt
durchzuführen, kennzeichnet einen möglichen Ausgangspunkt des geschichtlichen
neuen Lebens.
- Die irreversible Zeit der Bourgeoisie, der Herrin der Macht,
präsentierte sich zunächst unter ihrem eigenen Namen, als einen
absoluten Ursprung, als das Jahr 1 der Republik. Aber die revolutionäre
Ideologie der allgemeinen Freiheit, die die letzten Reste der mythischen Organisation
der Werte und jede traditionelle Regelung der Gesellschaft beseitigt hatte,
ließ bereits den wirklichen Willen sichtbar werden, den sie mit einem
römischen Gewand bekleidet hatte: die verallgemeinerte Handelsfreiheit.
Als die Gesellschaft der Ware dann herausfand, daß sie die Passivität
wiederherzustellen hatte, die sie gründlich hatte erschüttern müssen,
um ihre eigene reine Herrschaft zu erreichten, fand sie in dem "Christentum,
mit seinem Kultus des abstrakten Menschen, & die entsprechendste
Religionsform" (Das Kapital). Die Bourgeoisie hat darauf mit dieser
Religion einen Kompromiß geschlossen, der sich auch in der Vorstellung
der Zeit ausdrückt: als ihr eigener Kalender aufgegeben wurde, schmiegte
sich ihre irreversible Zeit wieder der christlichen Zeitrechnung an,
deren Folge sie fortsetzte.
- Mit der Entstehung des Kapitalismus wird die irreversible
Zeit weltweit vereinheitlicht. Die Weltgeschichte wird Wirklichkeit,
denn die ganze Welt wird unter der Entwicklung dieser Zeit versammelt. Aber
die Geschichte, die überall und zugleich dieselbe ist, ist erst noch
die innergeschichtliche Ablehnung der Geschichte. Es ist die in gleiche abstrakte
Stücke geschnittene Zeit der wirtschaftlichen Produktion, die sich auf
dem ganzen Planeten als der gleiche Tag äußert. Die vereinheitlichte
irreversible Zeit ist die Zeit des Weltmarkts und folglich die des
Weltspektakels.
- Die irreversible Zeit der Produktion ist zunächst das
Maß der Waren. Daher ist die Zeit, die sich offiziell über die
ganze Weite der Welt hin als die allgemeine Zeit der Gesellschaft behauptet,
indem sie nur die spezialisierten Interessen bedeutet, aus denen sie gebildet
wird, nur eine besondere Zeit.
6. Kapitel
DIE SPEKTAKULÄRE ZEIT
"Nichts gehört unser, als nur die Zeit, in welcher selbst
der lebt, der keine Wohnung hat."
Balthasar Gracian (Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit).
- Die Zeit der Produktion, die Zeit als Ware,
ist eine unendliche Akkumulation von äquivalenten Intervallen. Sie ist
die Abstraktion der irreversiblen Zeit, deren Abschnitte alle auf dem Chronometer
ihre alleinige quantitative Gleichheit beweisen müssen. Diese Zeit ist
in ihrer ganzen Wirklichkeit, was sie in ihrer Austauschbarkeit ist.
Bei dieser gesellschaftlichen Herrschaft der Zeit als Ware ist "die Zeit alles,
der Mensch nichts mehr; er ist höchstens noch die Verkörperung der
Zeit" (Das Elend der Philosophie). Es ist die entwertete Zeit, die
vollständige Umkehrung der Zeit als "Raum der menschlichen Entwicklung".
- Die allgemeine Zeit der menschlichen Nichtentwicklung existiert
auch unter dem ergänzenden Aspekt einer konsumierbaren Zeit, die
von dieser bestimmten Produktion aus zum täglichen Leben der Gesellschaft
als eine pseudozyklische Zeit zurückkehrt.
- Die pseudozyklische Zeit ist in Wirklichkeit nur die konsumierbare
Verkleidung der Zeit der Produktion, der Zeit als Ware. Sie enthält
deren wesentlichen Charaktere: austauschbare homogene Einheiten und die Abschaffung
der qualitativen Dimension. Aber als Nebenprodukt dieser Zeit, die zur Herstellung -
und Aufrechterhaltung - der Rückständigkeit des konkreten täglichen
Lebens bestimmt ist, muß sie mit Pseudowertungen besetzt sein und in
einer Folge scheinbar individualisierter Momente erscheinen.
- Die pseudozyklische Zeit ist die Zeit des Konsums des modernen
wirtschaftlichen Überlebens, des vermehrten Überlebens, worin das
tägliche Erlebte ohne Entscheidungsgewalt und unterworfen bleibt, aber
nicht mehr der natürlichen Ordnung, sondern der in der entfremdeten Arbeit
entwickelten Pseudonatur; und so findet diese Zeit ganz natürlich
den alten zyklischen Rhythmus wieder, der das Überleben der vorindustriellen
Gesellschaften regelte. Die pseudozyklische Zeit stützt sich auf die
Überreste der zyklischen Zeit und stellt aus ihnen zugleich neue homologe
Zusammensetzungen her: den Tag und die Nacht, die wöchentliche Arbeit
und Ruhe, die Wiederkehr der Ferienzeiten.
- Die pseudozyklische Zeit ist eine Zeit, die von der Industrie
verändert worden ist. Die Zeit, die ihre Basis in der Produktion
der Waren hat, ist selbst eine konsumierbare Ware, die alles, was sich vorher,
während der Auflösungsphase der alten einheitlichen Gesellschaft
in Privatleben, Wirtschaftsleben und politisches Leben gegliedert hatte, sammelt.
Die gesamte konsumierbare Zeit der modernen Gesellschaft wird schließlich
als Rohmaterial neuer verschiedenartiger Produkte verarbeitet, die sich auf
dem Markt als gesellschaftlich organisierte Zeitanwendungen durchsetzen. "Das
Produkt, das in einer für die Konsumtion fertigen Form existiert, kann
von neuem zum Rohmaterial eines anderen Produkts werden". (Das Kapital)
- In seinem fortgeschrittensten Bereich kommt der konzentrierte
Kapitalismus immer mehr zum Verkauf von "komplett ausgestatteten" Zeitblöcken,
von denen jeder eine einzige vereinheitlichte Ware bildet, die eine bestimmte
Zahl verschiedener Waren in sich integriert hat. So kann in der sich ausdehnenden
Wirtschaft der "Dienstleistungen" und der Freizeit die Zahlungsformel "alles
inbegriffen" auftauchen, für die spektakuläre Wohnung, die kollektiven
Pseudoreisen der Ferien, das Abonnement auf den kulturellen Konsum und den
Verkauf selbst der Geselligkeit in der Form von "erregenden Gesprächen"
und "Begegnungen mit Persönlichkeiten". Diese Art spektakulärer
Ware, die natürlich nur in Funktion der zunehmenden Knappheit der entsprechenden
Wirklichkeiten Geltung haben kann, gehört ebenso natürlich zu den
schrittmachenden Artikeln der Modernisierung der Verkaufstechniken, indem
sie auf Kredit zahlbar ist.
- Die konsumierbare pseudozyklische Zeit ist die spektakuläre
Zeit, als Zeit des Konsums der Bilder im engen Sinn und zugleich, in ihrem
ganzen Ausmaß, ein Bild des Konsums der Zeit. Die Zeit des Konsums der
Bilder, das Medium aller Waren, ist untrennbar das Feld, auf dem die Instrumente
des Spektakels ihre volle Wirkung ausüben, und das Ziel, das diese Instrumente
global als Ort und zentrale Gestalt aller besonderen Arten des Konsums darstellen:
es ist bekannt, daß der ständige Zeitgewinn, den die moderne Gesellschaft
erstrebt - sei es durch die Schnelligkeit der Beförderungsmittel
oder durch den Gebrauch von Fertigsuppen - für die Bevölkerung
der Vereinigten Staaten positiv darin zum Ausdruck kommt, daß allein
das Zuschauen des Fernsehens sie durchschnittlich zwischen drei und sechs
Stunden täglich beschäftigt. Das gesellschaftliche Bild des Konsums
der Zeit wird seinerseits ausschließlich von den Momenten der Freizeit
und der Ferienzeit beherrscht, Momente, die von fern vorgestellt werden
und die, wie jede spektakuläre Ware, durch Postulat begehrenswert sind.
Diese Ware wird hier ausdrücklich als der Moment des wirklichen Lebens
ausgegeben, dessen zyklische Wiederkehr es abzuwarten gilt. Aber in diesen
dem Leben zugewiesenen Momenten selbst ist es noch das Spektakel, das sich
zu sehen und zu reproduzieren gibt und dabei eine noch stärkere Intensität
erreicht. Was als das wirkliche Leben vorgestellt wurde, erweist sich lediglich
als das Leben, das noch wirklicher spektakulär ist.
- Diese Epoche, die sich selbst ihre Zeit wesentlich als die
beschleunigte Wiederkehr vielfältiger Festlichkeiten zeigt, ist ebenso
eine Epoche ohne Feste. Was in der zyklischen Zeit der Moment der Teilnahme
einer Gemeinschaft an der luxuriösen Verausgabung des Lebens war, ist
der Gesellschaft ohne Gemeinschaft und ohne Luxus unmöglich. Wenn ihre
allgemein verbreiteten Pseudofeste, Parodien des Dialogs und der Gabe, zu
einer wirtschaftlichen Mehrausgabe anregen, bringen sie nur die stets das
Versprechen einer neuen Enttäuschung kompensierende Enttäuschung
ein. Die Zeit des modernen Überlebens muß sich im Spektakel um
so nachdrücklicher anpreisen als sich ihr Gebrauchswert vermindert hat.
Die Wirklichkeit der Zeit ist durch die Werbung für die Zeit ersetzt
worden.
- Während der Konsum der zyklischen Zeit der alten Gesellschaften
mit der wirklichen Arbeit dieser Gesellschaften übereinstimmte, steht
der pseudozyklische Konsum der entwickelten Wirtschaft im Widerspruch zu der
abstrakten irreversiblen Zeit ihrer Produktion. Während die zyklische
Zeit die wirklich erlebte Zeit der unbeweglichen Illusion war, ist die spektakuläre
Zeit die illusorisch erlebte Zeit der sich verändernden Wirklichkeit.
- Was stets neu im Produktionsprozeß der Dinge ist,
findet sich nicht im Konsum wieder, der die erweiterte Wiederkehr des Gleichen
bleibt. Weil die tote Arbeit weiterhin über die lebendige Arbeit herrscht,
herrscht in der spektakulären Zeit die Vergangenheit über die Gegenwart.
- Als andere Seite des Mangels des allgemeinen geschichtlichen
Lebens hat das individuelle Leben noch keine Geschichte. Die Pseudoereignisse,
die sich in der spektakulären Dramatisierung drängen, sind nicht
von denjenigen erlebt worden, die über sie informiert sind; und außerdem
gehen sie mit jedem Pulsschlag der spektakulären Maschinerie in der Inflation
ihres beschleunigten Ersatzes verloren. Andererseits steht das, was wirklich
erlebt wurde, in keiner Beziehung zu der offiziellen irreversiblen Zeit der
Gesellschaft, und in direktem Gegensatz zu dem pseudozyklischen Rhythmus des
konsumierbaren Nebenprodukts dieser Zeit. Dieses individuell Erlebte des getrennten
täglichen Lebens bleibt ohne Sprache, ohne Begriff, ohne kritischen Zugang
zu seiner eigenen Vergangenheit, die nirgendwo aufbewahrt ist. Es wird nicht
mitgeteilt. Es ist unbegriffen und vergessen zugunsten des falschen spektakulären
Gedächtnisses für das Undenkwürdige.
- Das Spektakel, als gegenwärtige gesellschaftliche Organisation
der Lähmung der Geschichte und des Gedächtnisses, des Verzichtes
auf die Geschichte, der sich auf der Grundlage der geschichtlichen Zeit aufbaut,
ist das falsche Bewußtsein von der Zeit.
- Um die Arbeiter zu dem Stand "freier" Produzenten und Konsumenten
von Zeit als Ware hinzuführen, war die Vorbedingung die gewaltsame
Enteignung ihrer Zeit. Die spektakuläre Wiederkehr der Zeit ist erst
von dieser ersten Enteignung des Produzenten an möglich geworden.
- Der unreduzierbare biologische Teil, der in der Arbeit als
Abhängigkeit von dem natürlichen Zyklischen des Wachens und des
Schlafens wie auch in der Handgreiflichkeit der individuellen irreversiblen
Zeit des Lebensverschleißes vorhanden bleibt, ist für die moderne
Produktion nur nebensächlich; und als solche werden diese Elemente
in den offiziellen Proklamationen der Produktionsbewegung und der konsumierbaren
Trophäen, die die erschwingliche Äußerung dieses unaufhörlichen
Sieges sind, vernachlässigt. Das im verfälschten Zentrum der Bewegung
seiner Welt immobilisierte zuschauende Bewußtsein kennt in seinem Leben
keinen Übergang mehr zu seiner Verwirklichung und zu seinem Tod. Wer
darauf verzichtet hat, sein Leben zu verausgaben, darf sich nicht mehr seinen
Tod eingestehen. Die Werbung der Lebensversicherungen gibt lediglich zu verstehen,
daß der schuldig ist, wer stirbt, ohne die Regulierung des Systems nach
diesem wirtschaftlichen Verlust gesichert zu haben; und die Werbung des american
way of death betont seine Fähigkeit, bei dieser Begegnung den größten
Teil des Scheins des Lebens aufrechtzuerhalten. An der gesamten übrigen
Front der Werbebombardierungen ist es rundweg verboten zu altern. Danach würde
es darauf ankommen, bei jedem ein "Jugend-Kapital" zu bewahren, das, obschon
es nur wenig benutzt worden ist, nicht beanspruchen kann, die dauerhafte und
kumulative Realität des Finanzkapitals zu erwerben. Diese gesellschaftliche
Abwesenheit des Todes ist mit der gesellschaftlichen Abwesenheit des Lebens
identisch.
- Die Zeit ist die notwendige Entäußerung,
wie Hegel zeigte, die Sphäre, in der sich das Subjekt verwirklicht, indem
es sich verliert, anders wird, um die Wahrheit seiner selbst zu werden. Aber
ihr Gegenteil ist gerade die herrschende Entfremdung, die der Produzent einer
fremden Gegenwart erfährt. In dieser räumlichen Entfremdung
trennt die Gesellschaft das Subjekt an der Wurzel von der Tätigkeit,
die sie ihm raubt, zunächst aber von seiner eigenen Zeit. Die überwindbare
gesellschaftliche Entfremdung ist gerade diejenige, die die Möglichkeiten
und die Risiken der lebendigen Entäußerung in der Zeit verwehrt
und versteinert hat.
- Hinter den erscheinenden Moden, die einander an der
tändelhaften Oberfläche der kontemplierten pseudozyklischen Zeit
vernichten und wiederzusammensetzen, besteht der große Stil der Epoche
stets in dem, was durch die offensichtliche und geheime Notwendigkeit der
Revolution orientiert wird.
- Die natürliche Grundlage der Zeit, die sinnliche Gegebenheit
des Verfließens der Zeit, wird menschlich und gesellschaftlich, indem
sie für den Menschen existiert. Der bornierte Stand der menschlichen
Praxis, die Arbeit in ihren verschiedenen Stadien, hat bis heute die Zeit
als zyklische Zeit und als irreversible getrennte Zeit der Wirtschaftsproduktion
vermenschlicht und auch entmenscht. Das revolutionäre Projekt einer klassenlosen
Gesellschaft, eines verallgemeinerten geschichtlichen Lebens, ist das Projekt
eines Absterbens des gesellschaftlichen Zeitmaßes zugunsten eines ludistischen
Modells irreversibler Zeit der Individuen und Gruppen, eines Modells, in dem
gleichzeitig verbündete unabhängige Zeiten vorhanden sind.
Es ist das Programm einer totalen Verwirklichung des Kommunismus, der "alles
von den Individuen unabhängig Bestehende" abschafft, in der Sphäre
der Zeit.
- Die Welt besitzt schon den Traum von einer Zeit, von der
sie jetzt das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu erleben.
7. Kapitel
DIE RAUMORDNUNG
"Und wer Herr einer bisher freien Stadt wird und sie nicht
vernichtet, mag darauf gefaßt sein, von ihr vernichtet zu werden. Denn
die Bürger können sich bei einer Empörung stets auf ihre Freiheit
und alte Verfassung berufen, welche weder die Zeit noch empfangene Wohltaten
in ihrem Gedächtnis auszulöschen vermögen. Was für Maßregeln
und Verkehrungen auch der Eroberer trifft: wenn er die Einwohner nicht auseinanderreißt
und zerstreut, vergessen sie ihre Freiheit und Verfassung nie &"
Machiavelli (Der Fürst).
- Die kapitalistische Produktion hat den Raum
vereinheitlicht, der von keinen Außengesellschaften mehr begrenzt ist.
Diese Vereinheitlichung ist zugleich ein extensiver und intensiver Prozeß
der Banalisierung. So wie die Akkumulation der für den abstrakten
Raum des Marktes in Serie produzierten Waren alle regionalen und gesetzlichen
Schranken und alle korporativen Beschränkungen des Mittelalters, die
die Qualität der handwerksmäßigen Produktion aufrechterhielten,
brechen mußte, mußte sie auch die Autonomie und die Qualität
der Orte auflösen. Diese Macht der Homogenisierung ist die schwere Artillerie,
die alle chinesischen Mauern in den Grund geschossen hat.
- Um immer identischer mit sich selbst zu werden, um sich
der unbeweglichen Eintönigkeit möglichst weit zu nähern, wird
der freie Raum der Ware nunmehr ständig verändert und wiederaufgebaut.
- Diese Gesellschaft, die die geographische Entfernung abschafft,
nimmt im Inneren die Entfernung als spektakuläre Trennung wieder auf.
- Das Nebenprodukt der Warenzirkulation, die als Konsum betrachtete
menschliche Zirkulation, d.h. der Tourismus, läßt sich im wesentlichen
auf die Muße zurückführen, das zu besichtigen, was banal geworden
ist. Die wirtschaftliche Erschließung des Besuchs verschiedener Orte
ist bereits von selbst die Garantie ihrer Äquivalenz. Dieselbe
Modernisierung, die der Reise die Zeit entzogen hat, hat ihr auch die Realität
des Raums entzogen.
- Die Gesellschaft, die ihre ganze Umgebung modelliert, hat
sich eine spezielle Technik geschaffen, um die konkrete Basis dieser Aufgabengruppe
zu bearbeiten: ihr Territorium selbst. Der Urbanismus ist diese Inbesitznahme
der natürlichen und menschlichen Umwelt durch den Kapitalismus, der,
indem er sich logisch zur absoluten Herrschaft entwickelt, jetzt das Ganze
des Raums als sein eigenes Bühnenbild umarbeiten kann und muß.
- Das kapitalistische Erfordernis, das im Urbanismus als sichtbarer
Vereisung des Lebens befriedigt wird, kann - mit Hegelschen Worten gesagt -
als die absolute Vorherrschaft "des ruhigen Nebeneinander des Raums" über
"das unruhige Werden im Nacheinander der Zeit" ausgedrückt werden.
- Wenn alle technischen Kräfte der kapitalistischen Wirtschaft
als trennungschaffende Kräfte zu verstehen sind, handelt es sich im Fall
des Urbanismus um die Ausrüstung ihrer allgemeinen Basis, um die Bearbeitung
des für ihre Entfaltung geeigneten Bodens; um die Technik der Trennung
selbst.
- Der Urbanismus ist die moderne Ausführung der ununterbrochenen
Aufgabe, die die Klassenherrschaft sicherstellt: die Aufrechterhaltung der
Atomisierung der Arbeiter, die durch die städtischen Produktionsbedingungen
gefährlich zusammengebracht worden waren. Der ständige Kampf,
der gegen alle Aspekte dieser Möglichkeit der Begegnung geführt
werden mußte, findet im Urbanismus sein bevorzugtes Feld. Die Bemühung
aller etablierten Mächte seit den Erfahrungen der französischen
Revolution, die Mittel zur Aufrechterhaltung der Ordnung in den Straßen
zu vermehren, gipfelt schließlich in der Abschaffung der Straße.
"Mit den Massenkommunikationsmitteln über große Entfernungen hat
sich herausgestellt, daß die Isolierung der Bevölkerung ein viel
wirksameres Mittel der Kontrolle ist", stellt Lewis Mumford in The City
in History fest, wo er eine "von nun an bestehende Einbahnwelt" beschreibt.
Aber die allgemeine Isolierungsbewegung, die die Realität des Urbanismus
ist, muß auch eine kontrollierte Wiedereingliederung der Arbeiter nach
den planbaren Erfordernissen der Produktion und des Konsums enthalten. Die
Integration in das System muß die isolierten Individuen als gemeinsam
isolierte Individuen wieder in Besitz nehmen: die Betriebe wie die Kulturzentren,
die Feriendörfer wie die großen Wohnsiedlungen sind speziell für
die Ziele dieser Pseudogemeinschaftlichkeit organisiert, die das vereinzelte
Individuum auch in die Familienzelle begleitet: die verallgemeinerte
Verwendung von Empfängern der Spektakelbotschaft bewirkt, daß seine
Vereinzelung von den herrschenden Bildern bevölkert wird, von Bildern,
die erst durch diese Vereinzelung ihre volle Macht erreichen.
- Zum ersten Mal ist eine neue Architektur, die in jeder früheren
Epoche der Befriedigung der herrschenden Klassen vorbehalten war, direkt den
Armen zugedacht. Das formale Elend und die riesenhafte Ausdehnung dieser
neuen Wohnungserfahrung sind die Folge ihres Massencharakters, den
sowohl ihre Bestimmung als auch die modernen Konstruktionsbedingungen einschließen.
Die autoritäre Entscheidung, die abstrakt den Raum zu einem Raum
der Abstrakten anordnet, steht natürlich im Zentrum dieser modernen Konstruktionsbedingungen.
Die gleiche Architektur erscheint überall dort, wo die Industrialisierung
der in dieser Hinsicht zurückgebliebenen Länder beginnt, als der
neuen gesellschaftlichen Existenzweise - die es dort ansässig zu
machen gilt - adäquates Terrain. Die überschrittene Wachstumsschwelle
der materiellen Macht der Gesellschaft und die Verzögerung der
bewußten Beherrschung dieser Macht treten im Urbanismus genauso offen
zu Tage wie in den Fragen der thermonuklearen Bewaffnung und der Geburtenfrequenz -
und im letzteren Fall geht es so weit, daß die Möglichkeit einer
Manipulation der Erblichkeit bereits erreicht worden ist.
- Der gegenwärtige Moment ist bereits derjenige der Selbstzerstörung
des städtischen Milieus. Die Zersplitterung der Städte auf das Land,
das durch "formlose Massen städtischer Überbleibsel" (Lewis Mumford)
überwachsen wird, wird unmittelbar von den Erfordernissen des Konsums
geleitet. Die Diktatur des Automobils, des Schrittmacherproduktes der ersten
Phase des Warenüberflusses, hat sich durch die Herrschaft der Autobahn,
die die alten Zentren sprengt und eine immer mehr geförderte Versprengung
gebietet, in das Gelände eingeprägt. Zugleich polarisieren sich
vorübergehend die Momente der unvollendeten Reorganisation des städtischen
Gefüges um die "Distributionsfabriken" herum, um die riesigen Supermarkets,
die auf dem nackten Gelände, auf einem Parkplatz-Sockel, errichtet
sind; und diese Tempel des überstürzten Konsums fliehen selbst in
der zentrifugalen Bewegung, die sie wieder abstößt, sobald sie
ihrerseits zu überlasteten Sekundärzentren geworden sind, weil sie
zu einer teilweisen Neuzusammensetzung der Ballung geführt haben. Aber
die technische Organisation des Konsums steht lediglich im Vordergrund der
allgemeinen Auflösung, die die Stadt auf diese Weise dahingebracht hat,
daß sie sich selbst konsumiert.
- Die Wirtschaftsgeschichte, die sich ganz und gar um den
Gegensatz Stadt - Land herum entwickelt hat, hat eine Erfolgsstufe erreicht,
die die beiden Seiten gleichzeitig vernichtet. Die heutige Lähmung
der gesamten geschichtlichen Entwicklung zugunsten der alleinigen Fortsetzung
der selbständigen Bewegung der Wirtschaft macht den Moment, in dem die
Stadt und das Land zu verschwinden beginnen, nicht zur Aufhebung ihrer
Entzweiung, sondern zu ihrem gleichzeitigen Zusammenbruch. Die gegenseitige
Abnutzung der Stadt und des Landes, das Produkt des Versagens der geschichtlichen
Bewegung, durch die die bestehende städtische Wirklichkeit überwunden
werden sollte, erscheint in der eklektischen Mischung ihrer zerlegten Bestandteile,
die die in der Industrialisierung fortgeschrittensten Zonen überdeckt.
- Die Weltgeschichte ist in den Städten entstanden, und
sie ist in dem Moment des entscheidenden Sieges der Stadt über das Land
mündig geworden. Marx sieht es als eines der größten revolutionären
Verdienste der Bourgeoisie an, daß "sie das Land der Herrschaft der
Stadt unterworfen hat", deren Luft freimacht. Aber wenn die Geschichte
der Stadt die Geschichte der Freiheit ist, so war sie auch die Geschichte
der Tyrannei, der staatlichen Verwaltung, die das Land und die Stadt selbst
kontrolliert. Die Stadt konnte bisher nur der Kampfplatz der geschichtlichen
Freiheit sein und nicht deren Besitz. Die Stadt ist das Milieu der Geschichte,
weil sie zugleich Konzentration der gesellschaftlichen Macht, die das geschichtliche
Unternehmen möglich macht, und Bewußtsein der Vergangenheit ist.
Die gegenwärtige Tendenz zur Liquidierung der Stadt äußert
daher nur auf eine andere Weise die Verzögerung bei der Unterordnung
der Wirtschaft unter das geschichtliche Bewußtsein und bei einer Vereinigung
der Gesellschaft, die die Mächte wieder ergreift, die sich von ihr abgehoben
haben.
- "Das Land bringt gerade die entgegengesetzte Tatsache, die
Isolierung und Vereinzelung, zur Anschauung" (Die deutsche Ideologie).
Der Urbanismus, der die Städte zerstört, baut ein neues Pseudo-Land
auf, in dem die natürlichen Verhältnisse des alten Landes genauso
wie die direkten und direkt in Frage gestellten gesellschaftlichen Verhältnisse
der geschichtlichen Stadt verloren sind. Eine neue künstliche Bauernschaft
wird durch die Bedingungen der Siedlung und der spektakulären Kontrolle
in dem heutigen "geordneten Raum" geschaffen: die Verstreuung im Raum und
die bornierte Mentalität, die stets die Bauernschaft daran gehindert
haben, eine unabhängige Aktion zu unternehmen und sich als schöpferische
geschichtliche Macht zu behaupten, bilden wieder die Merkmale der Produzenten -
und die Bewegung einer Welt, die sie selbst erzeugen, bleibt ihnen genauso
unerreichbar, wie es der natürliche Rhythmus der Arbeiten für die
Agrargesellschaft war. Aber wenn diese Bauernschaft, die die unerschütterliche
Basis des "orientalischen Despotismus" war und deren Zersplitterung selbst
nach der bürokratischen Zentralisierung rief, als Produkt der Wachstumsbedingungen
der modernen staatlichen Bürokratisierung wieder auftaucht, muß
ihre Apathie diesmal geschichtlich erzeugt und erhalten worden
sein; die natürliche Unwissenheit hat dem organisierten Spektakel des
Irrtums Platz gemacht. Die "neuen Städte" der technologischen Pseudobauernschaft
prägen in das Terrain deutlich den Bruch mit der geschichtlichen Zeit
ein, auf die sie aufgebaut sind; ihr Motto kann lauten: "Hier selbst wird
nie etwas geschehen und hier ist nie etwas geschehen". Weil die Geschichte,
die es in den Städten zu befreien gilt, in ihnen noch nicht befreit worden
ist, gerade darum beginnen die Kräfte der geschichtlichen Abwesenheit,
ihre eigene exklusive Landschaft zusammenzustellen.
- Die Geschichte, die diese dämmernde Welt bedroht, ist
auch die Kraft, die der erlebten Zeit den Raum unterwerfen kann. Die proletarische
Revolution ist diese Kritik der menschlichen Geographie, durch die
die Individuen und die Gemeinschaften die Landschaften und die Ereignisse
konstruieren müssen, die der Aneignung nicht mehr nur ihrer Arbeit, sondern
ihrer gesamten Geschichte entsprechen. In diesem bewegten Raum des Spiels
und der freigewählten Variationen der Spielregeln kann die Autonomie
des Ortes wiedergefunden werden, ohne eine neue ausschließende Bindung
an den Boden einzuführen, und dadurch die Wirklichkeit der Reise und
des als Reise verstandenen Lebens zurückbringen, einer Reise, die in
sich selbst all ihren Sinn hat.
- Die größte revolutionäre Idee über
den Urbanismus ist selbst weder urbanistisch noch technologisch oder ästhetisch.
Es ist die Entscheidung, den Raum nach den Bedürfnissen der Macht der
Arbeiterräte, der anti-staatlichen Diktatur des Proletariats,
des vollstreckbaren Dialogs vollständig wiederaufzubauen. Und die Macht
der Räte, die nur wirklich sein kann, wenn sie die Totalität der
bestehenden Bedingungen verändert, wird sich, wenn sie anerkannt werden
will und sich selbst in ihrer Welt erkennen will, keine geringere
Aufgabe stellen können.
8. Kapitel
DIE NEGATION UND DER KONSUM IN DER KULTUR
"Wir werden eine politische Revolution erleben? Wir,
die Zeitgenossen dieser Deutschen? Mein Freund, Sie glauben, was Sie wünschen&
Wenn ich Deutschland nach seiner bisherigen und nach seiner gegenwärtigen
Geschichte beurteile, so werden Sie mir nicht einwerfen, seine ganze Geschichte
sei verfälscht, und seine ganze jetzige Öffentlichkeit stelle nicht
den eigentlichen Zustand des Volkes dar. Lesen Sie die Zeitungen, welche Sie
wollen, überzeugen Sie sich, daß man nicht aufhört - und
Sie werden zugeben, daß die Zensur niemand hindert aufzuhören -,
die Freiheit und das Nationalglück zu loben, welches wir besitzen&"
Ruge (Brief an Marx, März 1843 ).
- Die Kultur ist, in der in Klassen geteilten
geschichtlichen Gesellschaft, die allgemeine Sphäre der Erkenntnis und
der Vorstellungen des Erlebten; d.h. sie ist jenes Vermögen der Verallgemeinerung,
das getrennt besteht, als Teilung der intellektuellen Arbeit und als
intellektuelle Arbeit der Teilung. Die Kultur hat sich von der Einheit der
Gesellschaft des Mythos abgehoben, "wenn die Macht der Vereinigung aus dem
Leben der Menschen verschwindet und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung
und Wechselwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinnen&"
(Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems). Indem sie ihre
Unabhängigkeit gewinnt, fängt die Kultur eine imperialistische Bewegung
der Bereicherung an, die gleichzeitig der Niedergang ihrer Unabhängigkeit
ist. Die Geschichte, die die relative Autonomie der Kultur und die ideologischen
Illusionen über diese Autonomie schafft, drückt sich auch als Kulturgeschichte
aus. Und die gesamte Eroberungsgeschichte der Kultur läßt sich
als die Geschichte der Offenbarung ihrer Unzulänglichkeit, als ein Fortgang
zu ihrer Selbstauflösung begreifen. Die Kultur ist der Ort der Suche
nach der verlorenen Einheit. Bei dieser Suche nach der Einheit ist die Kultur
als getrennte Sphäre gezwungen, sich selbst zu verneinen.
- Der Kampf zwischen Tradition und Neuerung, der das innere
Entwicklungsprinzip der Kultur der geschichtlichen Gesellschaften ist, kann
nur durch den ständigen Sieg der Neuerung fortgeführt werden. Die
Neuerung in der Kultur wird indessen von nichts anderem getragen, als von
der totalen geschichtlichen Bewegung, die, indem sie sich ihrer Totalität
bewußt wird, nach der Aufhebung ihrer eigenen kulturellen Voraussetzungen
strebt und auf die Abschaffung jeder Trennung hingeht.
- Der Aufschwung der Erkenntnisse der Gesellschaft, der das
Begreifen der Geschichte als das Herz der Kultur beinhaltet, gelangt zu einer
unwiderruflichen Selbsterkenntnis, die durch die Zerstörung Gottes ausgedrückt
wird. Aber diese "Voraussetzung aller Kritik" ist zugleich auch die erste
Verpflichtung zu einer endlosen Kritik. Wo keine Verhaltensregel mehr fortbestehen
kann, wird die Kultur durch jedes ihrer Resultate ihrer Auflösung
näher gebracht. Wie die Philosophie im Augenblick, in dem sie ihre volle
Autonomie erlangt hat, muß jede autonom gewordene Disziplin zusammenbrechen,
und zwar zunächst als Anspruch kohärenter Erklärung der gesellschaftlichen
Totalität und schließlich sogar als innerhalb ihrer eigenen Grenzen
brauchbare parzellierte Instrumentierung. Der Mangel an Rationalität
der getrennten Kultur ist das Element, das sie zu verschwinden verdammt,
denn in ihr ist der Sieg des Rationellen bereits als Forderung vorhanden.
- Die Kultur ist aus der Geschichte entstanden, die die Lebensart
der alten Welt aufgelöst hat, aber als getrennte Sphäre ist sie
noch nichts weiter, als das Verständnis und die sinnliche Kommunikation,
die in einer teilweise geschichtlichen Gesellschaft partiell bleibt.
Sie ist der Sinn einer allzuwenig sinnigen Welt.
- Das Ende der Kulturgeschichte äußert sich auf
zwei entgegengesetzten Seiten: im Projekt ihrer Aufhebung in der totalen Geschichte
und in der Veranstaltung ihrer Aufrechterhaltung als toter Gegenstand in der
spektakulären Kontemplation. Die eine dieser Bewegungen hat ihr Schicksal
mit der gesellschaftlichen Kritik, und die andere das ihre mit der Verteidigung
der Klassenherrschaft verknüpft.
- Jede der beiden Seiten des Endes der Kultur existiert einheitlich
sowohl in allen Aspekten der Erkenntnisse als in allen Aspekten der sinnlichen
Vorstellungen - existiert also in dem, was die Kunst im allgemeinsten
Sinne war. Im ersten Fall stehen einander die Akkumulation fragmentarischer
Kenntnisse, die darum unbrauchbar werden, weil die Billigung der bestehenden
Bedingungen auf ihre eigenen Kenntnisse schließlich verzichten muß,
und die Theorie der Praxis gegenüber, die die einzige Inhaberin der Wahrheit
aller Kenntnisse ist, indem sie als einzige über das Geheimnis ihres
Gebrauchs verfügt. Im zweiten Fall stehen einander die kritische Selbstzerstörung
der alten gemeinsamen Sprache der Gesellschaft und ihre künstliche
Wiederzusammensetzung im Warenspektakel, die illusorische Vorstellung des
Nichterlebten gegenüber.
- Die Gesellschaft muß, wenn sie die Gemeinschaft der
Gesellschaft des Mythos verliert, alle Bezugspunkte einer wirklich gemeinsamen
Sprache verlieren, bis zu dem Moment, da die Entzweiung der untätigen
Gemeinschaft durch das Gelangen zur wirklichen geschichtlichen Gemeinschaft
überwunden werden kann. Sobald sich die Kunst, die diese gemeinsame Sprache
der gesellschaftlichen Untätigkeit war, zur unabhängigen Kunst im
modernen Sinn herausbildet, wenn sie aus ihrem ursprünglichen religiösen
Universum hervortaucht und zur individuellen Produktion getrennter Werke wird,
erfährt sie als besonderer Fall die Bewegung, die die Geschichte der
gesamten getrennten Kultur beherrscht. Ihre unabhängige Behauptung ist
der Anfang ihrer Auflösung.
- Daß die Sprache der Kommunikation verloren wurde,
dies wird positiv durch die moderne Auflösungsbewegung aller Kunst,
durch ihre formale Vernichtung ausgedrückt. Was diese Bewegung negativ
ausdrückt, ist die Tatsache, daß eine gemeinsame Sprache wiedergefunden
werden muß - nicht mehr in der einseitigen Schlußfolgerung,
die für die Kunst der geschichtlichen Gesellschaft immer zu spät
kam, und anderen von dem sprach, was ohne wirklichen Dialog erlebt
wurde, und diese Mangelhaftigkeit des Lebens zuließ -, aber auch
daß diese Sprache in der Praxis wiedergefunden werden muß, die
die direkte Tätigkeit und deren Sprache in sich vereint. Es geht darum,
die Gemeinsamkeit des Dialogs und das Spiel mit der Zeit, die von dem poetisch-künstlerischen
Werk vorgestellt wurden, tatsächlich zu besitzen.
- Wenn die unabhängig gewordene Kunst ihre Welt in leuchtenden
Farben malt, ist ein Moment des Lebens alt geworden, und mit leuchtenden Farben
läßt er sich nicht verjüngen, sondern nur in der Erinnerung
wachrufen. Die Größe der Kunst beginnt erst mit der einbrechenden
Dämmerung des Lebens zu erscheinen.
- Die geschichtliche Zeit, die auf die Kunst übergreift,
hat sich vom Barock an zunächst in der Sphäre der Kunst selbst
ausgedrückt. Das Barock ist die Kunst einer Welt, die ihr Zentrum verloren
hat: die vom Mittelalter anerkannte letzte mythische Ordnung im Kosmos und
in der irdischen Regierung - die Einheit des Christentums und das Gespenst
eines Kaiserreichs - ist zusammengebrochen. Die Kunst der Veränderung
muß in sich das ephemere Prinzip tragen, das sie in der Welt vorfindet.
Sie hat, so sagt Eugenio d'Ors, "das Leben gegen die Ewigkeit" gewählt.
Das Theater und das Fest, das theatralische Fest, sind die herrschenden Momente
der barocken Gestaltung, in der jeder besondere künstlerische Ausdruck
seinen Sinn erst durch seine Verweisung auf das Bühnenbild eines konstruierten
Ortes erhält, auf eine Konstruktion, die ihr eigenes Vereinigungszentrum
sein muß: und dieses Zentrum ist das Vergehen, das als bedrohtes
Gleichgewicht in die dynamische Unordnung von allem eingeschrieben ist. Die
manchmal übertriebene Wichtigkeit, die der Begriff des Barocks in der
zeitgenössischen ästhetischen Diskussion erhalten hat, äußert
das Bewußtwerden der Unmöglichkeit eines künstlerischen Klassizismus:
die Anstrengungen, die zugunsten eines normativen Klassizismus oder Neoklassizismus
seit drei Jahrhunderten unternommen wurden, führten lediglich zu kurzen,
künstlichen Konstruktionen, die die äußere Sprache des Staates
sprachen, die Sprache der absoluten Monarchie oder der revolutionären
Bourgeoisie im römischen Gewand. Von der Romantik bis zum Kubismus folgte
dem allgemeinen Verlauf des Barocks schließlich eine immer stärker
individualisierte Kunst der Negation, die sich fortwährend erneuerte,
bis zur vollständigen Zerstückelung und Negation der künstlerischen
Sphäre. Das Verschwinden der geschichtlichen Kunst, die mit der internen
Kommunikation einer Elite verknüpft war, die ihre halbunabhängige
gesellschaftliche Basis in den teilweise ludistischen Bedingungen hatte, die
die letzten Aristokratien noch erlebten, äußert auch die Tatsache,
daß der Kapitalismus die erste Klassenherrschaft erfährt, die ihren
Mangel an jeder ontologischen Qualität bekennt; und deren Macht, die
in der bloßen Wirtschaftsverwaltung wurzelt, ebenso der Verlust jeder
menschlichen Meisterschaft ist. Das Barock als Ganzes, das für
die künstlerische Schöpfung eine seit langem verlorene Einheit
ist, findet sich gewissermaßen im jetzigen Konsum der gesamten
künstlerischen Vergangenheit wieder. Die geschichtliche Kenntnis und
Anerkennung der ganzen Kunst der Vergangenheit, die zurückblickend zur
Weltkunst erhoben wird, relativieren sie zu einer globalen Unordnung, die
ihrerseits auf einer höheren Stufe einen barocken Bau bildet, in dem
die Produktion einer barocken Kunst selbst und all ihre Wiedererscheinungen
verschmelzen müssen. Zum ersten Mal können die Künste aller
Zivilisationen und aller Epochen allesamt gekannt und zugelassen werden. Diese
"Er-lnnerung" der Geschichte der Kunst ist, indem sie möglich wird, auch
das Ende der Welt der Kunst. In dieser Epoche der Museen, wenn es keine
künstlerische Kommunikation mehr geben kann, können alle alten Momente
der Kunst gleichermaßen zugelassen werden, denn kein Moment der Kunst
leidet mehr, bei dem gegenwärtigen Verlust der Kommunikationsbedingungen
überhaupt, unter dem Verlust seiner besonderen Kommunikationsbedingungen.
- In der Epoche ihrer Auflösung ist die Kunst als negative
Bewegung, die die Aufhebung der Kunst in einer geschichtlichen Gesellschaft
verfolgt, in der die Geschichte noch nicht erlebt wird, eine Kunst der Veränderung
und zugleich der reine Ausdruck der unmöglichen Veränderung. Je
grandioser ihre Forderung ist, um so mehr liegt ihre wahre Verwirklichung
jenseits ihrer. Diese Kunst ist gezwungenermaßen Avantgarde und
diese Kunst existiert nicht. Ihre Avantgarde ist ihr Verschwinden.
- Der Dadaismus und der Surrealismus sind die beiden Strömungen,
die das Ende der modernen Kunst kennzeichneten. Sie sind, wenn auch nur auf
eine relativ bewußte Weise, Zeitgenossen des letzten großen Sturmangriffs
der revolutionären proletarischen Bewegung; und das Scheitern dieser
Bewegung, das sie gerade im künstlerischen Feld, dessen Hinfälligkeit
sie proklamiert hatten, eingeschlossen hielt, ist der Hauptgrund für
ihre Immobilisierung. Der Dadaismus und der Surrealismus sind zugleich geschichtlich
miteinander verknüpft und stehen im Gegensatz zueinander. In diesem Gegensatz,
der für jede der beiden Strömungen auch den konsequentesten und
radikalsten Teil ihres Beitrags bildet, erscheint die innere Unzulänglichkeit
ihrer Kritik, die von der einen wie von der anderen nur einseitig entwickelt
wurde. Der Dadaismus wollte die Kunst aufheben, ohne sie zu verwirklichen;
und der Surrealismus wollte die Kunst verwirklichen, ohne sie aufzuheben.
Die seitdem von den Situationisten erarbeitete kritische Position hat gezeigt,
daß die Aufhebung und die Verwirklichung der Kunst die unzertrennlichen
Aspekte ein und derselben Überwindung der Kunst sind.
- Der spektakuläre Konsum, der die alte Kultur, die angepaßte
Wiederholung ihrer negativen Äußerung mit inbegriffen, gefroren
konserviert, wird offen in seinem kulturellen Bereich zu dem, was er implizit
in seiner Gesamtheit ist: die Kommunikation des Unmitteilbaren. Die
höchste Zerstörung der Sprache kann hier flach als ein offizieller
positiver Wert anerkannt werden, denn es geht nur darum, eine Versöhnung
mit dem herrschenden Zustand der Dinge zur Schau zu tragen, bei dem jede Kommunikation
freudig als abwesend proklamiert wird. Die kritische Wahrheit dieser Zerstörung,
als wirkliches Leben der modernen Kunst und Dichtung ist natürlich versteckt,
denn das Spektakel, dessen Funktion darin besteht, in der Kultur die Geschichte
in Vergessenheit zu bringen, wendet in der Pseudoneuheit seiner modernistischen
Mittel gerade die Strategie an, die es im Grunde ausmacht. So kann sich eine
Schule der Neo-Literatur als neu ausgeben, die einfach zugibt, daß sie
das Geschriebene um seiner selbst willen betrachtet. Sonst versucht die modernste -und
mit der repressiven Praxis der allgemeinen Organisation der Gesellschaft am
engsten verbundene - Tendenz der spektakulären Kultur, neben der
bloßen Proklamation der hinreichenden Schönheit der Auflösung
des Kommunizierbaren, durch "Gesamtkunstwerke" aus den aufgelösten Elementen
ein komplexes neokünstlerisches Milieu wiederzusammenzusetzen; besonders
gilt das für die Bemühungen der Integrierung der künstlerischen
Trümmer und der technisch-ästhetischen Zwitter im Urbanismus. Dies
ist, auf die Ebene der spektakulären Pseudokultur, die Übertragung
jenes allgemeinen Projekts des entwickelten Kapitalismus, den Teilarbeiter
als "fest in die Gruppe integrierte Persönlichkeit" wieder zu ergreifen,
eine Tendenz, die von den jüngeren amerikanischen Soziologen beschrieben
wurde (Riesman, Whyte usw.). Es ist überall dasselbe Projekt einer Neustrukturierung
ohne Gemeinschaftlichkeit.
- Die Kultur, die ganz und gar zur Ware geworden ist, muß
auch zur Star-Ware der spektakulären Gesellschaft werden. Clark Kerr,
einer der fortgeschrittensten Ideologen dieser Tendenz, hat errechnet, daß
der komplexe Produktions-, Distributions- und Konsumprozeß der Kenntnisse
schon 29 % des amerikanischen Nationalprodukts jährlich mit
Beschlag belegt; und er sieht voraus, daß die Kultur in der zweiten
Hälfte dieses Jahrhunderts die treibende Rolle in der Wirtschaftsentwicklung
spielen wird, die in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts vom Kraftwagen
und in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts von der Eisenbahn
gespielt wurde.
- Die Gesamtheit der Kenntnisse, die sich zur Zeit als Denken
des Spektakels fortentwickelte, muß eine Gesellschaft rechtfertigen,
die keine Rechtfertigungen hat, und sich zu einer allgemeinen Wissenschaft
des falschen Bewußtseins herausbilden. Sie ist ganz durch die Tatsache
bedingt, daß sie ihre eigene materielle Grundlage im spektakulären
System weder denken kann noch will.
- Das Denken der gesellschaftlichen Organisation des Scheins
wird seinerseits durch die verallgemeinerte Hilfs-Kommunikation, die
es verteidigt, verdunkelt. Es weiß nicht, daß der Konflikt der
Vater aller Dinge seiner Welt ist. Die Spezialisten der Macht des Spektakels,
einer Macht, die im Inneren seines Systems einer Sprache ohne Antwort absolut
ist, sind durch ihre Erfahrung der Verachtung und des Gelingens der Verachtung
absolut korrumpiert; denn sie finden ihre Verachtung durch die Kenntnis des
verachtungswerten Menschen bestätigt, der der Zuschauer wirklich
ist.
- In dem spezialisierten Denken des spektakulären Systems
findet eine neue Teilung der Aufgaben je nachdem statt, wie die Vervollkommnung
dieses Systems selbst neue Probleme stellt: auf der einen Seite unternimmt
die moderne Soziologie, die die Trennung allein mit Hilfe der begrifflichen
und materiellen Instrumente der Trennung studiert, die spektakuläre
Kritik des Spektakels; auf der anderen Seite bildet sich in den verschiedenen
Disziplinen, in denen sich der Strukturalismus einwurzelt, die Apologie
des Spektakels zum Denken des Nichtdenkens, zum berechtigten Vergessen
der geschichtlichen Praxis heraus. Dennoch sind die falsche Verzweiflung
der undialektischen Kritik und der falsche Optimismus der reinen Werbung des
Systems als unterwürfiges Denken identisch.
- Die Soziologie, die zunächst in den Vereinigten Staaten
damit begonnen hat, die mit der jetzigen Entwicklung geschaffenen Existenzbedingungen
zur Diskussion zu stellen, hat zwar zahlreiche empirische Gegebenheiten anführen
können, erkennt jedoch in keiner Weise die Wahrheit ihres eigenen Gegenstandes,
weil sie nicht in ihm selbst die Kritik findet, die ihm immanent ist. Infolgedessen
stützt sich die aufrichtig reformistische Tendenz dieser Soziologie lediglich
auf die Moral, den gesunden Menschenverstand, auf höchst unpassende Appelle
an die Mäßigung usw. Weil eine derartige Kritik das Negative, das
im Zentrum ihrer Welt steht, nicht erkennt, beschreibt sie lediglich mit Nachdruck
eine Art negativen Überschusses, der ihr beklagenswerterweise die Oberfläche
dieser Welt zu überfüllen scheint, wie eine irrationelle parasitäre
Wucherung. Dieser entrüstete gute Wille, der es selbst als solcher nicht
weiter bringt als die äußere Form des Systems zu tadeln, hält
sich für kritisch und vergißt dabei den wesentlich apologetischen
Charakter seiner Voraussetzungen und seiner Methode.
- Diejenigen, die die Aufforderung zur Verschwendung in der
Gesellschaft des wirtschaftlichen Überflusses als absurd oder gefährlich
denunzieren, wissen nicht, wozu die Verschwendung dient. Sie verurteilen mit
Undankbarkeit, im Namen der wirtschaftlichen Rationalität die treuen
irrationellen Wächter, ohne welche die Gewalt dieser wirtschaftlichen
Rationalität zusammenbrechen würde. Boorstin z.B., der in "Image"
den Warenkonsum des amerikanischen Spektakels beschreibt, erreicht niemals
den Begriff des Spektakels, weil er glaubt, das Privatleben oder die Idee
der "ehrlichen Ware" aus dieser unheilvollen Übertreibung ausklammern
zu können. Er versteht nicht, daß die Ware selbst die Gesetze gemacht
hat, deren "ehrliche" Anwendung ebenso zur besonderen Realität des Privatlebens
führt wie zu ihrer späteren Rückeroberung durch den gesellschaftlichen
Konsum von Bildern.
- Boorstin beschreibt die Übertreibungen einer Welt,
die uns fremd geworden ist, als Übertreibungen, die unserer Welt fremd
sind. Aber die "normale" Grundlage des gesellschaftlichen Lebens, auf die
er sich implizite bezieht, wenn er die oberflächliche Herrschaft der
Bilder, in der Sprache des psychologischen und moralischen Urteils, als das
Produkt "unserer extravaganten Ansprüche" bezeichnet, besitzt weder in
seinem Buch noch in seiner Epoche irgendeine Realität. Gerade weil für
Boorstin das wirkliche menschliche Leben, von dem er spricht, in der Vergangenheit
liegt, mit Einschluß der Vergangenheit der religiösen Ergebung,
kann er nicht die ganze Tiefe einer Gesellschaft des Bildes begreifen. Die
Wahrheit dieser Gesellschaft ist nichts anderes als die Negation
dieser Gesellschaft.
- Die Soziologie, die glaubt, eine getrennt funktionierende
industrielle Rationalität von der Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens
absondern zu können, kann bis dahin gehen, daß sie von der globalen
industriellen Bewegung die Techniken der Reproduktion und der Übertragung
absondert. So findet Boorstin den Grund der Ergebnisse, die er ausmalt, in
dem unglücklichen, gleichsam zufälligen Zusammentreffen eines zu
großen technischen Apparates zur Verbreitung der Bilder mit einer zu
großen Anziehungskraft, die die Pseudo-Sensation auf die Menschen unserer
Epoche ausübt. So läge der Grund für das Spektakel in der Tatsache,
daß der moderne Mensch zu sehr Zuschauer sei. Boorstin begreift nicht,
daß das Wuchern von vorgefertigten "Pseudoereignissen", das er denunziert,
aus der einfachen Tatsache hervorgeht, daß die Menschen in der massiven
Realität des jetzigen gesellschaftlichen Lebens selbst keine Ereignisse
erleben. Gerade weil die Geschichte selbst in der modernen Gesellschaft wie
ein Gespenst umgeht, findet man Pseudogeschichte, die auf allen Ebenen des
Konsums des Lebens gebaut wird, um das bedrohte Gleichgewicht der heutigen
eingefrorenen Zeit zu erhalten.
- Die Behauptung der endgültigen Stabilität einer
kurzen Frostperiode der geschichtlichen Zeit ist die unleugbare, bewußtlos
und bewußt proklamierte Grundlage der heutigen Tendenz einer strukturalistischen
Systematisierung. Der Standpunkt, den das antigeschichtliche Denken des
Strukturalismus einnimmt, ist der der ewigen Gegenwart eines Systems, das
nie geschaffen wurde und nie enden wird. Der Traum der Diktatur einer unbewußten
vorgegebenen Struktur über jede gesellschaftliche Praxis konnte mißbräuchlich
aus den Strukturmodellen gezogen werden, welche die Linguistik und die Ethnologie
ausgearbeitet hatten (ja sogar die Funktionsanalyse des Kapitalismus), Modelle,
die bereits unter diesen Umständen mißverstanden wurden,
einfach deshalb, weil ein akademisches Denken schnell befriedigter mittlerer
Angestellter, das vollständig in dem bewundernden Lob des bestehenden
Systems versunken ist, jede Realität einfach auf die Existenz des Systems
zurückführt.
- Zum Verständnis der "strukturalistischen" Kategorien,
wie überhaupt bei jeder historischen sozialen Wissenschaft, ist immer
festzuhalten, daß die Kategorien Daseinsformen, Existenzbedingungen
ausdrücken. Sowenig man den Wert eines Individuums nach dem beurteilt,
was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man diese bestimmte Gesellschaft
bewerten - und bewundern -, indem man die Sprache, in der sie zu
sich selbst spricht, als unbestreitbar wahr annimmt. "Ebensowenig kann man
eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern
muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen
Lebens & erklären &" Die Struktur ist das Kind der
gegenwärtigen Macht. Der Strukturalismus ist das vom Staat garantierte
Denken, das die gegenwärtigen Bedingungen der spektakulären
"Mitteilung" als ein Absolutes denkt. Seine Art, den Code der Botschaften
an sich selbst zu studieren, ist lediglich das Produkt und die Anerkennung
einer Gesellschaft, in der die Mitteilung in der Form einer Kaskade hierarchischer
Signale besteht. Es ist demnach nicht der Strukturalismus, der zum Beweis
der übergeschichtlichen Gültigkeit der Gesellschaft des Spektakels
dient; es ist im Gegenteil die Gesellschaft des Spektakels, die sich als massive
Realität durchsetzt und zum Beweis des kalten Traums des Strukturalismus
dient.
- Ohne Zweifel kann der kritische Begriff des Spektakels
auch in irgendeiner soziologisch-politischen rhetorischen Hohlformel verbreitet
werden, um abstrakt alles zu erklären und zu denunzieren, und so der
Verteidigung des spektakulären Systems dienen. Denn es ist evident, daß
keine Idee über das bestehende Spektakel, sondern lediglich über
die bestehenden Ideen vom Spektakel hinausführen kann. Zur wirklichen
Zerstörung der Gesellschaft des Spektakels bedarf es der Menschen, welche
eine praktische Gewalt aufbieten. Die kritische Theorie des Spektakels ist
nur wahr, indem sie sich mit der praktischen Strömung zur Negation in
der Gesellschaft vereinigt, und diese Negation, die Wiederaufnahme des revolutionären
Klassenkampfes, wird sich ihrer selbst bewußt werden, indem sie die
Kritik des Spektakels entwickelt, die die Theorie ihrer wirklichen Bedingungen,
der praktischen Bedingungen der gegenwärtigen Unterdrückung ist,
und die umgekehrt das Geheimnis dessen enthüllt, was sie zu sein vermag.
Diese Theorie erwartet keine Wunder von der Arbeiterklasse. Sie betrachtet
die neue Formulierung und Verwirklichung der proletarischen Forderungen als
eine langwierige Aufgabe. Um zwischen theoretischem und praktischem Kampf
künstlich zu unterscheiden - denn auf der hier definierten Grundlage
läßt sich die Herausbildung und die Mitteilung einer derartigen
Theorie schon nicht ohne eine strenge Praxis begreifen -, es steht
fest, daß der dunkle und schwierige Marsch der kritischen Theorie auch
zum Schicksal der auf Gesellschaftsebene handelnden praktischen Bewegung werden
muß.
- Die kritische Theorie muß sich in ihrer eigenen
Sprache mitteilen. Diese Sprache ist die Sprache des Widerspruchs,
die in ihrer Form dialektisch sein muß, wie sie es in ihrem Inhalt ist.
Sie ist Kritik der Totalität und geschichtliche Kritik. Sie ist kein
"Nullpunkt des Schreibens", sondern seine Umkehrung. Sie ist keine Negation
des Stils, sondern der Stil der Negation.
- In ihrem Stil selbst ist die Darlegung der dialektischen
Theorie nach den Regeln der herrschenden Sprache und für den von ihnen
anerzogenen Geschmack ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in der positiven
Verwendung der bestehenden Begriffe zugleich auch das Verständnis ihrer
wiedergefundenen fließenden Bewegung, ihren notwendigen Untergang
einschließt.
- Dieser Stil, der seine eigene Kritik enthält, muß
die Herrschaft der gegenwärtigen Kritik über ihre ganze Vergangenheit
ausdrücken. Durch ihn bezeugt die Darlegungsweise der dialektischen
Theorie den negativen Geist, der in ihr steckt. Die Wahrheit ist nicht "so,
wie das Werkzeug von dem dortigen Gefäße wegbleibt &"
(Hegel.) Dieses theoretische Bewußtsein der Bewegung, in dem die Spur
der Bewegung selbst gegenwärtig sein muß, äußert sich
durch die Umkehrung der etablierten Beziehungen zwischen den Begriffen
und durch die Entwendung aller Errungenschaften der früheren Kritik.
Die Umkehrung des Genitivs ist dieser in der Form des Denkens aufbewahrte
Ausdruck der geschichtlichen Revolutionen, der als der epigrammatische Stil
Hegels betrachtet wurde. Als der junge Marx, dem systematischen Gebrauch Feuerbachs
entsprechend, den Ersatz des Subjekts durch das Prädikat empfahl, gelangte
er zu der konsequentesten Anwendung dieses aufrührerischen Stils,
der aus der Philosophie des Elends das Elend der Philosophie hervorzieht.
Die Entwendung führt die vergangenen kritischen Folgerungen, die zu ehrenwerten
Wahrheiten erstarrt sind, d.h. in Lügen verwandelt wurden, wieder der
Subversion zu. Die Entwendung wurde bereits von Kierkegaard bewußt gebraucht
und dabei von ihm selbst denunziert: "Wie du dich aber auch drehen und wenden
magst: wie der Saft immer in der Speisekammer endet, so kommst du immer dahin,
ein kleines Wort einzumischen, das nicht dein Eigentum ist und das durch die
Erinnerung stört, die es erweckt." (Philosophische Brocken.) Es
ist die Verpflichtung zur Entfernung von dem, was zur offiziellen Wahrheit
verfälscht wurde, die diese Anwendung der Entwendung bestimmt, zu der
sich Kierkegaard in dem gleichen Buch auf folgende Weise bekennt: "Nur eine
Bemerkung will ich noch machen in Bezug auf deine vielen Anspielungen, die
alle darauf abzielten, daß ich entlehnte Äußerungen in das
Gesagte mischte. Ich leugne nicht, daß dies der Fall ist, und will jetzt
auch nicht verheimlichen, daß es mit Absicht geschah und daß ich
im nächsten Abschnitt dieses Stückes, falls ich je einen solchen
schreibe, im Sinn habe, die Sache bei ihrem richtigen Namen zu nennen und
dem Problem ein historisches Kostüm anzuziehen."
- Die Ideen verbessern sich. Die Bedeutung der Worte trägt
dazu bei. Das Plagiat ist notwendig. Der Fortschritt impliziert es. Es hält
sich dicht an den Satz eines Verfassers, bedient sich seiner Ausdrücke,
beseitigt eine falsche Idee, ersetzt sie durch die richtige.
- Die Entwendung ist das Gegenteil des Zitats, der theoretischen
Autorität, die stets bereits deswegen verfälscht ist, weil sie Zitat
geworden ist; weil sie zu einem aus seinem Zusammenhang, aus seiner Bewegung
und schließlich aus seiner Epoche als globalem Bezugsrahmen und aus
der bestimmten Option, die es innerhalb dieses Bezugsrahmens war - sei
diese richtig oder irrig erkannt - gerissenen Fragment geworden ist.
Die Entwendung ist die flüssige Sprache der Antiideologie. Sie erscheint
in der Kommunikation, die weiß, daß sie nicht beanspruchen kann,
irgendeine Garantie in sich selbst und endgültig zu besitzen. Sie ist,
im höchsten Grad, die Sprache, die kein früherer und überkritischer
Bezugspunkt bestätigen kann. Ihre eigene Kohärenz, in ihr selbst
und mit den praktikablen Tatsachen, kann im Gegenteil den früheren Wahrheitskern,
den sie wiederbringt, bestätigen. Die Entwendung hat ihre Sache auf nichts
gestellt, was außerhalb ihrer eigenen Wahrheit als gegenwärtiger
Kritik liegt.
- Was sich in der theoretischen Formulierung offen als entwendet
darstellt, indem es jede dauerhafte Autonomie der Sphäre des ausgedrückten
Theoretischen widerlegt, dadurch daß es in sie durch diese Gewaltsamkeit
die Tat eintreten läßt, die jede bestehende Ordnung stört
und beseitigt, weist darauf hin, daß dieses Bestehen des Theoretischen
in sich selbst nichts ist, daß es sich erst mit der geschichtlichen
Handlung kennen muß und mit der geschichtlichen Korrektur, welche
seine echte Treue ist.
- Allein die wirkliche Negation der Kultur bewahrt deren Sinn.
Sie kann nicht mehr kulturell sein. So ist sie das, was irgendwie auf
der Ebene der Kultur bleibt, dies aber in einem ganz anderen Sinn.
- In der Sprache des Widerspruchs stellt sich die Kritik der
Kultur als vereinheitlicht dar: insofern sie das Ganze der Kultur - ihre
Erkenntnis wie ihre Poesie - beherrscht, und insofern sie sich nicht
mehr von der Kritik der gesellschaftlichen Totalität trennt. Diese vereinheitlichte
theoretische Kritik geht allein der vereinheitlichten gesellschaftlichen Praxis
entgegen.
9. Kapitel
DIE MATERIALISIERTE IDEOLOGIE
"Das Selbstbewußtsein ist an und für sich, indem
und dadurch, daß es für ein anderes an und für sich ist; d.h.
es ist nur als ein Anerkanntes."
Hegel (Phänomenologie des Geistes).
- Die Ideologie ist im konfliktorischen Verlauf
der Geschichte die Grundlage des Denkens einer Klassengesellschaft.
Die ideologischen Fakten waren niemals nur bloße Hirngespinste, sondern
das entstellte Bewußtsein der Realitäten und als solche wirkliche
Faktoren, die ihrerseits eine wirklich entstellende Wirkung ausübten;
um so mehr verschmilzt die mit dem konkreten Gelingen der autonom gewordenen
Wirtschaftsproduktion eintretende Materialisierung der Ideologie in
der Form des Spektakels praktisch die gesellschaftliche Realität und
eine Ideologie, die das ganze Wirkliche nach ihrem Modell zuschneiden konnte.
- Wenn sich die Ideologie, die der abstrakte Wille
zum Allgemeinen und seine Illusion ist, durch die allgemeine Abstraktion und
die tatsächliche Diktatur der Illusion in der modernen Gesellschaft legitimiert
findet, ist sie nicht mehr der voluntaristische Kampf des Parzellierten, sondern
sein Triumph. Von da an nimmt der ideologische Anspruch eine Art seichte positivistische
Genauigkeit an: er ist nicht mehr eine geschichtliche Wahl, sondern eine Evidenz.
In dieser Behauptung haben sich die besonderen Namen der Ideologien
verflüchtigt. Selbst der Teil der im eigentlichen Sinn ideologischen
Arbeit im Dienst des Systems faßt sich nur noch als Anerkennung eines
"epistemologischen Sockels" auf, der jenseits jedes ideologischen Phänomens
stehen will. Die materialisierte Ideologie selbst ist namenlos, so wie ohne
nennbares geschichtliches Programm. Das heißt mit anderen Worten, daß
die Geschichte der Ideologien zu Ende ist.
- Die Ideologie, deren ganze innere Logik sie zur "totalen
Ideologie" im Sinne Mannheims hinführte, der Despotismus des Fragments,
das sich als Pseudowissen eines erstarrten Ganzen durchsetzt, als totalitäre
Vision, ist jetzt im immobilisierten Spektakel der Nichtgeschichte vollendet.
Ihre Vollendung ist auch ihre Auflösung in der Gesamtheit der Gesellschaft.
Mit der praktischen Auflösung dieser Gesellschaft muß auch
die Ideologie verschwinden, die letzte Unvernunft, die den Zugang zum
geschichtlichen Leben blockiert.
- Das Spektakel ist die Ideologie schlechthin, weil es das
Wesen jedes ideologischen Systems in seiner Fülle darstellt und äußert:
die Verarmung, die Unterjochung und die Negation des wirklichen Lebens. Das
Spektakel ist materiell "der Ausdruck der Trennung und der Entfremdung zwischen
Mensch und Mensch". Die neue Potenz des wechselseitigen Betrugs", die
sich in ihm konzentriert hat, hat ihre Grundlage in dieser Produktion, durch
die "mit der Masse der Gegenstände das Reich der fremden Wesen wächst,
denen der Mensch unterjocht ist". Das ist das höchste Stadium einer Expansion,
die das Bedürfnis gegen das Leben umgedreht hat. "Das Bedürfnis
des Geldes ist daher das wahre, von der Nationalökonomie produzierte
Bedürfnis und das einzige Bedürfnis, das sie produziert". (Ökonomisch-philosophische
Manuskripte.) Das Spektakel weitet das Prinzip, das Hegel in der Jenaer
Realphilosophie als dasjenige des Geldes auffaßt, auf das gesamte
gesellschaftliche Leben aus, es ist "das sich in sich bewegende Leben des
Toten".
- Im Gegensatz zu dem in den Thesen über Feuerbach
zusammengefaßten Projekt, die Verwirklichung der Philosophie in
der Praxis, die die Entgegensetzung zwischen Idealismus und Materialismus
aufhebt, erhält das Spektakel die ideologischen Charaktere des Materialismus
und des Idealismus und setzt sie in dem Pseudokonkreten seines Universums
durch. Die kontemplative Seite des alten Materialismus, der die Welt als Vorstellung
und nicht als Tätigkeit auffaßt -und der letzten Endes die
Materie idealisiert -, ist im Spektakel vollendet, wo konkrete Dinge
automatisch Herren über das gesellschaftliche Leben sind. Umgekehrt vollendet
sich auch die geträumte Tätigkeit des Idealismus im Spektakel
durch die technische Vermittlung von Zeichen und Signalen - die letzten
Endes ein abstraktes Ideal materialisieren.
- Der von Gabel (Ideologie und Schizophrenie) aufgestellte
Parallelismus von Ideologie und Schizophrenie muß in den Zusammenhang
dieses wirtschaftlichen Prozesses der Materialisierung der Ideologie gestellt
werden. Was die Ideologie bereits war, ist die Gesellschaft geworden. Die
Ausschaltung der Praxis, und das falsche antidialektische Bewußtsein,
das sie begleitet, das ist es, was in jeder Stunde des dem Spektakel unterworfenen,
täglichen Lebens durchgesetzt wird; was als eine systematische Organisation
des "Versagens der Begegnungsfunktion" und als deren Ersatz durch ein halluzinatorisches
gesellschaftliches Faktum zu begreifen ist: das falsche Bewußtsein
der Begegnung, die "Illusion der Begegnung". In einer Gesellschaft, in der
niemand mehr von den anderen anerkannt werden kann, wird jedes Individuum
unfähig, seine eigene Realität anzuerkennen. Die Ideologie ist zu
Hause; die Trennung hat ihre Welt gebaut.
- "In den klinischen Bildern der Schizophrenie", sagt Gabel,
"gehen Verfall der Dialektik der Ganzheit (mit der Auflösung als äußerster
Form) und Verfall des Werdens (mit der Katatonie als äußerster
Form) sehr gut zusammen." Das zuschauende Bewußtsein, als Gefangener
eines verflachten Universums, das durch den Bildschirm des Spektakels
beschränkt ist, hinter den sein eigenes Leben verschleppt worden ist,
kennt nur noch die Scheingesprächspartner, die es einseitig mit
ihrer Ware und der Politik ihrer Ware unterhalten. Das Spektakel in seiner
ganzen Ausdehnung ist sein eigenes "Spiegelzeichen". Hier wird der Scheinabgang
eines verallgemeinerten Autismus inszeniert.
- Das Spektakel, das die Verwischung der Grenzen von Ich und
Welt durch die Erdrückung des Ichs ist, das von der gleichzeitigen An-
und Abwesenheit der Welt belagert wird, ist ebenso die Verwischung der Grenzen
zwischen dem Wahren und dem Falschen durch die Verdrängung jeder erlebten
Wahrheit unter der von der Organisation des Scheins sichergestellten wirklichen
Anwesenheit der Falschheit. Wer passiv sein täglich fremdes Schicksal
erleidet, wird daher zu einem Wahnsinn getrieben, der illusorisch auf dieses
Schicksal reagiert, indem er sich mit magischen Techniken behilft. Die Anerkennung
und der Konsum der Waren stehen im Zentrum dieser Pseudoantwort auf eine Mitteilung
ohne Antwort. Das Bedürfnis nach Nachahmung, das der Konsument empfindet,
ist genau das infantile Bedürfnis, das durch alle Aspekte seiner wesentlichen
Enteignung bedingt wird. Nach den Worten, die Gabel auf einer ganz anderen
pathologischen Ebene anwendet, "kompensiert hier das anormale Bedürfnis,
sich zur Schau zu stellen, ein quälendes Gefühl, am Rande des Lebens
zu stehen".
- Wenn die Logik des falschen Bewußtseins sich nicht
selbst wahrheitsgemäß erkennen kann, so muß die Suche nach
der kritischen Wahrheit über das Spektakel auch eine wahre Kritik sein.
Sie muß praktisch unter den unversöhnlichen Feinden des Spektakels
kämpfen und zugeben, dort abwesend zu sein, wo sie abwesend ist. Der
abstrakte Wille zur unmittelbaren Wirksamkeit erkennt die Gesetze des herrschenden
Denkens, den ausschließlichen Gesichtspunkt der Aktualität an,
wenn er sich den Kompromittierungen des Reformismus oder der gemeinsamen Aktion
pseudorevolutionärer Trümmerhaufen ergibt. Dadurch hat sich der
Wahn in derselben Position wiederhergestellt, die ihn zu bekämpfen beansprucht.
Die über das Spektakel hinausgehende Kritik muß viel mehr zu
warten wissen.
- Sich von den materiellen Grundlagen der verkehrten Wahrheit
zu emanzipieren, darin besteht die Selbstemanzipation unserer Epoche. Diese
"geschichtliche Aufgabe, & die Wahrheit des Diesseits zu etablieren"
kann weder das isolierte Individuum noch die den Manipulationen unterworfene,
atomisierte Menge vollbringen, sondern immer noch die Klasse, die fähig
ist, die Auflösung aller Klassen zu sein, indem sie die Macht auf die
entfremdungsauflösende Form der verwirklichten Demokratie zurückführt,
auf den Rat, in dem die praktische Theorie sich selbst kontrolliert und ihre
Aktion sieht. Nur dort, wo die Individuen "unmittelbar mit der Weltgeschichte
verknüpft sind"; nur dort, wo sich der Dialog bewaffnet hat, um seinen
eigenen Bedingungen zum Sieg zu verhelfen.
[Twokmi-Kimali.de]